Gesellschaft

Psychosen - Wenn die Seele die gelb-rote Karte zeigt

Psychosen – Das große Tabu?

Ich habe seit dem Amoklauf in Mannheim überlegt, ob ich mir für diesen Blog nicht lieber ein anderes Thema suchen sollte. Schon vor zwei Wochen, als ich mich mit dem Thema psychisches Trauma bzw. Traumatherapie beschäftigt habe, habe ich mir vorgenommen, im nächsten Artikel mit dem Thema Psychosen daran anzuknüpfen. Ich habe mich entschieden, mich trotz Mannheim mit dem Thema Psychosen zu beschäftigen. Nicht erst, seit ich mich in einer psychotherapeutischen Ausbildung befinde, frage ich mich wieder und wieder, warum psychische Erkrankungen ein gefühltes gesellschaftliches Tabu darstellen. Seit ich mich im Rahmen meiner Weiterbildung quasi professionell mit dem Thema psychischer Erkrankungen beschäftige, ist das Fragezeichen in meinem Kopf nur noch größer geworden. Ich bin erstaunt, wie viele von uns früher oder später an einem psychischen Krankheitsbild leiden und wie wenig darüber gesprochen wird.

Eine handfeste Psychose taucht ausgesprochen selten aus dem Nichts auf. Sie kündigt sich häufig an, und natürlich gibt es Frühwarnsymptome, über die sich in vielen Fällen gegensteuern lässt. Allerdings habe ich das Gefühl, dass diese Symptome einerseits ausgesprochen schambehaftet sind und Betroffene versuchen, die Situation auszusitzen, oder Betroffene wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen oder können. Psychotherapeutische Beratungs- und Behandlungsangebote sind in Deutschland, gemessen am Bedarf, ein rares Gut. Umso wichtiger ist es, dass wir diese Formen der Erkrankungen aus der Schmuddelecke holen und aufhören, Menschen zu stigmatisieren – mit völlig realitätsfernen Bildern von „Verrückten“ im Kopf, die man zeitlebens einsperren muss, weil sie gefährlich sind.

Etwa 3 von 100 Menschen erleben in ihrem Leben mindestens eine psychotische Episode. Diese tritt zum Beispiel im Rahmen von sogenannten affektiven Störungen auf, das heißt bei depressiven oder manischen Episoden oder deren Wechsel, den wir als bipolare Störung bezeichnen. Aber auch im Kontext einer Schizophrenie, an der etwa 1 Prozent der Weltbevölkerung leidet, oder im Zusammenhang mit Traumata und (posttraumatischen) Belastungsstörungen sowie durch den Konsum von Drogen und Alkohol oder im Kontext von Drogen- und Alkoholentzug tauchen psychotische Episoden oder Psychosen auf.

Viele Menschen erleben tatsächlich nur eine einzige psychotische Episode im Leben, während andere chronisch betroffen sind. Risikofaktoren wie genetische Veranlagung, erlittene Traumata und Drogenkonsum können das individuelle Risiko erhöhen.

Aber was ist denn eine Psychose überhaupt?

Man sagt, dass eine Psychose eine schwere psychische Störung ist, die das Denken sowie das Erleben und die Wahrnehmung der Realität beeinträchtigt. Im Kontext von Psychosen treten Wahnvorstellungen – also bizarre und unveränderbare Überzeugungen – und Wahrnehmungsstörungen wie optische oder akustische Halluzinationen (die oft benannten Stimmen oder weißen Mäuse) auf. Auch das Bewusstsein und die Selbstwahrnehmung können sich verändern.

Diese veränderte Selbstwahrnehmung äußert sich zum Beispiel über das Gefühl, dass meine Gedanken nicht mehr mir gehören: Sie werden mir zum Beispiel von außen eingegeben, jeder kann sie hören, oder sie werden aus mir herausgesaugt. Oder darüber, dass ich mich selbst fremd und sonderbar fühle oder sich meine Umwelt unwirklich und fremd anfühlt – insgesamt ein Zustand, der sicher große Angst macht.

Und woher kommt eine Psychose?

In der Literatur findet man die Aussage, dass Psychosen meist eine multifaktorielle Ursache haben. Das heißt, im Prinzip weiß man es nicht so ganz genau und geht von einer Kombination verschiedener Ursachen aus. Eine Ausnahme bilden hierbei organisch verursachte Psychosen, die zum Beispiel durch Infektionen und Entzündungen oder Vitamin- und Nährstoffmangel entstehen. Auch neurologische Erkrankungen wie Epilepsie, Demenz oder Hirnverletzungen können Psychosen auslösen – ebenso wie der Konsum oder Entzug von Drogen oder Alkohol.

Interessant ist, dass offensichtlich auch unsere Genetik eine Rolle beim Entstehen von Psychosen oder psychotischen Erkrankungen spielt. Schizophrenie hat eine deutliche genetische Komponente. Aber lange nicht bei jedem, der diese Disposition hat, bricht die Psychose auch aus.

Das führt uns zu den multifaktoriellen, „weichen“ Bedingungen: Einen deutlichen Einfluss darauf, ob es zu einer Psychose kommt oder eben nicht, hat, ob wir während der Kindheit traumatische Erlebnisse (z. B. Missbrauch, Vernachlässigung, extremer Stress) erfahren haben, aber auch im weiteren Leben (z. B. Krieg und Vertreibung). Zudem gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass Menschen mit Migrationshintergrund ein erhöhtes Risiko haben, eine Psychose zu entwickeln. Und zwar nicht, weil sie Migranten sind, sondern weil sie aufgrund ihres Migrationshintergrundes Diskriminierung und kulturellen Stress erfahren.

Gute Integration kann also vor Psychosen schützen – etwas, bei dem wir uns alle an die eigene Nase fassen können. Wie integrativ sind wir denn? Oder wann und wie neigen wir dazu, andere auszugrenzen? Denn auch soziale Isolation, Einsamkeit, Mobbing und fehlende soziale Unterstützung können psychotische Symptome begünstigen. Menschen, die in einer festen Beziehung leben und sozial eingebunden sind, haben zum Beispiel selbst bei einer so ernsthaften Erkrankung wie Schizophrenie eine deutlich günstigere Prognose als Alleinstehende.

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Am Ende scheint es in den meisten Fällen eine Kombination aus „weichen“ und „harten“ Faktoren zu sein, die das Entstehen einer Psychose fördern oder davor schützen. Habe ich eine genetische Disposition oder trage ich eines oder mehrere schwere Traumata mit mir herum, löst das nicht direkt eine Psychose aus. Kommt jedoch mehr und mehr Stress dazu oder konsumiere ich Drogen (vielleicht um den Stress zu betäuben), erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ich an einer Psychose erkranke. Irgendwann läuft das Fass eben über, und die Seele zeigt die gelb-rote Karte.

Was es braucht – nicht nur mit Blick auf potenzielle psychische Erkrankungen –, ist Integration und ehrliches, wertfreies Interesse aneinander, von dem uns niemand außer wir selbst abhalten kann. “Unterschätze nie die Macht eines Ja!” Dieses Zitat von Jacinda Ardern steht momentan als Wochenmotto auf meinem Schreibtisch. Sie hat recht. Warum häufig zu kritisch, so negativ? Es geht auch positiv, ressourcenorientiert. Warum verurteilen und ausgrenzen, wenn wir auch respektieren und unterstützen können? Integration hört nicht bei physischer Barrierefreiheit oder Regenbogenfahnen auf. Sie muss ebenso selbstverständlich auf der Ebene psychischer Erkrankungen stattfinden.

Ich werde jetzt weiterlernen. Passend zu diesem Artikel stehen Psychosen an diesem Wochenende auf meinem Lernplan. Denn im therapeutischen Kontext ist eine psychotische Erkrankung nicht gleich eine psychotische Erkrankung. Es gibt zum Beispiel eine Form der akuten, körperlich bedingten Psychose – das Delir –, die es unbedingt von anderen Formen zu unterscheiden gilt, weil hier akute Lebensgefahr besteht.

Und während ich so vor mich hin lerne, bin ich wieder und wieder zutiefst fasziniert von uns Menschen, unserem Körper – in Einheit mit unserer Seele. Denn unsere Seele zeigt nicht einfach so die gelb-rote Karte, sondern unterscheidet, ob das Leben in Gefahr ist, und gibt der Psychose in diesem Fall eine leicht andere Form. Ist das Leben in Gefahr, zeigen sich zum Beispiel Halluzinationen häufig eher in optischer Form. Ist das Leben nicht in Gefahr, liefert unser Organismus uns tendenziell eher akustische Halluzinationen. Verrückt, oder?

Habt einen zauberhaften Sonntag, genießt die Sonne und achtet auf euch und eure Liebsten.

Eure Constance

Wenn die Seele die gelb-rote Karte zeigt

Psychosen und psychotische Episoden

Warum wir alle ein bisschen Traumatherapeut*in sein sollten

- Oder das Zauberhafteste, das ich in den letzten beiden Wochen gehört habe!

„Wenn wir unser Gegenüber nicht repräsentativ für ein Problem sehen, das es zu lösen gilt, sondern als eine Erfahrung, die es zu machen gilt, legen wir die Basis.“ So oder so ähnlich hat sich die großartige Dr. Pat Ogden im Rahmen einer Weiterbildung, an der ich kürzlich teilgenommen habe, ausgedrückt. Was für ein Satz! Wie viel positive Energie und wie viel Weisheit. Sind Erfahrungen immer positiv? Nein, natürlich nicht. Aber sie sind immer hilfreich und lassen uns zu dem werden, der oder die wir sind.

Meine aktuelle Weiterbildung ist das „Advanced Master Program of the Treatment of Trauma“ am National Institute for the Clinical Application of Behavioral Medicine in den USA, an dem ich in den letzten beiden Wochen virtuell teilnehmen durfte. Dank der Zeitverschiebung gibt es Vorlesungen zur besten Sendezeit um 19:00 Uhr! Ja, es geht um Traumata, und um zu verstehen, wie man mit dieser von Dr. Ogden beschriebenen Haltung an Traumata arbeiten kann, ist es im ersten Schritt hilfreich, zunächst zu verstehen, was ein Trauma ist.

Trauma – Was ist das überhaupt?

Ein psychisches Trauma ist die Verletzung unserer Seele oder Psyche, die durch ein belastendes Ereignis hervorgerufen wurde. Ein wirklich weites Feld. Ein sehr bekanntes und sich drastisch auswirkendes Trauma ist die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), von der wir alle schon einmal im Kontext von Gewaltverbrechen oder Krieg gehört haben. Man geht davon aus, dass etwa die Hälfte aller Kriegsflüchtlinge an einer PTBS leidet. Bei etwa einem Drittel hat sich diese mutmaßlich chronifiziert und zu einer dauerhaften Persönlichkeitsveränderung geführt – eine Erkrankung, die man früher auch als KZ-Syndrom bezeichnet hat. Heute vielleicht das Afghanistan-, Syrien- oder Ukraine-Syndrom?

Bei einem Trauma führen belastende Erlebnisse dazu, dass das Nervensystem wie bei einer PTBS in völliger Überlastung läuft oder dass man das Erlebte abspaltet, um es aus der aktiven Erinnerung zu streichen. Hierbei kann es sein, dass Betroffene mehrere Persönlichkeiten entwickeln – eine dissoziative Identitätsstörung. Es kann auch vorkommen, dass der Körper nicht mehr wie gewohnt funktioniert, ohne dass es eine greifbare medizinische Diagnose dazu gibt. Diese Störungen können bis hin zu Lähmung oder Blindheit reichen. Es kann zu krampf- oder tranceartigen Anfällen kommen – und so weiter und so fort. Ein Trauma kann eine psychische Erkrankung hervorrufen, die sich massiv körperlich äußern kann – kann, muss aber nicht! Denn Fakt ist: Wir alle erleben im Laufe unseres Lebens viele größere und kleinere Traumata, und unser Organismus entwickelt Schritt für Schritt Strategien, um mit diesen Verletzungen umzugehen. Ganz so, wie euer Körper weiß, wie er sich um den tiefen Schnitt im Finger, den ihr euch beim Zwiebelschneiden zugezogen habt, kümmern muss. Vielleicht bleibt eine kleine Narbe, vielleicht auch nicht. Das ist unsere Resilienz, unsere psychische Abwehrkraft. Bei großen Verletzungen – wie bei einem Oberschenkelhalsbruch, einer massiven inneren Blutung oder einer Wunde, die sich infiziert hat – braucht der Organismus Unterstützung; kleinere Wunden heilt er selbst. Leider lassen sich diese seelischen Verwundungen nicht so gut erkennen wie die rein körperlichen.

Freeze – wenn der Körper einfach dichtmacht

Ein Hinweis auf eine Traumatisierung kann ein Zustand sein, den die moderne Neurowissenschaft als Freeze, also Einfrieren, bezeichnet – einen Zustand, den wir alle wahrscheinlich kennen. In der Schule stehen wir vorne an der Tafel, und alles, was wir einmal wussten, ist weg, und wir sind nicht in der Lage zu sprechen. Ein Blackout, das uns auch im beruflichen Kontext ereilen kann. Oder ihr kommt zu einem schweren Unfall dazu, seht schwer verletzte Menschen und seid nicht handlungsfähig. Der Schock hat euch einfrieren lassen. Oder ihr werdet angegriffen, und anstatt euch zu wehren, könnt ihr noch nicht einmal um Hilfe schreien. Euer gesamter Organismus, eure neuronalen Netzwerke, sind völlig überrollt und stellen erstmal jede Aktivität, jede Reaktionsfähigkeit ein.

Evolutionshistorisch machte das alles einmal Sinn. Die primäre Freeze-Reaktion diente dazu, sich vor der Flucht oder dem Kampf kurz zu orientieren – das kann man recht gut bei Rehen beobachten, die, sobald sie die Scheinwerfer erblicken, mitten auf der Straße stehen bleiben und erstmal ins Licht schauen. Im Idealfall sind wir nach dieser kurzen Lähmung, die – wie gesagt – zur Orientierung dient, wieder handlungsfähig und gehen entweder in eine Kampf- oder Fluchtreaktion. Erscheint unserem Organismus die subjektiv empfundene Gefahr so überwältigend, dass weder Kampf noch Flucht eine Option ist, entscheidet unser Organismus, es mit Einfrieren zu versuchen. Vielleicht fallen wir dann weniger auf, und der Jäger lässt von uns ab.

Schon die Erinnerung an ein erlittenes und noch nicht komplett verarbeitetes Trauma kann eine solche Reaktion hervorrufen – insbesondere auch in einem therapeutischen Setting. Aus diesem Grund sind Freeze-Reaktionen während einer Therapie nichts Außergewöhnliches. Die Herausforderung für Therapeutinnen: In diesem Zustand ist ein Mensch nur eingeschränkt kognitiv erreichbar und interaktionsfähig. Ein direktes therapeutisches Arbeiten ist also nicht möglich. Frustrierend für den/die Therapeutin?

Wie kommt man wieder raus aus dem Freeze?

An dieser Stelle setzte die bereits genannte Dr. Pat Ogden in einer Session zum Umgang mit Freeze im therapeutischen Kontext an. Denn die Basis dafür, Menschen Schritt für Schritt aus diesem Zustand der inneren und äußeren Lähmung herauszubegleiten, ist der Aufbau einer positiv belegten Beziehung. Klar könnte man meinen, ein erstarrter Klient stelle für den Therapeuten ein Problem dar. Begegne ich einem Klienten mit dieser Haltung, wird er das selbst im Zustand der Erstarrung intuitiv spüren und sich noch weiter in sich zurückziehen. Begegnen wir den Menschen offen, neugierig und positiv, wird er dies ebenfalls spüren, sich im besten Fall ein klein wenig sicherer fühlen und sich vielleicht Schritt für Schritt aus dem Schutzbunker seiner Seele herauswagen. In der systemischen Arbeit – egal ob Coaching oder Therapie – nennen wir das Pacing oder Begleiten. Dr. Ogden bezeichnet es als „Right-To-Right-Brain-Communication“, also die oft unbewusste Kommunikation zwischen unseren rechten Hirnhälften, die die Basis für zwischenmenschliche Beziehungen darstellt. Diese Art der Kommunikation beginnt mit meiner Einstellung, meiner Haltung gegenüber der Welt, meinen Mitmenschen und mir selbst.

Im Verlauf der Vorlesung wurde auch darauf eingegangen, wie wichtig es nicht nur für Therapeut*innen ist, mit der rechten Hirnhälfte auf Menschen zu reagieren, die starr vor Verunsicherung oder Angst sind. Traumata haben viele Gesichter, und jeder von uns trägt unzählige größere oder kleinere Narben – manchmal auch offene seelische Wunden, die für andere unsichtbar bleiben. Warum also nicht achtsam und neugierig reagieren, wenn Menschen sich anders verhalten, als wir es erwarten oder wünschen? In jedem von uns steckt ein kleiner psychologischer Ersthelfer. Alles, was es braucht, ist anstelle von Druck und Ungeduld, mit Neugier und Offenheit auf andere zuzugehen. Egal, ob als Lehrer, Pflegekraft, Mediziner, als Führungskraft, Kolleg*innen oder Nachbar*innen – lasst uns als Menschen offen, empathisch und neugierig begegnen. Das Problem ist aus meiner Sicht nicht die Anwesenheit von Wut, Frust oder Hilflosigkeit, sondern die Abwesenheit von Neugier und Liebe.

„Wenn wir unser Gegenüber nicht repräsentativ für ein Problem sehen, das es zu lösen gilt, sondern als eine Erfahrung, die es zu machen gilt, legen wir die Basis.“

Heute ist Wahltag in Deutschland. So viel wurde im Vorfeld über diese Wahl geschrieben, so viel wurde diskutiert. Das Leben um uns herum scheint in diesen Tagen einigermaßen turbulent zu sein. Ich erlebe viel Angst, Verunsicherung, alte Traumata, die aufgerissen werden, und neue, die hinzukommen. Ich spüre sogar mein eigenes transgenerationales Trauma (ja, auch das gibt es!).

Mein Wunsch wäre, dass sich sowohl wir als Gesellschaft als auch unsere (demokratischen) Politiker*innen mit Neugier der jeweils anderen Position und mit Offenheit für andere Argumentationen begegnen und so gemeinsam einen Weg finden, der uns wieder enger und verständnisvoller zusammenbringt.

In diesem Sinne: Geht wählen! Der Spruch ist alt und abgedroschen, aber vielleicht noch nie so aktuell wie heute: Wer in einer Demokratie schläft, droht in einer Diktatur wieder aufzuwachen.

Eure Constance

PS:

Im Kontext von Freeze-Reaktionen gab es auch etwas, das nach Ansicht aller Dozent*innen unbedingt zu unterlassen ist: Anfassen! Oft haben wir recht schnell das Gefühl, andere berühren zu wollen, um sie zu beruhigen. Ohne die eindeutige Erlaubnis der Betroffenen ist das immer eine denkbar schlechte Idee. Insbesondere im medizinischen Kontext haben Ogden & Co. von vielen beispielhaften Situationen berichtet, in denen Menschen gegen ihren Willen berührt wurden (mit bester und freundlichster Absicht). Aufgrund ihrer Erstarrung konnten sich die Betroffenen nicht äußern und wehren und haben diese Situation als weitere Ohnmachtssituation gespeichert. „Right-Brain-To-Right-Brain-Communication“ braucht keine körperlichen Berührungen!

Nicht jede Narbe, nicht jede Wunde ist sichtbar

Trauma: Wenn die Seele nicht mehr weiter weiß.

Reaktanz! - Das "aus-Prinzip-dagegen-Phänomen" positiv kanalisieren

Reaktanz – Blindwiderstand, der einfach so passiert

Reaktanz ist ein Phänomen, das mich als Coach und Organisationsentwicklerin schon seit Jahren beschäftigt und in gewisser Weise auch fasziniert. Denn bei Reaktanz handelt es sich nicht um eine bewusste Entscheidung, sondern eher um einen unbewussten Automatismus, dem wir uns einfach nicht entziehen können.

Der Begriff selbst wurde bereits in den 1960er Jahren vom Sozialpsychologen Jack W. Brehm geprägt und ist ein zentraler Bestandteil der sogenannten Reaktanztheorie, die erklärt, wie Menschen intuitiv auf die Einschränkung ihrer Freiheit reagieren und wie eine solche Einschränkung ihr Verhalten beeinflusst. Hinter dieser „aus-Prinzip-dagegen-Haltung“ steckt also oft viel mehr als frühkindliche Bockigkeit. Wer das Prinzip der Reaktanztheorie versteht, kann diese Reaktion im positivsten Sinne als Frühwarnsystem und Gerechtigkeitssensor nutzen und somit Meetings, Entscheidungen und Teamdynamiken effektiver, stressfreier, positiver gestalten.

Reiz-Reaktion-Reaktanz

In der Psychologie bezeichnet man Reaktanz als emotionale und motivationale Reaktion auf wahrgenommene Einschränkungen oder Bedrohungen der persönlichen Freiheit. Sie tritt immer dann auf, wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihre Entscheidungsfreiheit oder ihr Handlungsspielraum eingeschränkt werden – also, wenn eine Person das Gefühl hat, etwas nicht mehr tun oder wählen zu dürfen, was vorher möglich war.

Beispiele hierfür sind:

  • Verbote oder Einschränkungen.

  • (Subjektiv empfundene) manipulative Überzeugungsversuche – das heißt, auch wenn etwas ausschließlich stark positiv dargestellt wird. Auch zu deutliche Motivation ruft intuitiven Widerstand hervor!

  • Soziale oder gesellschaftliche Zwänge.

Mögliche Reaktanz-Reaktionen sind:

  • Widerstand gegen die Einschränkung.

  • Wiederherstellung der Freiheit, zum Beispiel durch Trotzverhalten oder bewussten Regelverstoß.

  • Aufwertung der eingeschränkten Option – das heißt, das Verbotene wird plötzlich super attraktiv (wenn du willst, dass ein Kind garantiert an ein heißes Bügeleisen fasst, verbiete es vehement und immer wieder) oder das stark Angepriesene wird unattraktiv und intuitiv abgewertet.

Reaktanz und Gerechtigkeit

Insgesamt hängt Reaktanz sehr eng mit unserem Gerechtigkeitsempfinden zusammen, da beide Phänomene darauf beruhen, wie Menschen Einschränkungen und Ungleichbehandlungen wahrnehmen. Somit ist Reaktanz mitnichten etwas Negatives. Im Gegenteil: Protest- oder Freiheitsbewegungen entstehen oft aus einer Kombination von Reaktanz und dem Gefühl von Ungerechtigkeit (zum Beispiel gegen Diskriminierung oder soziale Ungleichheit) und entwickeln so mitunter eine gesellschaftsverändernde Kraft.

In diesem Kontext ist es besonders interessant, dass Einschränkungen, die als gerecht empfunden werden, oft akzeptiert werden und keinen Blindwiderstand hervorrufen – zum Beispiel eine Regel, die für alle gleichermaßen gilt und alle gleichermaßen benachteiligt. Wohingegen Regeln oder auch Sanktionen, die als ungerecht empfunden werden, garantiert Widerstand auslösen – zum Beispiel, wenn nur ein Teammitglied vom Chef dazu gezwungen wird, Überstunden zu machen, ohne das nachvollziehbar zu begründen.

Sowohl für uns als Gesellschaft als auch für Organisationen oder Unternehmen ist es wichtig, Regeln so zu gestalten, dass sie als gerecht oder fair empfunden werden, um allgemeine Reaktanz (die immer auch zur Einschränkung der individuellen Leistungsbereitschaft beiträgt) zu verhindern.

Reaktanz verhindern?!

Reaktanz zu verhindern ist ein komplexes Unterfangen. Kenne ich den Mechanismus, kann ich mich so aufstellen, dass mein Verhalten oder meine Kommunikation die Wahrscheinlichkeit von Reaktanz verringert.

Insgesamt erfordert der Versuch, Reaktanz zu verhindern, ein sensibles Vorgehen, das auf die Autonomie und die Bedürfnisse der betroffenen Personen eingeht. Respektvolle Kommunikation, die dabei weder überzogen positiv noch überzogen negativ ist, nachvollziehbare Begründungen und das Schaffen von Wahlmöglichkeiten sind hierbei zentrale Elemente.

Wie kann ich das konkret tun? Hier einige ganz praktische Möglichkeiten für dich:

  • Wahlfreiheit betonen: Gib Menschen das Gefühl, eine Wahl zu haben. Anstelle von Formulierungen wie „Das musst du unbedingt so machen!“ oder „Das darfst du keinesfalls so tun!“ bieten sich Formulierungen wie „Es gibt verschiedene Optionen. Eine davon wäre … und eine andere wäre …“ oder „Du selbst entscheidest, wie interessant das für dich ist.“

  • Transparente und rationale Begründungen: Begründe Einschränkungen nachvollziehbar. „Das haben wir schon immer so gemacht!“ ist keine nachvollziehbare Begründung.

  • Sanfte Kommunikation: Formuliere Bitten weniger autoritär und sei vorsichtig mit zu großer Euphorie in Bezug auf ein Thema, eine Veränderung, einen Workshop und so weiter. Neutral-positive Kommunikation öffnet Türen. Übertriebene Motivationsversuche können recht schnell Reaktanz auslösen.

  • Partizipation fördern: Mache Betroffene zu Beteiligten! – Ein Zitat, das ich einer Führungskraft, die ich schon länger begleite, „geklaut“ habe! Ich frage mich, wofür sie mich braucht. Wie dem auch sei: Sätze wie „Was denkst du, wäre die beste Lösung?“ oder „Lasst uns gemeinsam überlegen, wie wir das Thema angehen!“ wirken Wunder – übrigens auch ganz speziell in der Erziehung. Reaktanz macht auch vor Kindern nicht halt!

  • Verbote nicht explizit hervorheben! Das mit dem heißen Bügeleisen oder der Herdplatte ist der Klassiker. Auch Erwachsene wünschen sich häufig ganz besonders intensiv, das zu tun, was absolut verboten ist!

  • Empathie zeigen: Zeige Verständnis für die Meinung anderer, auch wenn sie nicht deiner eigenen Meinung entspricht. Zu verstehen heißt nicht zwangsläufig, einverstanden zu sein, öffnet aber ganz sicher Kommunikationswege und reduziert Widerstände.

  • Alternativen anbieten: Mehrere Optionen geben Menschen das Gefühl der Autonomie.

  • Positive Konsequenzen aufzeigen: Fokussiere dich auf die Vorteile einer Entscheidung anstatt auf die Einschränkungen. Ja, alles hat seinen Preis, aber alles hat auch seine Benefits, wie zum Beispiel: „Wenn wir das so machen, gewinnen wir mehr Zeit!“ oder „Diese Regelung hilft uns, das Ziel schneller zu erreichen!“

Vielleicht ist ja etwas dabei, das du gut für dich nutzen kannst. Oder vielleicht hast du ja auch schon eigene Ideen im Kopf, wie du das Reaktanz-Phänomen positiv kanalisieren kannst. In zwei Wochen werde ich an dieser Stelle noch etwas tiefer in die Welt dieser sogenannten integrativen Kommunikationsmuster einsteigen. Es gibt nämlich Menschen, die an sehr breiter Front das Gegenteil von Reaktanz hervorrufen. Vielmehr gelingt es ihnen, Menschen zu aktivieren und mitzuziehen. Diese Menschen sind für gewöhnlich natürliche Meister in der Nutzung integrativer Kommunikationsmuster – oder sie haben diese Muster gelernt! Dazu, wie gesagt, mehr in zwei Wochen.

Abschließend ist es mir nochmal wichtig darzustellen, dass natürlich nicht jede Form von Widerstand und „Dagegen!“ mit einem natürlichen Reaktanzreflex erklärt werden kann. Manchmal wird einfach alles zu viel, und ich will nicht mehr, nichts mehr! – Keine Reaktanz, sondern schlicht und ergreifend die Nase voll! Auch bestimmte Persönlichkeitsausprägungen können zu automatisiertem Widerstand führen und je nach Intensität sogar auf eine tatsächliche Persönlichkeitsstörung hinweisen. Das Feld des Menschseins ist ein sehr breites, und Reaktanz ist selbstverständlich nur eine von vielen Möglichkeiten – aber eben eine recht häufige und gut berechenbare Möglichkeit, die man ganz wunderbar positiv oder konstruktiv kanalisieren kann.

Genießt euren Sonntag!

Eure Constance

Dagegen

Intuitiven Blindwiderstand kanalisieren anstatt dagegen anzukämpfen