Führung

Präzisierende Sprachmuster: Das Meta-Modell und die Kunst Menschen in Bewegung zu halten

Integration und Präzision: Zwei Seiten einer Medaille

In meinem letzten Artikel habe ich euch das sogenannte Milton-Modell oder die integrativen Kommunikationsmuster vorgestellt. Diese helfen dabei, Menschen in Bewegung zu bringen, indem man sie dort abholt, wo sie sich gerade befinden. Beim Milton-Modell geht es darum, Sprache möglichst weich zu zeichnen, damit das Gesagte für möglichst viele Menschen anschlussfähig ist.

Als Coach nutze ich das Milton-Modell, um Vertrauen aufzubauen und um meine Coachees zu „pacen“, das heißt, um eine positive, vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Diese Beziehung ist die Basis, um schließlich gemeinsam arbeiten zu können. Ähnlich können auch Führungskräfte das Milton-Modell nutzen: um Vertrauen und Anschlussfähigkeit aufzubauen.

In meiner Rolle als Coach muss ich, um eine Entwicklung voranzutreiben – ähnlich wie eine Führungskraft – jedoch irgendwann proaktiver gestalten. Im Coaching nennt sich das tatsächlich „Leading“, also die Führung übernehmen, nicht inhaltlich, aber den Prozess betreffend. Ein Coach, der sich ausschließlich auf Pacing fokussiert, ist wenig wirksam – ähnlich wie eine Führungskraft, die ausschließlich weichzeichnet, um das Vertrauen zu fördern. Eine der Methoden, die ich als Coach gerne nutze, um in Führung zu gehen, eignet sich auch ganz wunderbar für Führungskräfte und all jene, die es einmal werden wollen, um das zu schaffen, was jeder Mensch sucht: Klarheit.

Das Meta-Modell der Sprache

Das Meta-Modell wurde als eines der Kernmodelle im Neurolinguistischen Programmieren (NLP) bereits in den 1970er-Jahren von den Herren Bandler und Grinder entwickelt. Es ist eine Art Werkzeug, das hilft, unklare oder verzerrte Sprachmuster zu erkennen und zu präzisieren, um eine tiefere und genauere Kommunikation zu ermöglichen. Ziel des Meta-Modells ist es, ungenaue und vage Sprache zu hinterfragen und so unbewusste Denkmuster sichtbar zu machen und einschränkende Glaubenssätze zu erkennen.

Im Rahmen des Modells gibt es drei Hauptprozesse: Tilgung, Generalisierung und Verzerrung. Wir alle nutzen diese drei kleinen Teufelchen der Kommunikation permanent – manchmal bewusst, meistens jedoch unbewusst. An sich ist das auch völlig fein, würde es im menschlichen Miteinander dadurch nicht immer wieder zu Missverständnissen kommen, die nicht selten in Konflikte münden. Mithilfe präzisierender Fragen deckt das Meta-Modell diese Ungenauigkeiten in der Sprache auf. Wie genau das funktioniert, möchte ich euch mithilfe einiger Beispiele aufzeigen.

Lasst uns mit der Tilgung beginnen. Hier ein paar handelsübliche Tilgungen, wie wir sie alle nutzen, und die dazugehörigen Fragen, um diese Tilgungen aufzudecken:

  • „Ich bin verwirrt!“ – Worüber?

  • „Die Leute fühlen sich unter Druck gesetzt!“ – Wer genau ist mit „die Leute“ gemeint?

  • „Ich bin bei diesem Projekt gescheitert.“ – Worin genau bist du im Rahmen des Projekts gescheitert?

Natürlich habe ich auch einige Verzerrungen und Möglichkeiten, diese aufzudecken, dabei:

  • „Er macht mich wütend!“ – Wie / in welcher Weise macht er dich wütend?

  • „Ich habe kein Studium. Hier werde ich nie befördert!“ – Wieso bedeutet ein fehlendes Studium, dass du nicht befördert wirst?

  • „Die anderen fühlen sich nicht wertgeschätzt!“ – Woher weißt du das?

Und last but not least ein paar Verallgemeinerungen:

  • „Alle sagen, dass früher alles besser war!“ – Gibt es jemanden, der das nicht sagt?

  • „Dieses Projekt wird niemals fertig!“ – Woher weißt du das?

  • „Ich sollte alle Mails täglich beantworten!“ – Was passiert, wenn du das nicht tust?

Insbesondere für mich als Coach ist es interessant, dass wir diese Tilgungen, Verzerrungen und Verallgemeinerungen nicht nur in der Kommunikation mit anderen nutzen, sondern auch in unserem inneren Dialog – also in der Kommunikation mit uns selbst. Zum Teil mit gravierenden Auswirkungen. Nicht nur, dass wir uns manchmal selbst nicht richtig verstehen. Hinzu kommt, dass niemand so wundervoll Druck auf uns ausüben kann wie wir selbst.

  • „Ich müsste mich auf der Arbeit noch mehr in meinem Team engagieren!“

  • „Ich muss meinen Haushalt besser in den Griff bekommen!“

  • „Ich sollte unbedingt wieder mehr Sport machen!“

Hört euch gerne selbst einmal genauer zu und fragt euch dann – ganz im Stil des Meta-Modells –, wer das sagt und was passiert, wenn ihr das nicht tut. So könnt ihr auch ganz ohne Coach-Begleitung Denkmuster, Glaubenssätze und innere Blockaden selbst aufdecken. Vielleicht wird es euch an der ein oder anderen Stelle ziemlich verblüffen, wie sich eure Gefühlslage verändert, während ihr euch zu des Pudels Kern vorarbeitet.

Das Meta-Modell der Sprache in der Business-Welt

Neben der Anwendung im Coaching, in der Therapie und in der Beratung ist das Meta-Modell auch im beruflichen Kontext ein echtes Geschenk. Im Rahmen von Verhandlungen hilft es, präziser zu verstehen und punktgenau zu hinterfragen. Mit Blick auf Führung und Teamwork schafft das Meta-Modell Klarheit – in Bezug auf Ziele, Erwartungen und das gemeinsame Verständnis einer ggf. komplexen Situation. Insbesondere während Veränderungsprozessen unterstützt das Meta-Modell Führungskräfte dabei, ihre Teams in Bewegung zu halten – und vor allem in eine gemeinsame Richtung zu bringen. Und mit Blick auf potenzielle Konflikte ist das Meta-Modell ein Geschenk um Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.

Allerdings ist die Voraussetzung dafür, das Meta-Modell erfolgreich zu nutzen, dass es euch im Vorfeld gelungen ist, eine positiv belegte, vertrauensvolle Beziehung zu etablieren. Probiert die präzisierenden Meta-Fragen gerne mal bei Menschen aus, mit denen ihr keine positive und vertrauensvolle Beziehung pflegt – hier werden diese Fragen wie pures TNT auf euer Miteinander wirken. Also immer beide Seiten der Medaille nutzen und wohl orchestriert den Wechsel zwischen Pacing und Leading zelebrieren!

Vor eineinhalb Jahren hatte ich das große Glück und die große Ehre, einige Tage lang vom großen Richard Bandler selbst zu lernen. Er war damals schon deutlich über 70 Jahre alt und hat sich für ein Seminar auf den weiten Weg von Florida nach Mainz gemacht. Es war faszinierend zu sehen, wie er immer wieder zwischen Pacing und Leading wechselte und welche Effekte das in den unterschiedlichen Demonstrationen auf seine jeweiligen Coachees hatte. Die Macht der Sprache und die Kraft der Kommunikation faszinieren mich von jeher. Richard Bandler dabei zu erleben, wie er mit Sprache spielt und sie unglaublich zielgerichtet einsetzt, um Menschen auf deren Weg zu bringen, hat mich tief beeindruckt.

Vielleicht habt ihr ja auch Lust bekommen, bewusst ein wenig mit der Sprache zu spielen – zu präzisieren, weichzuzeichnen, um zu integrieren, und danach wieder in die Präzision zu gehen. Ihr werdet erstaunt sein, welche Türen bewusst genutzte Sprache zu öffnen in der Lage ist.

Habt einen schönen, entspannten Sonntag! Ich hoffe für euch, die Sonne strahlt heute ähnlich hell wie für mich. Ich finde, es riecht langsam nach Frühling…

Eure Constance

Bandler & ich

… und die Macht von Pacing & Leading

Integrative Sprachmuster: Das Milton-Modell und die Kunst Menschen zu bewegen

Die Kunst, Menschen zu bewegen

Wir stellen uns vor, der große und unvergessene Martin Luther King hätte seine große Rede damals nicht mit „I have a dream!“, sondern mit den Worten „I have a project!“ zu ihrem mitreißenden Höhepunkt geführt …

Zu allen Zeiten und an allen Orten gab es Menschen, denen es besonders gut gelungen ist, Menschen in Bewegung zu bringen, sie mitzunehmen, ihnen Mut zu schenken. Was all diese Menschen gemeinsam hatten und haben, war und ist die Fähigkeit, viele unterschiedliche Menschen zu erreichen, integrativ zu kommunizieren – eine Fähigkeit, die heutzutage nicht nur Revolutionsführern, sondern auch Führungskräften gut zu Gesicht steht. In Zeiten stetigen Wandels geht es in der Führung zunehmend darum, Menschen in Bewegung zu setzen und sie mitzunehmen.

Martin Luther King hat vor allem mit Bildern gearbeitet, Bildern, die bei allen Zuhörenden Resonanz verursacht haben – egal, ob sie die roten Hügel Georgias, von denen er sprach, genau kannten, weil sie just diese sanften Hügel schon einmal mit eigenen Augen gesehen hatten, oder nicht. Kings Worte erzeugten innere Bilder, positiv belegte innere Bilder. Jeder konnte sich vorstellen, wie es aussieht, wenn die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter gemeinsam am Tisch der Brüderlichkeit sitzen. Ich sehe die Szene förmlich vor mir, während ich die Worte in meine Tastatur hacke.

Neben dem Erzeugen innerer Bilder gibt es noch weitere Möglichkeiten, Menschen kommunikativ „mitzunehmen“. Eine, die ich besonders gerne mag, möchte ich euch heute vorstellen.

Das Milton-Modell: Der Weg zu integrativen Kommunikationsmustern

Was kann ich tun, damit das, was ich zu sagen habe, maximal anschlussfähig für meine Zuhörerschaft ist? Hierzu gibt es tatsächlich ein Modell oder rhetorisches Mittel: das sogenannte Milton-Modell.

Benannt wurde das Modell nach dem 1980 verstorbenen Milton H. Erickson, der als einer der besten und effektivsten Psychotherapeuten seiner Zeit galt. Er war so erfolgreich, dass Forschende seinen Kommunikationsstil analysierten, um möglichst genau zu verstehen, was Ericksons Art zu kommunizieren auszeichnete. Eines der Erfolgsgeheimnisse Ericksons war, dass er Menschen ausgesprochen gut erreichte und es ihm schnell möglich war, eine positive Beziehung aufzubauen. Das lag an seinen integrativen oder auch „hypnotischen“ Sprachmustern. Keine Angst, diese Sprachmuster haben nichts mit dem zu tun, was du vielleicht schon einmal in Hypnoseshows im Fernsehen gesehen hast. Aber sicher kennst du diese Momente, in denen du an jemandes Lippen hängst, voller innerer Zustimmung und das Drumherum ausblendend. Du bist da und doch irgendwie abwesend. Die Worte deines Gegenübers haben dich in einen fast meditativen Zustand versetzt, den du vielleicht auch vom Autofahren, Zugfahren, aus Meetings oder während des Lesens eines Buches kennst. In einem solchen Zustand nimmst du das Gesagte deutlich bereitwilliger auf, bist offener und gleichzeitig ziemlich entspannt.

Die Frage ist: Wie bekommst du nun dein Gegenüber und sogar ganze Gruppen von Menschen in einen solchen Zustand? Ganz einfach und ganz schwer: indem du sie genau da abholst, wo sie stehen. Und immer dann, wenn du nicht genau weißt, wo dein Gegenüber steht, oder immer dann, wenn du mehrere Menschen vor dir hast, die alle woanders stehen, ist es hilfreich, wertfrei und vage – um nicht zu sagen, integrativ – zu sein. Ein paar Beispiele machen es vielleicht greifbar.

Wann immer ich in ein besonders wichtiges Gespräch, in einen Vortrag, einen Workshop oder ein Training einsteige, „hypnotisiere“ ich Menschen erstmal in eine positive „Ja-Haltung“. Das hat den Vorteil, dass ich meine Gesprächspartner in eine positive Grundhaltung versetze, und ganz nebenbei erarbeite ich mir einen kleinen Expertenstatus. Denn wer viele richtige Dinge sagt, hat natürlich Ahnung! Das tue ich, indem ich eine „Ja-Straße“ baue. Eine „Ja-Straße“ besteht aus vier bis sechs wertfreien Fakten, denen alle unbedingt zustimmen müssen: „Willkommen im Termin, liebe Kolleg*innen. Es ist Dienstag, fünf nach drei. Wir sind also fast pünktlich zu siebt bei blauem Himmel und Sonnenschein (alternativ auch bei strömenden Regen!) in unserem einstündigen Termin erschienen.

Wichtig: Ich spreche nicht von gutem oder schlechtem Wetter, denn es gibt Menschen, die Regen mögen! Ich spreche auch nicht von einem spannenden Termin oder einem schönen Austausch (Achtung! Reaktanz! – Siehe meinen letzten Artikel). Ebenso wie beim Wetter wäre auch das eine subjektive Bewertung, die zu unterlassen ist. Alle Teilnehmer*innen sollen innerlich nicken können … Trance, Pendel, Ticktack … Du verstehst!

Beispiele für integrative Sprachmuster

Hier ein paar konkrete Beispiele, die dir im beruflichen oder privaten Alltag hilfreich erscheinen könnten:

Zu Beginn eines Meetings:

  • „Vielleicht wisst ihr noch nicht genau, ob die folgenden Inhalte hilfreich oder interessant für euch sein werden …“

Um Aufmerksamkeit zu erlangen:

  • „Jede Information zu diesem Thema kann dazu führen, dass Klarheit und Verständnis zunehmen.“

  • „Es gibt Menschen, die gerne sofort loslegen, und Menschen, die vorher möglichst viele Fakten kennen möchten.“

Motivieren:

  • „Es ist vielleicht nicht ganz einfach, die momentanen Vorbehalte zu akzeptieren und sich dennoch die Erlaubnis zu geben, aktiv mitzuarbeiten.“

Mit Blockaden umgehen:

  • „Um zu wissen, was man will, ist es manchmal notwendig, deutlich zu wissen, was man nicht will.“

  • „Dass so viele von euch jetzt anderer Meinung sind und das auch offen aussprechen, spricht für ein mutiges und vertrauensvolles Team.“

Total integrativ – und jenseits von Präzision

Der große Milton Erickson arbeitete übrigens ähnlich wie Martin Luther King auch mit Bildern, die er bei seinen Patienten erzeugte. Das nur am Rande.

Natürlich kann es in der Kommunikation nicht nur darum gehen, integrativ zu kommunizieren, weich zu zeichnen und den Zuhörern einen möglichst großen Entscheidungskorridor zu eröffnen. Deshalb ist das Milton-Modell auch nur eine Seiter der Medaille. Auf der anderen Seite ist das sogenannte Meta-Modell der Sprache zu finden. Denn so sehr wie wir Menschen uns integriert und abgeholt fühlen möchten, so sehr schätzen wir Klarheit und ein möglichst genaues Verständnis. Beides schafft das Gefühl von Sicherheit. Denn auch das hatte der große Martin Luther King: Absolute Klarheit. Es ist ihm gelungen viele viele Menschen mit einer weichen und bildhaften Sprache dort abzuholen, wo sie eben waren, um ihnen im zweiten Schritt absolut klar aufzuzeigen, wo die Reise hingeht, wenn man sich entscheidet sich ihm anzuschließen. Deshalb gibt es in zwei Wochen an dieser Stelle einen kurzen Ausflug in das Meta-Modell der Sprache. Ich würde mich freuen, wenn ihr euch bis dahin ein wenig im rhetorischen Weichzeichnen ausprobiert und mir sehr gerne auch ein Feedback dazu schickt. Wie leicht oder schwer fällt es euch? Wie reagieren eure Gesprächspartner? Welchen Einfluss haben diese kommunikativen Muster vielleicht auf eure eigene Haltung? ich bin gespannt und freue mich darauf, gemeinsam mit euch in zwei Wochen genauer zu betrachten wofür und wie genau jeder von uns Sprache präzisieren kann.

Eure Constance

Ich habe einen Traum…

… dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können…

Wie Psychologische Sicherheit High Performance auf Teamebene ermöglicht - Zwei Fallbeispiel aus der Luftfahrt

Der Faktor Mensch in der Dynamik und Komplexität der Luftfahrt

In meinem letzten Artikel habe ich euch das Thema Psychologische Sicherheit und insbesondere die Rolle, die Führung in diesem Kontext spielt, „in a nutshell“ umrissen. Ich habe dabei darauf hingewiesen, dass es in diesem Artikel nun darum gehen soll, die praktischen Auswirkungen von subjektiv empfundener Sicherheit zu betrachten. Dazu habe ich euch zwei Fallbeispiele aus der Luftfahrt mitgebracht. Das zweite Beispiel hatte ich auch dabei, als ich in dieser Woche zum nun schon dritten Mal an der Universität in Maastricht zu Gast war. Auch in meinem Workshop für Studierende im Masterstudiengang “Learning & Development in Organisations” ging es darum, welche Rolle Psychologische Sicherheit im Kontext von hochdynamischen und komplexen Umfeldern spielt und wie es der Luftfahrt als Vorreiter seit Jahrzehnten gelingt, dieses Phänomen so zu etablieren, dass Fliegen immer sicherer wird – weil es Menschen zunehmend gelingt, nicht nur in sich selbst, sondern auch in ihr Team zu vertrauen.

Sioux City – oder wie Hollywood-Helden entstehen

Für unser erstes Beispiel herausragender Führung in Kombination mit Vertrauen gehen wir zurück zum 19. Juli 1989. Wir befinden uns an Bord einer DC-10 der United Airlines auf dem Weg von Denver nach Philadelphia. Alles verläuft normal. Auffällig ist lediglich, dass an diesem Tag besonders viele Familien mit Kindern an Bord sind, da United zu dieser Zeit ein spezielles Familienprogramm anbot. Doch zurück zum Flug: Alles läuft unspektakulär ab, bis ein lauter Knall die Crew aus ihrer Routine reißt. Jedem ist klar, dass ein Problem vorliegen muss. Die Ernsthaftigkeit dieses Problems ahnt zu diesem Zeitpunkt neben der Besatzung höchstens einer der Passagiere – dazu gleich mehr.

Im Cockpit stellen die Piloten kurz nach dem Knall fest, dass alle drei Hydrauliksysteme ausgefallen sind, wodurch das Flugzeug nicht mehr steuerbar ist. Ein solches Problem war in Trainings nicht vorgesehen, da man es schlicht und ergreifend für unmöglich hielt, dass alle drei unabhängigen Systeme (von denen nur eines benötigt wird; die anderen zwei dienen der Redundanz) gleichzeitig ausfallen könnten. Doch an diesem Tag ist genau das passiert. Der Grund: Ein Fanlaufrad eines Triebwerks war gebrochen, und die Fragmente hatten die Leitungen aller drei Hydrauliksysteme durchschlagen.

Nun sitzt Kapitän Alfred „Al“ Haynes am Steuer eines nicht mehr steuerbaren Flugzeuges. Eine verdammt ernste Situation. Eine Flugbegleiterin kommt nach vorne und berichtet, dass ein Passagier sie angesprochen habe. Er sei DC-10-Fluglehrer und glaube, er könne bei diesem Problem vielleicht helfen.

Es ist äußerst ungewöhnlich, dass Kapitäne in derartigen Notfällen Passagiere ins Cockpit lassen. Doch Kapitän Haynes ist sich bewusst, dass er jede mögliche Ressource nutzen muss, um die Überlebenschancen zu wahren. So sitzen schließlich vier Personen im Cockpit: Kapitän Haynes, sein Erster Offizier, sein Flugingenieur und der fremde Fluglehrer. Gemeinsam entwickeln sie eine Möglichkeit, das Flugzeug mithilfe der Triebwerksschübe zu steuern: Mehr Schub auf der rechten Seite für eine Linkskurve, mehr Schub links für eine Rechtskurve. Das klingt einfach, ist aber extrem herausfordernd. Dennoch gelingt es diesem Team, den Flieger auf dem Flughafen von Sioux City zu landen. Bei der Landung zerbricht das Flugzeug in zwei Teile. 110 Passagiere und eine Flugbegleiterin sterben, 185 Menschen überleben.

Warum Kapitän Haynes als Held gefeiert wurde und Hollywood die Ereignisse dieses Fluges unter dem Namen „Katastrophenflug 232“ mit Charlton Heston als Kapitän Haynes verfilmte? Nach dem Unglück versuchten viele Piloten, darunter Werkspiloten des Flugzeugherstellers, im Simulator diese beschädigte DC-10 zu landen – alle ohne Erfolg. An diesem Tag wurden die 185 Menschenleben nicht durch das fliegerische Können eines einzelnen Piloten, sondern durch außergewöhnliches Teammanagement und das Vertrauen von Kapitän Haynes in einen Fremden gerettet. Manchmal ist Vertrauen eine Entscheidung – und diese hat oft mit Demut zu tun.

Kapitän Haynes ist im September 2019 im Alter von 87 Jahren verstorben. Nach diesem 19. Juli 1989 erzählte er, dass es seine ersten Crew-Ressource-Management- oder Human-Factors-Schulungen waren, durch die er begriff, dass er nicht alles besser kann, nur weil er der Chef ist. Er verstand, dass Chef-Sein bedeutet, alle Ressourcen seines Teams zu nutzen, um erfolgreich zu sein. An diesem einen Tag hat Al Haynes sich entschieden, zu vertrauen. Und wenn eine Führungskraft sich entscheidet, zu vertrauen, legt sie den Grundstein für eine Kultur des Vertrauens im Team – und damit für weit überdurchschnittliche Leistungen.

Wie gut seid ihr, insbesondere die Führungskräfte unter euch, bedingungslos zu vertrauen? -Und damit den Grundstein für eine Kultur der Psychologischen Sicherheit zu legen?

Wenn Bauchgefühl den Computer schlägt

Für unser zweites Beispiel überspringen wir jetzt gute 20 Jahre Luftfahrtgeschichte. Wir schreiben den 4. November 2010 und befinden uns gemeinsam mit Kapitän Richard De Crespigny und seiner Besatzung an Bord des fast nagelneuen Airbus A380 der Qantas Airways, auf dem Weg von Singapur nach Sydney. Neben den 440 Passagieren befindet sich eine 29-köpfige Besatzung an Bord. Allein im Cockpit sind an diesem Tag fünf Personen, da Kapitän De Crespigny einer Überprüfung unterzogen wird, bei der ein sogenannter Check-Kapitän seine Arbeit bewertet. Interessanterweise wird auch der Check-Kapitän selbst überprüft, ob er die Überprüfung korrekt durchführt. Man kann sich vorstellen, wie angespannt die Atmosphäre im Cockpit ist: eine doppelte Überprüfungssituation und Hierarchiestrukturen, die leicht bedrohlich wirken können. Als Co-Pilot oder Erster Offizier würde man auf diesem Flug wahrscheinlich versuchen, so wenig wie möglich aufzufallen. Der Second Officer, ein Pilot in Ausbildung, betrachtete die Situation sicher auch interessiert, aber eher zurückhaltend.

Bereits kurz nach dem Start gibt es einen lauten Knall, und auf einen Schlag gehen im Cockpit mehr als zehnmal so viele Fehlermeldungen ein, wie normalerweise in Notfallsimulationen geübt werden. In der Luftfahrt gilt die Regel, dass in Notfällen ausschließlich der Kapitän des Fluges die Entscheidungsgewalt hat, selbst wenn ranghöhere Piloten anwesend sind. Die herausragende Führungsleistung der beiden überprüfenden Kapitäne bestand darin, dass sie sich sofort unterordneten und in die Fähigkeiten ihres Kollegen vertrauten. So hatte Kapitän De Crespigny den Raum, den er brauchte, um frei und bestmöglich agieren zu können.

Liebe Führungskräfte unter ich euch, ich frage euch erneut: Ist euer Vertrauen groß genug um den Raum für Höchstleistungen zu geben?

Zurück zu den Fehlermeldungen und Systemausfällen: Kapitän De Crespigny unterbricht schließlich die endlose Aufzählung seines Co-Piloten und sagt, er müsse jetzt wissen, was noch funktioniere, um herauszufinden, womit man arbeiten (sprich fliegen) könne. Gemeinsam entwickelt die Crew einen Plan, um das Flugzeug sicher zurück nach Singapur zu bringen. Da auch das System zum Kerosinablassen defekt war, musste der Flieger mit einem viel zu hohen Gewicht landen. Ein sogenanntes Overweight Landing stand bevor.

Die beiden Check-Kapitäne errechnen mithilfe eines Computerprogramms die dafür erforderlichen Landedaten und geben diese weiter um sie in die Bordsysteme einzugeben. Doch der Co-Pilot meldet sich zu Wort und äußert, dass die berechneten Zahlen falsch sein müssten. Trotz seines „untergeordneten“ Ranges wird ihm zugehört – und er hat recht. Der Computer hatte falsche Daten ausgegeben, die beinahe zu einer Katastrophe geführt hätten. Kapitän De Crespigny berät sich mit seinen Kollegen und vertraut schließlich auf die Einschätzung des Co-Piloten. Die Zahlen werden angepasst, und der Airbus A380 kann sicher landen. 469 Menschen verlassen das Flugzeug gesund und unverletzt. Nachdem sich der Erste Offizier oder Co-Pilot diese Szenen in den Cockpit Voice Records angehört hat, war er selbst erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit er zwei Check-Kapitänen und der Software von Airbus widersprach. Er sagt, er habe keine Sekunde gezögert, weil er sich absolut sicher gefühlt hatte, kritisch sein zu dürfen.

De Crespigny erklärte später bescheiden, dass es sich um eine Teamleistung handelte, bei der mehrere Gehirne zu einem verschmolzen seien. Doch die Basis für diese Teamleistung war eine Kultur des Vertrauens und der Psychologischen Sicherheit, die jedem Crew-Mitglied ermöglichte, offen und ehrlich zu kommunizieren.

Führung in einer komplexen Welt

Die Luftfahrt ist seit Jahrzehnten ein Vorreiter darin, wie Vertrauen und Teamarbeit außergewöhnliche Leistungen ermöglichen. Vertrauen, das Gefühl subjektiv empfundener Sicherheit im Arbeitskontext, ist die absolute Basis dafür, in einer immer dynamischeren und komplexeren Welt erfolgreich agieren zu können. Auch außerhalb der Luftfahrt ist Erfolg in einer immer dynamischeren und komplexeren Welt nicht mehr von Einzelkämpfern abhängig, sondern von Teams, die gemeinsam besser sind als jede Einzelperson. Die Basis für Gemeinsamkeit ist Vertrauen.

Deshalb meine erneute Frage an alle Führungskräfte: Wie viel Vertrauen habt ihr in euer Team? Lebt ihr eine Kultur des Vertrauens – oder sprecht ihr nur davon?

Eure

Constance

Wer hoch hinaus will braucht Vertrauen

… Nicht nur in der Luftfahrt!