Die Kunst, Menschen zu bewegen
Wir stellen uns vor, der große und unvergessene Martin Luther King hätte seine große Rede damals nicht mit „I have a dream!“, sondern mit den Worten „I have a project!“ zu ihrem mitreißenden Höhepunkt geführt …
Zu allen Zeiten und an allen Orten gab es Menschen, denen es besonders gut gelungen ist, Menschen in Bewegung zu bringen, sie mitzunehmen, ihnen Mut zu schenken. Was all diese Menschen gemeinsam hatten und haben, war und ist die Fähigkeit, viele unterschiedliche Menschen zu erreichen, integrativ zu kommunizieren – eine Fähigkeit, die heutzutage nicht nur Revolutionsführern, sondern auch Führungskräften gut zu Gesicht steht. In Zeiten stetigen Wandels geht es in der Führung zunehmend darum, Menschen in Bewegung zu setzen und sie mitzunehmen.
Martin Luther King hat vor allem mit Bildern gearbeitet, Bildern, die bei allen Zuhörenden Resonanz verursacht haben – egal, ob sie die roten Hügel Georgias, von denen er sprach, genau kannten, weil sie just diese sanften Hügel schon einmal mit eigenen Augen gesehen hatten, oder nicht. Kings Worte erzeugten innere Bilder, positiv belegte innere Bilder. Jeder konnte sich vorstellen, wie es aussieht, wenn die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter gemeinsam am Tisch der Brüderlichkeit sitzen. Ich sehe die Szene förmlich vor mir, während ich die Worte in meine Tastatur hacke.
Neben dem Erzeugen innerer Bilder gibt es noch weitere Möglichkeiten, Menschen kommunikativ „mitzunehmen“. Eine, die ich besonders gerne mag, möchte ich euch heute vorstellen.
Das Milton-Modell: Der Weg zu integrativen Kommunikationsmustern
Was kann ich tun, damit das, was ich zu sagen habe, maximal anschlussfähig für meine Zuhörerschaft ist? Hierzu gibt es tatsächlich ein Modell oder rhetorisches Mittel: das sogenannte Milton-Modell.
Benannt wurde das Modell nach dem 1980 verstorbenen Milton H. Erickson, der als einer der besten und effektivsten Psychotherapeuten seiner Zeit galt. Er war so erfolgreich, dass Forschende seinen Kommunikationsstil analysierten, um möglichst genau zu verstehen, was Ericksons Art zu kommunizieren auszeichnete. Eines der Erfolgsgeheimnisse Ericksons war, dass er Menschen ausgesprochen gut erreichte und es ihm schnell möglich war, eine positive Beziehung aufzubauen. Das lag an seinen integrativen oder auch „hypnotischen“ Sprachmustern. Keine Angst, diese Sprachmuster haben nichts mit dem zu tun, was du vielleicht schon einmal in Hypnoseshows im Fernsehen gesehen hast. Aber sicher kennst du diese Momente, in denen du an jemandes Lippen hängst, voller innerer Zustimmung und das Drumherum ausblendend. Du bist da und doch irgendwie abwesend. Die Worte deines Gegenübers haben dich in einen fast meditativen Zustand versetzt, den du vielleicht auch vom Autofahren, Zugfahren, aus Meetings oder während des Lesens eines Buches kennst. In einem solchen Zustand nimmst du das Gesagte deutlich bereitwilliger auf, bist offener und gleichzeitig ziemlich entspannt.
Die Frage ist: Wie bekommst du nun dein Gegenüber und sogar ganze Gruppen von Menschen in einen solchen Zustand? Ganz einfach und ganz schwer: indem du sie genau da abholst, wo sie stehen. Und immer dann, wenn du nicht genau weißt, wo dein Gegenüber steht, oder immer dann, wenn du mehrere Menschen vor dir hast, die alle woanders stehen, ist es hilfreich, wertfrei und vage – um nicht zu sagen, integrativ – zu sein. Ein paar Beispiele machen es vielleicht greifbar.
Wann immer ich in ein besonders wichtiges Gespräch, in einen Vortrag, einen Workshop oder ein Training einsteige, „hypnotisiere“ ich Menschen erstmal in eine positive „Ja-Haltung“. Das hat den Vorteil, dass ich meine Gesprächspartner in eine positive Grundhaltung versetze, und ganz nebenbei erarbeite ich mir einen kleinen Expertenstatus. Denn wer viele richtige Dinge sagt, hat natürlich Ahnung! Das tue ich, indem ich eine „Ja-Straße“ baue. Eine „Ja-Straße“ besteht aus vier bis sechs wertfreien Fakten, denen alle unbedingt zustimmen müssen: „Willkommen im Termin, liebe Kolleg*innen. Es ist Dienstag, fünf nach drei. Wir sind also fast pünktlich zu siebt bei blauem Himmel und Sonnenschein (alternativ auch bei strömenden Regen!) in unserem einstündigen Termin erschienen.
Wichtig: Ich spreche nicht von gutem oder schlechtem Wetter, denn es gibt Menschen, die Regen mögen! Ich spreche auch nicht von einem spannenden Termin oder einem schönen Austausch (Achtung! Reaktanz! – Siehe meinen letzten Artikel). Ebenso wie beim Wetter wäre auch das eine subjektive Bewertung, die zu unterlassen ist. Alle Teilnehmer*innen sollen innerlich nicken können … Trance, Pendel, Ticktack … Du verstehst!
Beispiele für integrative Sprachmuster
Hier ein paar konkrete Beispiele, die dir im beruflichen oder privaten Alltag hilfreich erscheinen könnten:
Zu Beginn eines Meetings:
„Vielleicht wisst ihr noch nicht genau, ob die folgenden Inhalte hilfreich oder interessant für euch sein werden …“
Um Aufmerksamkeit zu erlangen:
„Jede Information zu diesem Thema kann dazu führen, dass Klarheit und Verständnis zunehmen.“
„Es gibt Menschen, die gerne sofort loslegen, und Menschen, die vorher möglichst viele Fakten kennen möchten.“
Motivieren:
„Es ist vielleicht nicht ganz einfach, die momentanen Vorbehalte zu akzeptieren und sich dennoch die Erlaubnis zu geben, aktiv mitzuarbeiten.“
Mit Blockaden umgehen:
„Um zu wissen, was man will, ist es manchmal notwendig, deutlich zu wissen, was man nicht will.“
„Dass so viele von euch jetzt anderer Meinung sind und das auch offen aussprechen, spricht für ein mutiges und vertrauensvolles Team.“
Total integrativ – und jenseits von Präzision
Der große Milton Erickson arbeitete übrigens ähnlich wie Martin Luther King auch mit Bildern, die er bei seinen Patienten erzeugte. Das nur am Rande.
Natürlich kann es in der Kommunikation nicht nur darum gehen, integrativ zu kommunizieren, weich zu zeichnen und den Zuhörern einen möglichst großen Entscheidungskorridor zu eröffnen. Deshalb ist das Milton-Modell auch nur eine Seiter der Medaille. Auf der anderen Seite ist das sogenannte Meta-Modell der Sprache zu finden. Denn so sehr wie wir Menschen uns integriert und abgeholt fühlen möchten, so sehr schätzen wir Klarheit und ein möglichst genaues Verständnis. Beides schafft das Gefühl von Sicherheit. Denn auch das hatte der große Martin Luther King: Absolute Klarheit. Es ist ihm gelungen viele viele Menschen mit einer weichen und bildhaften Sprache dort abzuholen, wo sie eben waren, um ihnen im zweiten Schritt absolut klar aufzuzeigen, wo die Reise hingeht, wenn man sich entscheidet sich ihm anzuschließen. Deshalb gibt es in zwei Wochen an dieser Stelle einen kurzen Ausflug in das Meta-Modell der Sprache. Ich würde mich freuen, wenn ihr euch bis dahin ein wenig im rhetorischen Weichzeichnen ausprobiert und mir sehr gerne auch ein Feedback dazu schickt. Wie leicht oder schwer fällt es euch? Wie reagieren eure Gesprächspartner? Welchen Einfluss haben diese kommunikativen Muster vielleicht auf eure eigene Haltung? ich bin gespannt und freue mich darauf, gemeinsam mit euch in zwei Wochen genauer zu betrachten wofür und wie genau jeder von uns Sprache präzisieren kann.
Eure Constance
Ich habe einen Traum…
… dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können…