Konstruktivismus

"Glaube nicht alles, was du denkst!"

Das Karussell unserer Gedanken

Ich habe sicher schon mehrfach über die Macht unserer Gedanken geschrieben. Diese ungreifbaren Realitätskonstruktionen, die wie Geister durch unser Bewusstsein schweben, sind tatsächlich machtvoll. Manchmal sind sie jedoch auch kleine Plagegeister, die uns das Leben ganz schön schwer machen. -Besonders wenn wir auch noch glauben, was wir den lieben langen Tag so denken. Dann fängt sich das Karussell manchmal ganz schön schnell an zu drehen und es scheint ausgesprochen schwer, die Notbremse zu finden. Eine Dame, die Menschen auf geradezu verblüffende Weise hilft, die Notbremse zu ziehen, ist die US-Amerikanerin Byron Katie, die ihr Format schlicht und ergreifend “The Work” nennt. Ihr Kerngedanke ist, einfach nicht alles zu glauben, was man denkt.

Ich selbst durfte Byron Katie und “The Work” erst vor einigen Wochen im Rahmen eines Supervisionswochenendes kennenlernen und ich war mehr als beeindruckt. Seitdem lässt mich “The Work” nicht mehr los und ist somit geradezu prädestiniert dafür, es in diesem Rahmen mit Euch zu teilen.

Denn ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt!?

Wer meinen Blog kennt, weiß dass ich ein großer Fan von Pippi Langstrumpf bin, erklärt sie doch auf erfrischend einfach Weise Watzlawicks Idee vom Radikalen Konstruktivismus: Wir machen uns die Welt, ganz so wie wir uns entscheiden, unsere Welt zu wollen! Es gibt jedoch einen kleinen aber nicht unbedeutenden Unterschied zwischen Pippi Langstrumpf und Paul Watzlawick, den ich in der Vergangenheit nie richtig beleuchtet habe. Denn Pippi ist eine fröhliche Optimistin und mit dieser Geisteshaltung offensichtlich in der Welt recht einsam. Dank ihrer uneingeschränkt positiven Grundhaltung macht Pippi sich ihre Welt tatsächlich so wie sie ihr auch wirklich gefällt, positiv und bunt! Unsereins hingegen macht sich die Welt ziemlich häufig so, wie sie uns eben nicht gefällt und katapultieren uns auf diese Weise in dieses immer schneller werdende Karussell aus fiesen und wenig hilfreichen Gedanken. Paul Watzlawick hat dieses Phänomen in seiner Geschichte vom Mann mit dem Hammer ganz wunderbar zusammengefasst, die ich Euch an dieser Stelle gerne erneut mitbringen möchte:


Wie nun aussteigen aus dem Gedankenkarussell

Natürlich kennen wir ähnliche Geschichten, wie die vom Mann mit dem Hammer aus dem eigenen Erleben nicht! Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass wir doch einmal hineingeraten, in diese Achterbahn aus Emotion und Wirklichkeitskonstruktion, kann es hilfreich sein, das ein oder andere Tool zur Verfügung zu haben, mit dem wir unser Karussell anhalten und unsere Wirklichkeitskonstruktion neu bewerten können.

Ich nehme Euch mal kurz mit in mein Karussell:

  • Patricia ist wirklich nervig und komplett beratungsresistent!

  • Patricia sollte ihr eigenes Handeln wirklich einmal selbst kritisch hinterfragen!

  • Ich brauche von Patricia, dass sie mir endlich mal zuhört und sich das Gesagte dann auch zu Herzen nimmt.

  • Patricia ist ganz schön überheblich, arrogant, beratungsresistent und überfordert!

Denn alles kann sein, auch das Gegenteil!

Patricia also! Nervensäge! Aber sind diese Gedanken, die gerade in meinem Kopf rumschwirren auch tatsächlich wahr? Ich meine, kann ich mit absoluter Sicherheit sagen, dass Patricia wirklich überheblich, arrogant, beratungsresistent und überfordert ist? - Natürlich kann ich das! Doofe Fragerei! Patricia mach mich mit ihrer Arroganz ganz verrückt!

Wer bin ich, wenn ich diesen Gedanken wirklich glaube? - Der Mann mit dem Hammer! - Gestresst, engstirnig und gefühlt im Kampf mit meiner Umwelt! Zeit sich zu fragen, wer ich ohne diese Gedanken in Hinblick auf Patricia wäre. Mmmmmm…. Ich glaube ich wäre entspannter! Vielleicht sollte ich einfach nicht alles glauben, was ich denke und mal schauen, ob denn auch das Gegenteil wahr sein könnte. So überlege ich mir drei konkrete Situationen, in denen Patricia NICHT überheblich und arrogant war, drei konkrete Situationen, in denen Patricia nicht beratungsresistent war, sondern vielleicht sogar eine Beratung dankbar angenommen hat. Und ist Patricia wirklich immer überfordert? Oder fallen mir vielleicht drei Situationen eine, in denen sie genau das eben nicht war, in denen sie alles im Griff hatte?

Die Situation, selbst die, in der ich mich wirklich über Patricia geärgert habe, stellt sich direkt etwas anders dar und gefühlt dreht sich das Karussell bereits etwas langsamer.

Der letzte Schritt, den “The Work” von Byron Katie vorschlägt, könnte etwas schmerzhaft werden, gleichzeitig aber auch heilsam. Ich überlege mir also, ob mir drei konkrete Situationen einfallen, in denen ich selbst überheblich und arrogant war und drei weitere, in denen ich selbst beratungsresistent war. Schließlich überlege ich mir drei Situationen, in denen ich selbst überfordert war.

Vielleicht ist es sogar hilfreich, sich das alles kurz zu notieren, schwarz auf weiß vor sich zu sehen, wie die Grenzen langsam anfangen zu verschwimmen und vielleicht sehe ich dann Patricia mit anderen Augen und kann ihr mit einer anderen Haltung begegnen. Vor allem aber hilft es mir dabei, mir selbst mit anderen Augen und einer anderen Haltung zu begegnen, meine eigene Wirklichkeit weniger kategorisch zu konstruieren, mich weniger über Dinge zu ärgern, die vielleicht nur meine eigene Gedankenkonstruktion sind. Und vielleicht entscheide ich für mich tatsächlich etwas mehr wie Pippi zu sein und mir die Welt eben so zu machen, wie sie mir wirklich gefällt, wenn ich mir meine Wirklichkeit schon selbst gestalte und alles sein kann, auch das Gegenteil!

Ich weiß, dass ist eine Form der Gedankenreise, die vielleicht zunächst etwas befremdlich wirken kann. Aber mal ehrlich, mit welchen Gedanken machst Du Dir denn Dein Leben hin und wieder nicht gerade leichter und fröhlicher? Vom Liebeskummer geplagt, sitzt da die junge Frau, die fest davon überzeugt ist, dass der Typ, der sie belogen und betrogen hat und jetzt weg ist, der Mann ihres Lebens war und kein Besserer mehr nachkommt - Ist das wirklich wahr? Im Ernst? Kein Besserer? Der Beste ist also ein Idiot, der lügt und betrügt? Komische Welt!

Du hältst Dich hier und da und dort nicht für gut genug? - Ist das wirklich wahr? Könnte nicht auch das Gegenteil wahr sein und Du bist nicht nur gut genug, sondern auch großartig? Wer bist Du, wenn Du diesen Gedanken wirklich glaubst? Wer wärst Du, wenn Du den Gedanken, nicht gut genug zu sein, nicht hättest?

“Ich kann das nicht!” - Ist das absolut wahr? Kann ich mit absoluter Sicherheit sagen, dass dieser Gedanke wahr ist? Wer bin ich, wenn ich diesen Gedanken glaube? Und wer könnte ich ohne diesen Gedanken sein?

Zum Abschluss gibt es noch ein Pippi Langstrumpf Zitat, um Euch eine Idee davon zu geben, wie jemand sprich, der diesen Gedanken einfach nicht glaubt, sondern der das Gegenteil glaubt:

“Das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe!”

Heute ist Sonntag und vielleicht habt Ihr ja ein wenig Zeit, einmal zu beobachten, was Ihr denkt und für wahr haltet. Und vielleicht habt Ihr ja Lust, Euch einmal zu fragen, ob nicht auch das Gegenteil wahr sein könnte!

Die Realität ist freundlich, werte Leserschaft! - Wenigstens meine Realität!

Eure Constance


“Glaube nicht alles, was Du denkst!”

Raus aus dem Gedankenkarussell und rein in eine freundliche Welt

Wie Watzlawicks Konstruktivismus in der Luftfahrt Leben rettet und jeden einzelnen von uns vor Fehlern bewahren kann

Pippi und Paul in Teneriffa

Um zu verstehen warum das Wissen um Watzlawicks Konstruktivismus in der Luftfahrt Leben retten kann, müssen wir uns zunächst einmal anschauen, warum Flugzeuge überhaupt abstürzen. Achtung, es folgen ein paar Zahlen und ein kurzer Ausflug in die Unfallforschung!

Zahlen, Daten, Fakten

In seinen im August 2014 veröffentlichten statistischen Zusammenfassungen zum Thema Flugsicherheit stellt der US-Flugzeughersteller Boeing unter anderem dar, dass die Anzahl der Totalverluste (also Flugzeugabstürze) in der zivilen Luftfahrt von fast 40 pro 1 Millionen Flüge pro Jahr im Jahr 1959 auf statistisch fast null pro 1 Millionen Flüge pro Jahr im Jahr 2013 gesunken ist. Die zivile Luftfahrt ist in den letzten 50 Jahren also deutlich sicherer geworden. Der britische Psychologe James Reason, der als einer der Vordenker im Bereich der Flugsicherheit gilt, hat sich in einem Interview mit dem Fernsehsender 3Sat sogar zu der Aussage hinreißen lassen, dass ein schweres Flugzeugunglück nur sehr schwer herbeizuführen sei. Falls doch, erfordere dies eine fatale Kombination oder Verkettung mehrerer sehr unterschiedlicher Faktoren, Defekte, Fehler oder Nachlässigkeiten.

Ein bisschen was aus der Unfallforschung

Reasons Idee folgend gibt es in komplexen Hochrisikobereichen wie der Luftfahrt immer gleichzeitig mehrere sehr unterschiedliche Schutz- und Sicherungsmaßnahmen. Jede diese Maßnahmen stellt Reason in seinem Schweizer-Käse-Model als Käsescheibe dar. Fehler und Schwachstellen erachtet Reason als systemimmanent, weshalb jede dieser Käsescheiben Löcher hat. Schweizer Käse eben, kein englischer Cheddar! Im unwahrscheinlichen Fall eines Unfalls liegen diese Löcher in den unterschiedlichen Käsescheiben auf einer Linie. So entsteht eine Flugbahn durch alle Käsescheiben hindurch, auf der alle Sicherheitsbarrieren überwunden werden können.

Im Einzelnen stehen Reasons Käsescheiben für so unterschiedliche Faktoren wie Wettereinflüsse, Anflugrouten, Flugzeugtechnik, Flugsicherung, Navigationssysteme, menschliches Können oder menschliche Fehler und so weiter.

Swiss_Cheese_Model.JPG

The Swiss Cheese Model

James Reason

Anfang der 2000er Jahre hat die Deutsche Lufthansa im Rahmen einer zweijährigen Studie alle diese Faktoren in vier unterschiedliche Gruppen eingeteilt:

  1. Operationelle Faktoren, das heißt zum Beispiel Wetter, Wind, durch Topografie erschwerte Anflugbedingungen, etc. Alles Faktoren, die nicht beeinflussbar sind und worauf Piloten im Rahmen von Trainings entsprechend vorbereitet werden müssen.

  2. Der Faktor Mensch oder Human (die Luftfahrt liebt ihre Anglizismen!) ist in der nächsten Käsescheibe zusammengefasst. Dieser Faktor Mensch hat es echt in sich. Deshalb bin ich ja auch Human Factors Trainer geworden. Hier geht es um die menschliche Fehleranfälligkeit, getriggert durch Wahrnehmungsfehler oder Fallen (ich erinnere hier gerne an meinen letzten Blog), durch Stress, Übermüdung, etc.

  3. Auch die dritten Kategorie befasst sich wieder mit Menschen, allerdings hier mit der menschlichen oder sozialen Interaktion innerhalb des Teams oder der Besatzung. Hierbei geht es um Kommunikation, Führung, Konfliktmangement, Arbeitsteilung und das Verständnis darüber, dass jedes einzelne Teammitglied eine wichtige Ressource darstellt.

  4. Der vierte Bereich setzt sich mit der Technik auseinander, nicht nur der des Flugzeugs selbst, sondern auch der Technik am Boden, die der Flugsicherheit dienen soll.

Der Mensch als Schlüssel zum (Miss-) Erfolg

Besonders interessant für mich ist hierbei, dass zwei von vier Kategorien sich mit dem Menschen befassen. Der Mensch scheint im Bereich der Flugsicherheit also eine ganz besondere Rolle zu spielen. Das Bewusstsein darüber ist jedoch tatsächlich eher neuerer Natur. Wir gehen mal zurück in die Anfänge der eben zitierten Boeing Studie. Im Jahr 1959 endeten von einer Millionen Flüge also 40 in einer Katastrophe. Fliegen war damals augenscheinlich verdammt gefährlich. Die Gründe für alle diese sogenannten Totalverluste waren tatsächlich vor allem technischer Natur. Aus diesem Grund war es auch das oberste Ziel all jener, die sich das Thema Luftsicherheit auf die Fahnen geschrieben haben, die Flugzeuge zu verbessern, die Technik verlässlicher zu machen und so Unfälle zu verhindern. Absolut nachvollziehbar und das hat so auch sehr gut funktioniert.

So wurde Flugzeuge immer besser und imposanter. Man war auf einem guten Weg. 1969 hatte Boeings erster Doppeldecker, die B747 oder einfach der Jumbo, seinen Jungfernflug und Fliegen wurde immer mehr zu einem Massenphänomen. Allerdings ereignet sich am 27. März 1977 auf der Ferieninsel Teneriffa ein Unglück, dass die Luftfahrtindustrie dazu zwang, ihre Bemühungen um höchste Sicherheit neu zu überdenken.

Warum Flugzeuge abstürzen - ein Fallbeispiel

Die traurigen Ereignisse dieses Tages begannen mit einer Bombenexplosion auf dem Flughafen Gran Canaria, welcher infolge erstmal geschlossen wurde. Sehr viele Flugzeuge, die eigentlich dort hätten landen sollen, wurden auf den Flughafen von Teneriffa umgeleitet. Dies führte natürlich zu einer ziemlich trubeligen Situation in Teneriffa. Der Tower musste Tetris spielen, um alle Flugzeuge entsprechend zu sortieren und zu parken. Selbst Rollwege wurden als Parkplätze genutzt.

Unter den Flugzeugen, die auf ihren Weiterflug nach Gran Canaria warteten, waren auch ein Jumbo der US-amerikanischen Pan Am (die Älteren werden sich erinnern!) und einer der niederländischen KLM. Als der Flughafen von Gran Canaria wieder öffnete, erhielten beide Flugzeuge fast zeitgleich das OK loszurollen, um sich auf den Weg Richtung Nachbarinsel zu machen. Die KLM war als erstes an der Startbahn. Im Cockpit saß der Chefpilot und das Aushängeschild der Airline, Kapitän van Zanten, gemeinsam mit einem Ersten Offizier und einem Flugingenieur. Kapitän van Zanten hatte es eilig. Er wollte so schnell wie möglich nach Gran Canaria und zurück nachhause, nach Amsterdam. So stand die KLM Maschine startbereit an der Bahn. Inzwischen war starker Nebel aufgezogen. Deshalb konnte man die Pan Am Maschine, die gerade ein Stück über die Startbahn rollte, da der Rollweg mit geparkten Flugzeugen blockiert war, nicht sehen. Allerdings hörte zumindest der Flugingenieur Absprachen zwischen der Pan Am und dem Tower, in welchen Pan Am mitteilte, dass sie sich noch auf der Startbahn befinde. Zeitgleich erbat Kapitän van Zanten Startfreigabe, die der Tower ihm nicht erteilte. Die Pan Am befand sich ja noch auf der Bahn. Allerdings erteilte der Tower Kapitän van Zanten schon mal die Streckenfreigabe für seine geplante Route nach Gran Canaria. Ab hier überschlugen sich die Ereignisse wie im Zeitraffer. Es ist davon auszugehen, dass Kapitän van Zanten es inzwischen so eilig hatte, dass er die Streckenfreigabe als Startfreigabe missverstehen wollte. Der Flugingenieur fragt nur kurz, ob denn nicht die Pan Am noch auf der Bahn sei. Diese Frage hat Kapitän van Zanten ignoriert und Gas gegeben. Als die beiden Maschinen aufgrund des Nebels endlich Sichtkontakt hatten, versuchte Kapitän van Zanten noch den Flieger hoch zu ziehen. Der Kapitän der Pan Am versuchte sein Flugzeug noch neben die Bahn zu lenken. Zu spät! Es kam zur Katastrophe, bei der 583 Menschen ihr Leben verloren. Bis heute das größte Unglück der zivilen Luftfahrt ohne terroristische Beteiligung.

So viele Tote! Da wünschen nicht nur Angehörige eine angemessene Aufklärung. Die Unfallermittlung war dieses Mal aber irgendwie anders. Es gab kein technisches Problem. Und so stellte man recht schnell fest, dass es hier zu einem heftigen menschlichen Versagen gekommen ist. Zum Glück gab man sich aber nicht einfach damit zufrieden, den toten Kapitän van Zanten alle Schuld zu geben, weil er einen Fehler gemacht hatte. Man schaute sich ganz genau an warum er diesen Fehler gemacht hatte.

Pippi und Paul

Ab hier wird es dann richtig spannend, weil das führt uns zu Pippi und Paul und dem Konstruktivismus. Denn Kapitän van Zanten hatte den Ruf ein guter und kompetenter Pilot zu sein. Er wusste was er tat und hätte niemals absichtlich so viele Menschenleben, inklusive seines eigenen, riskiert. Er war der festen Überzeugung, richtig zu handeln. Das Pippi-Prinzip! Frei nach Pippi Langstrumpf machte er sich seine Welt, wie sie ihm gefällt. An diesem Tag hat es ihm dann eben gut gefallen, dass er eine zügige Startfreigabe bekommen hat, damit die Verspätung nicht ins Unermessliche anwächst. Weil Kapitän van Zanten das Recht hatte, sich seine Welt passend zu machen, hatte dies auch der Flugingenieur. Gleiches Recht für alle. Auch er durfte Pippi sein. Und in der Welt, die ihm gefallen hat, war es vielleicht deutlich wahrscheinlicher, dass der spanische Tower und die Piloten der Pan Am Blödsinn erzählen, als dass der am höchsten dekorierte Pilot seiner Airline einen Fehler macht.

Ein Jahr vorher, 1976, veröffentlichte Paul Watzlawick sein “Wie wirklich ist die Wirklichkeit” und es dämmerte auch den Unfallermittlern, dass Kapitän van Zanten zwar einen fatalen Fehler gemacht hat, allerdings nur, weil er so war wie Menschen eben sind. Das war die Geburtsstunde des Human Factors Training in der Luftfahrt. Die Bedeutung von Watzlawicks Konstruktivismus für die Flugsicherheit spielt bis heute eine wichtige Rolle. Hierbei geht es nicht darum, darzustellen, dass die menschliche Wahrnehmung mangelhaft ist. Der Mensch ist gut so wie er ist. Es geht darum, die unterschiedlichen Wahrnehmungen unterschiedlicher Menschen zu nutzen, um erfolgreicher zu sein. Es geht darum zu erkennen, was für eine großartige Ressource ein Team sein kann, wenn man nur den Mut hat, das auch so zu nutzen. Ich komme immer nur auf meine fünf Prozent (bewusst verarbeiteter Reize), interpretiert durch meine Persönlichkeit. Da sollte ich doch dankbar für jedes Teammitglied sein, dass die Dinge ganz anders sieht als ich. Denn so kommen wir vielleicht auf zehn oder zwanzig Prozent!

Für Führungskräfte

An dieser Stelle muss sich ein kleiner Exkurs für all jene unter euch in Führungsverantwortung anschließen. Vor einigen Jahre durfte ich im Rahmen einer Flugsicherheitskonferenz einen ehemaligen Techniker der KLM kennen lernen. Er kannte auch Kapitän van Zanten und sagte, er wäre ein beeindruckender Mann und ein guter Pilot gewesen, aber widersprochen hätte man ihm besser nicht… Mag sein, dass der Flugingenieur sich auch einfach nicht getraut hat, seinen Kapitän zu hinterfragen. Diese Art der Hierarchie und Unnahbarkeit leistete wahrscheinlich noch einen zusätzliche Beitrag zum Lauf der Dinge am 27. März 1977. Liebe Führungskräfte, seid ihr so aufgestellt, dass eure Leute euch im Zweifelsfall vor einem großen Fehler bewahren würden? Wie geht ihr mit Menschen um, die anderer Meinung sind? Pain in the ass? Seid ihr tolerant? Oder seid ihr wirklich schon so weit, andere Meinungen konsequent zum Wohl eures Unternehmens nutzen?

Für uns alle

Und ihr anderen? Wie geht ihr mit Kollegen um, die die Dinge anders sehen, als ihr? Die Erkenntnisse dieser Katastrophe helfen nicht nur der Luftfahrt. Denn Mensch ist Mensch, egal ob man ihn in eine Pilotenuniform, in einen Krankenschwesterkittel, in den schicken Anzug eines Investmentbankers oder in die Arbeitskleidung eine Koches steckt. Das einzige was uns unterscheidet, ist unsere jeweilige Definition von Erfolg. Lasst uns doch einfach alle so erfolgreich wie möglich sein. Das dann am besten mit dem Wissen darüber, dass wir alle löchrige Käsescheiben sind (und das ist OK so), wir aber darauf vertrauen dürfen, dass unsere Mitmenschen ihre Löcher wahrscheinlich an einer anderen Stelle haben. Nur gemeinsam sind wir dann doch eher Cheddar als Emmentaler!

Eure Constance

(Dieses “bleibt gesund” wollte ich mir eigentlich sparen, weil Corona langsam nervt, aber irgendwie gehört es dieser Tage wohl aus tiefstem Herzen und nicht als übliche Floskel dazu. Also: Bleibt gesund!)

Was Pippi Langstrumpf und Paul Watzlawick gemeinsam haben: Ein Ausflug in die Wirklichkeit

“… ich mach mir die Welt, widdewidde, wie sie mir gefällt…” (Pippi Langstrumpf)

Pippi Langstrumpf, ich glaube so ziemlich jedes Mädchen wollte irgendwann mal so sein wie sie. Ich auch, damals mit zehn. Pippi war stark, sehr stark, unabhängig, ein bisschen verrückt und sie konnte machen was sie wollte. Ach, und sie hatte ein eigenes Pferd! Aber vor allem hat Pippi ihre Welt so gesehen, wie es ihr gefallen hat. Großartig! Das wollte ich auch.

Mit den Jahren geriet Pippi dann bei mir immer mehr in Vergessenheit. Backpacking wurde spannender als Pferde. Das bunte verrückte Leben hat mich irgendwie mitgerissen, wie ein wilder, schneller Fluss. Und plötzlich, in all dem Getöse war sie wieder da: Pippi Langstrumpf, irgendwie reinkarniert in der Gestalt des österreichischen Psychotherapeuten Paul Watzlawick. Verdammt, die beiden wären super miteinander ausgekommen. Denn während Pippi propagiert hätte, dass sie sich die Welt mache, wie sie ihr eben gefiele, hätte Paul ihr erzählt, dass das völlig OK so sei, weil das nämlich alle Menschen so machten.

Paul Watzlawick und der Radikale Konstruktivismus

Als Vertreter des sogenannten Radikalen Konstruktivismus ist Paul Watzlawick zu der Erkenntnis gelangt, dass unsere Wahrnehmung absolut subjektiv ist und eben kein Abbild einer objektiven (das heißt bewusstseinsunabhängigen) Realität ist, sondern Realität für jeden einzelnen vielmehr eine Konstruktion aus Sinnesreizen, Erfahrungen, Wissen, Werten und Prägung ist. Für Paul Watzlawick ist jede Wahrnehmung und jede Idee von Realität absolut subjektiv. -Alles gut, das hier musste ich auch zweimal lesen, nachdem ich es geschrieben hatte!

Als kleine Einstimmung ins Thema folgt für all jede unter euch, die diese Geschichte nicht kennen, die Geschichte mit dem Hammer aus Paul Watzlawicks Werk “Wenn du mich wirklich liebtest, würdest du gerne Knoblauch essen”, eingelesen von mir selbst! Keine Sorge, ist nur etwas über eine Minute lang.

Verrück, der Typ, oder? Tja, und der große Paul Watzlawick behauptet dass wir alle so sind! Noch verrückter, oder? Wir kreieren unsere Realität, im Positiven wie im Negativen.

Der Prozess der Wahrnehmung

Schauen wir uns im ersten Schritt mal an, was Paul Watzlawick mit den Sinnesreizen meint. Ihm geht es hier um den physiologischen Prozess der Wahrnehmung. Die Basis für das, was wir Wahrnehmung nennen, sind unsere Sinne: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Spüren und der Gleichgewichtssinn. Sechs Sinne, die uns Orientierung geben. Den berühmten siebten Sinn möchte ich an dieser Stelle mal außer Acht lassen, verspreche aber im Laufe der nächsten Wochen hoch wissenschaftlich genau darauf nochmal zu sprechen zu kommen. Da steckt nämlich tatsächlich viel mehr als Esoterik dahinter. Aber ich möchte nicht zu viel spoilern!

Also zurück zu unseren sechs Sinnen, die permanent damit beschäftigt sind die Umwelt abzuscannen und die entsprechend wahrgenommenen Reize an das Gehirn weiterzugeben. Genau hier fängt es auch schon an kompliziert zu werden. Würde unser Gehirn die gesamte wahrgenommene Information verarbeiten, wären wir schlicht und ergreifend komplett überfordert. Unser äußerst fürsorgliches Gehirn filtert also per se etwa 95 Prozent der Information heraus. Sie bleibt irgendwo im Unterbewussten, was auch immer das ist. Also das, was wir als Realität bezeichnen, ist auf Grund neurologischer Funktionen ein fünfprozentiger Ausschnitt unserer Welt. So gesehen grenzt es eigentlich an ein Wunder, dass wir nicht permanent gegen eine Wand laufen, sonder stattdessen sogar mit Flugzeugen um die Welt fliegen, oder auf dem Mond spazieren gehen.

Richtig spannend wird es nämlich, wenn wir uns mal die Frage stellen, welche fünf Prozent all dieser Information das Gehirn verarbeitet und uns als Realität bewusst macht. In Anbetracht all dessen, was der Mensch so leistet, muss das Gehirn dabei offensichtlich einen sehr erfolgreichen Masterplan haben. Dieser Masterplan basiert als aller erstes auf Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens schon gemacht haben, hinzu kommen Werte, persönliche Glaubenssätze, gesammeltes Wissen und individuelle Präferenzen, nach denen unser Gehirn unsere Wirklichkeit für uns zusammenstellt. Hierbei lässt das Gehirn nicht nur Information weg, sondern fügt nach gut dünken auch das ein oder andere hinzu, damit das Bild für uns passt. Nettes Gehirn, oder?

Da es keine zwei Menschen auf der Welt gibt, die exakt die gleichen Erfahrungen, Werte, Präferenzen, etc. haben, muss uns spätestens jetzt klar sein, dass es überall und permanent Menschen gibt, die komplett anderer Meinung sind als wir. Das kann so weit gehen, dass wir deren Standpunkt beim besten Willen nicht verstehen können und trotzdem haben diese Menschen genau so recht, wie wir. Und genau deshalb kämpfen diese Menschen genau so sehr für deren Version der Realität wie wir es für unsere tun. In Paul Watzlawicks Radikalen Konstruktivismus liegt also die Wurzel jeder Meinungsverschiedenheit.

Die Chancen des Pippi-Prinzips

Jetzt könnte man das alles hier aus einer negativen Perspektive heraus betrachten und nur das negativ behaftete Konfliktpotenzial sehen, oder man betrachtet das alles aus einer positiven Ecke und überlegt, welche Chancen diese dem Menschsein zu Grunde liegende Unterschiedlichkeit hat.

Das ist jetzt der Punkt, an dem ich nochmal auf meinen letzten Blog und die nicht enden wollenden Diskussionen um die Entscheidungen der Bundesregierung zum Umgang mit der Corona Krise zu sprechen kommen. Ich nehme sehr wohlwollend zur Kenntnis, dass die Entscheider nicht nur ihre eigenen “fünf Prozent” in die Entscheidungsfindung miteinbeziehen. Außerdem nehme ich wohlwollend zur Kenntnis, dass man Fachleute und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen als Berater mit einbezieht. OK, ich muss es kurz einfließen lassen: Dabei finde ich es nur schwer zu ertragen, dass diese Machos der Leopoldina lediglich zwei Frauen in ihren erlauchten Kreisen zugelassen haben! Gibt ein paar Abzüge in der B-Note! Aber alles in allem scheint hier in Deutschland ein ganz guter Job gemacht zu werden, jedenfalls aus meinem professionellen Blickwinkel heraus.

Und trotzdem nehme ich an mir selbst wahr, dass mir nicht alles gefällt, was da entschieden wird. Manches kann ich sogar absolut nicht verstehen oder nachvollziehen. Deshalb ist es wichtig, dass darüber diskutiert wird. Ich finde es toll zu sehen, wenn eine Sabine Leutheuser-Schnarrenberger als Juristin und Mitglied das Bayrischen Verfassungsgerichtshofes sich sehr stark auf unsere verfassungsrechtlichen Freiheiten fokussiert, dass ihr gegenüber ein Herr Meyer-Herrmann als Immunologe darüber nur wenig nachdenkt, da er einen komplett naturwissenschaftlichen Blick auf die Situation hat. Ich finde es wichtig, dass es Menschen gibt, die wirtschaftliche Belange auf dem Schirm haben und auch diejenigen, die sich mit den psychologischen Folgen für die “eingesperrte” Gesellschaft auseinandersetzen und sich mit diesem Hintergrund in Diskussionen einmischen. Aber Fakt ist und bleibt, dass keiner von ihnen allein Recht hat, jeder hat nur fünf Prozent. Deshalb sind Kompromisse so wichtig.

Was mich bei alle dem aber echt ein wenig ärgert, ist die Gewissheit darüber, dass auch meine eigene Meinung nur einen kleinen Teil der Fakten berücksichtigt, ganz bunt gefärbt durch meine Werte und meinen Problemraum. Irgendwie fühle ich mich dabei so hilflos und machtlos. Aber trotzdem werde ich niemals damit aufhören, mir eine eigenen Meinung zu bilden, jedoch immer auch mit dem nötigen Respekt vor anderen Perspektiven. Denn je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher wird mir, dass mein zehnjähriges Ich total Recht damit hatte: Pippi Langstrumpf war ein großartiges Mädchen und jeder sollte ein bisschen so sein wie sie, so frei, so laut, so stark und so kreativ. Gleichzeitig meldet sich inzwischen aber auch mein erwachsenes Ich und mahnt mich zur Toleranz! Gleiches Recht für alle! Wenn ich sein darf wie Pippi, dann darf das jeder andere auch. Also auf gehts, nehmt wahr was das Zeug hält und konstruiert euch die beste Wirklichkeit, die ihr für euch konstruieren könnt. Seid dabei großzügig mit und offen für anderen Meinungen, getreu dem Motto “Meine Wahrnehmung, meine Wahrheit!”. In meinem nächsten Beitrag gehen wir dann an diesem Punkt noch etwas tiefer in die Materie, denn in den Wahrheiten anderer liegen auch Chancen. In der Luftfahrt können sie sogar Leben retten. Wir nehmen uns Pippi und Paul und setzen die beiden in ein Flugzeug, um uns mal anzuschauen, was Watzlawicks Konstruktivismus mit Flugsicherheit zu tun hat. Also wenn ihr schon immer mal wissen wolltet warum Flugzeuge manchmal abstürzen, dann solltet ihr das hier weiterverfolgen!

Bis dann und bleibt gesund!

Eure Constance

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Das Pippi-Prinzip oder frei nach Paul Watzlawick: Wir wirklich ist die Wirklichkeit?