Führungskräfte

Sicherheit und Vertrauen in Phasen der Veränderung - Psychological Safety in a Nutshell

Halt in haltlosen Zeiten

In den letzten Wochen habe ich immer wieder mit Führungskräften und Führungsteams gearbeitet, die ein zentrales Thema beschäftigt: Veränderungen überholen sich gegenseitig. Die Dynamik hat auf allen Ebenen stark zugenommen. Führungskräfte fragen sich zunehmend, wie sie ihre Teams oder Organisationen mitnehmen und „bei Laune“ halten können. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass viele von ihnen die Sorgen und Ängste ihrer Mitarbeitenden nicht nur nachvollziehen können, sondern oft selbst spüren. Denn was bei all diesen Veränderungen häufig auf der Strecke bleibt, ist das Gefühl von Sicherheit.

Was braucht es also, um in einer scheinbar unberechenbaren Welt aktiv, erfolgreich und zielorientiert zu agieren? Es braucht sichere Räume, aus denen heraus man sich den Herausforderungen des Lebens stellen und in die man sich immer wieder zurückziehen kann. Solche sicheren Räume sind auch im beruflichen Kontext unverzichtbar. Die Suche nach diesen führt mich zu einem meiner Lieblingsthemen: psychologische Sicherheit. Diese sicheren Räume, die uns mutig, kreativ und leistungsfähig machen und uns helfen, äußere Veränderungen zu bewältigen, finden wir im Arbeitsumfeld vor allem in unseren Teams – in den Menschen, mit denen wir direkt zusammenarbeiten.

Mir ist aufgefallen, dass ich schon viel zu lange nicht mehr über dieses wichtige Thema geschrieben habe. Es ist also höchste Zeit!

Psychological Safety in a Nutshell

Psychologische Sicherheit beschreibt ein Klima innerhalb einer Gruppe oder eines Teams, in dem sich die Mitglieder sicher fühlen, ihre Meinung zu äußern, Ideen zu teilen, Fehler zuzugeben und Bedenken anzusprechen – ohne Angst vor negativen Konsequenzen wie Zurückweisung, Bloßstellung oder Bestrafung. Der Begriff und das dahinterstehende Konzept wurden vor allem durch die Arbeit der Harvard-Professorin Amy C. Edmondson geprägt.

Laut Edmondsons aktueller Forschung ist eine Kultur der psychologischen Sicherheit der zentrale Bestandteil effektiver Teamarbeit. Und effektive Teamarbeit ist das wichtigste Instrument, um erfolgreich mit einem dynamischen und komplexen Umfeld umzugehen. Dadurch entsteht nicht nur der sichere Raum, den wir alle brauchen. Psychologische Sicherheit fördert auch die Innovationskraft, die essenziell ist, um mit der Dynamik unserer Zeit Schritt zu halten. Zudem bildet eine vertrauensvolle Zusammenarbeit die Basis für eine offene Fehlerkultur, die dazu führt, dass Fehler frühzeitig erkannt und behoben werden können – bevor sie größere Schäden anrichten. Nicht zuletzt steigert eine Kultur des Vertrauens das Wohlbefinden und die Gesundheit der Mitarbeitenden.

Wie erkennt man psychologische Sicherheit?

In meiner Arbeit als Beraterin werde ich oft gefragt, wie ich das Maß an psychologischer Sicherheit in einem Team oder einer Organisationseinheit einschätze. Kann man psychologische Sicherheit erkennen? Für mich gibt es vier zentrale Bereiche, die ich bei einer solchen Einschätzung besonders betrachte:

  1. Offenheit
    Ist es erlaubt, Fehler zu machen? Wird bei Problemen nach Schuldigen gesucht oder nach gemeinsamen Lösungen? Dürfen der Status quo hinterfragt und neue Ideen eingebracht werden?

  2. Konfliktkultur
    Werden Konflikte vermieden, weil sie als negativ wahrgenommen werden? Oder werden sie als Chance für Weiterentwicklung und Diskurs gesehen?

  3. Respekt
    Wird den Unterschieden im Team mit Respekt begegnet?

  4. Lernkultur
    Entwickelt sich das Team gemeinsam weiter – aus Fehlern oder externen Impulsen?

Wie entsteht psychologische Sicherheit?

Eine weitere häufige Frage in meiner Zusammenarbeit mit Führungskräften ist: „Wie kann man psychologische Sicherheit schaffen?“

Die Wahrheit ist: Psychologische Sicherheit kann man nicht mit Maßnahmen A, B, und C initiieren. Sie lässt sich nicht einfach „erschaffen“. Aber es ist möglich, Rahmenbedingungen zu gestalten, die ihre Entstehung fördern. Hier tragen Führungskräfte eine besondere Verantwortung, denn ihr Verhalten beeinflusst das Sicherheitsgefühl der Mitarbeitenden direkt. In stürmischen Zeiten blicken Teams auf die Führung – auf ihre „Kapitänin“ oder ihren „Kapitän“.

Wenn ich an meine Zeit als Flugbegleiterin zurückdenke, kenne ich dieses Gefühl nur zu gut. Es gab Kapitäne, denen ich ohne Zögern in jeden Sturm gefolgt wäre – und ich war damit nicht allein. Die Strahlkraft guter Führung kann ein ganzes Team prägen, besonders in herausfordernden Situationen. Schon damals habe ich mich gefragt, was genau diese Führungspersönlichkeiten auszeichnete und was mich so bedingungslos vertrauen ließ.

Mit Blick auf die Gestaltung psychologisch sicherer Teamkulturen sehe ich acht zentrale Handlungsfelder, die ich gerne mit euch teilen möchte:

Acht Handlungsfelder für Führungskräfte

  1. Vorbildfunktion der Führungskraft
    Offenheit zeigen: Eigene Fehler und Unsicherheiten zugeben.
    Empathie leben: Zuhören, auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden eingehen.
    Respekt vorleben: Wertschätzend auf andere Meinungen reagieren.

  2. Fehlerkultur etablieren
    Fehler als Lernchancen betrachten, statt Schuld zuzuweisen.
    Offen und ehrlich über Herausforderungen und Schwächen kommunizieren.
    Eine „Blame Culture“ vermeiden.

  3. Kommunikationsregeln festlegen
    Aktives Zuhören sicherstellen: Jedes Teammitglied fühlt sich gehört.
    Eine konstruktive Feedback-Kultur etablieren.

  4. Vertrauen aufbauen
    Verlässlichkeit, Integrität und Diskretion vorleben.

  5. Diversität wertschätzen
    Unterschiedliche Perspektiven fördern.
    Konflikte als Chance für Wachstum sehen.

  6. Gemeinsame Ziele und Werte betonen
    Werte aktiv vorleben, nicht nur in Leitbilder schreiben.

  7. Raum für Fragen und Ideen schaffen
    Formate schaffen, in denen Meinungen und Ideen offen geteilt werden können.
    Experimentierfreude fördern.

  8. Regelmäßige Reflexionen
    Zeiträume für Meta-Gespräche über Zusammenarbeit, Erfolge und Misserfolge schaffen.

Psychologische Sicherheit zu etablieren ist ein fortlaufender Prozess. Eine Kultur des Vertrauens erfordert Pflege, und Führungskräften kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Doch auch die Teammitglieder tragen Verantwortung – sowohl als Individuen als auch als Gemeinschaft.

In einer Zeit voller Dynamik und Komplexität ist eine Kultur des Vertrauens überlebenswichtig. Ohne sie droht eine Kultur der Angst, die Innovation und Zusammenarbeit lähmt und letztlich den Erfolg von Organisationen gefährdet.

In zwei Wochen werde ich euch ein Beispiel aus der Luftfahrt mitbringen, um die Bedeutung von psychologischer Sicherheit in High-Performing-Teams noch greifbarer zu machen.

Bis dahin freue ich mich auf meinen letzten Einsatz als Human-Factors-Trainerin in der Luftfahrt und auf zwei wunderbare Tage in Maastricht, wo ich erneut an der wirtschaftspsychologischen Fakultät der Universität einen Workshop für Master-Studierende leite. Beide Veranstaltungen stehen ganz im Zeichen psychologisch sicherer Teamkulturen.

Eure Constance

Safety First!

Je stürmischer die See, desto wichtiger das Gefühl, dass da im Notfall ein Rettungsring ist.

Ich bin OK, du bist OK! -Echt jetzt? Warum Leader eben keine Coaches sind

Mit viereckigen Augen und Mausarm…

Puh, will ich wirklich noch einen Blog schreiben? Ich sitze schon das ganze Wochenende an der Abschlussarbeit für eine meiner Ausbildungen. Die Abgabe rückt bedrohlich nah ans Hier und Jetzt! Meine Augen sind langsam viereckig und ich befürchte ich bekomme einen Mausarm! Aber ja, ich will unbedingt einen Blog schreiben. Immerhin habe ich seit Freitag sogar ein aktuelles Thema aus der Praxis. Eine Kollegin hat mich um einen Rat gebeten, der eigentlich schnell gegeben war. Interessant war jedoch das größere Thema dahinter, das ich heute gerne mit euch teilen möchte.

Also mal von vorne:

Leader as Coach - leichter gesagt als getan

Meine Kollegin hat mir in einem gemeinsamen Termin von einem jungen Mann erzählt, clever und motiviert und seit kurzen auch in einer Art fachlicher Führungsverantwortung. Sein Team mache ihm zu schaffen. Sie seien alle ausgesprochen Problemorientiert, würden alle Lösungsansätze sofort mit neuen Problemen abschmettern und arbeiteten so stetig weiter an dem was wir Coaches Problemtrance nennen. Schuld sind die anderen und Lösungen gibt es nicht. In Terminen, in denen besprochen werden sollte wie es weiter gehen soll werde fast ausschließlich darüber gesprochen, wie es eben nicht weitergehe und wer oder was daran schuld sei. Einig sei man sich vor allem darin, dass man nichts tun könne.

Klar, so könne man nicht arbeiten und der junge, motivierte Kollege komme allmählich an seine Grenzen. Er habe schon alles versucht, auch über Fragestellungen habe er versucht sie zum Perspektivwechsel anzuregen. Hört sich toll für mich an, ganz so wie man es als gute Führungskraft tun sollte. “Leader as Coach” oder “Managerial Coaching” nennen sich die Führungsseminare in welchen man lernt coachend zu führen. Ich merke jedoch an Beispielen wie unserem jungen Mann immer und immer wieder, dass in diesen Seminaren häufig etwas ganz Entscheidendes vergessen wird, ohne dass ich all diese wunderbaren Tools nicht nutzen kann: die systemische und ressourcenorientierte Grundhaltung, ohne die ich selbst mit den besten Fragetechniken nicht wirksam coachen kann. - Und deren Grenzen für Führungskräfte!

Haltung und Wirkung

Der Kerngedanke der systemisch-konstruktivistischen Haltung ist so viel mehr als das vielfach zitierte “Ich bin OK, du bist OK!”. Es geht im Kern darum die Realität meines Gegenübers achtungsvoll und wertschätzend anzuerkennen. Ist mein Gegenüber, wie im Fall des beschriebenen Teams, gerade in einem starken Problemempfinden, nimmt mein Gegenüber sich gerade als Opfer wahr, gilt es das zunächst einmal vollumfänglich anzuerkennen. Wer bin ich, dass ich die Realität anderer Menschen in Frage stelle? So wie ich in einer Situation vielleicht nur und ausschließlich Chancen und Möglichkeiten sehe, kann ein anderer in eben dieser Situation nur Probleme und Grenzen sehen. Die absolute Wahrheit liegt unter Umständen irgendwo dazwischen. Ein Coach nutzt systemischen Frage niemals um sein Gegenüber von seiner Sicht der Dinge zu überzeugen. Auch eine Führungskraft sollte das nicht tun und dabei glauben er oder sie sei eine coachende Führungskraft. In diesen Momenten versucht er oder sie schlicht und ergreifend zu manipulieren. -Aus nachvollziehbaren Beweggründen! Trotzdem ist das kein coachender Führungsansatz!

Auch glaube ich als systemischer Coach oder Berater daran, dass alle Menschen um mich herum alle Fähigkeiten und Ressourcen in sich tragen um eigenverantwortlich eine für sie passende Lösung zu finden. Daran glaubt übrigens auch die gute alte Agilität! Agile Strukturen bauen ihr Haus auf das Fundament dieses Menschenbildes. Auf die Suche nach dieser Lösung machen sich die Menschen übrigens dann, wenn der für sie richtige Zeitpunkt gekommen ist. Das kann in Organisationen zuweilen schwierig werden.

Ja, als Führungskraft kann man sich mit einer solchen Grundhaltung ganz schön aufgeschmissen fühlen. Was ist, wenn sie nie aufhören zu jammern? Was ist, wenn der richtige Zeitpunkt für sie niemals kommt? Was ist, wenn ich meine Ziele deshalb nicht erreiche? Besonders für Führungskräfte in dieser berühmten Sandwich-Position kann das ganz schnell zu einem 1A Dilemma werden. Und trotzdem bleibe ich dabei, dass eben diese Haltung eine Voraussetzung für modern Führung ist um Menschen erfolgreich zu motivieren und den Rahmen zu schaffen, den sie benötigen um ihr Bestes zum Vorschein zu bringen. -Obgleich diese Haltung für Führende auch gewissen Grenzen haben sollte. Dazu gleich mehr.

Wie es in der Praxis funktionieren kann… -Aber nicht muss!

Transferieren wir diesen Ansatz nun konsequent in die Situation mit unserem jungen Kollegen, dann würde ich ihn ganz konkret empfehlen, bei der nächsten Problemtrance-Sitzung nicht wieder mit der Tür ins Haus zu fallen und mit den gut gemeinten positiv-manipulativen Fragen dagegen zu feuern! Auch das beste Ansinnen kann Druck auslösen und Druck verursacht immer Gegendruck. -Energieerhaltungsgesetz! Die Naturwissenschaft hat dieses Phänomen verstanden. In der “Menschen-Wissenschaft” hinken wir da manchmal noch etwas hinterher und wundern uns, dass wir tagein, tagaus für unwillkürlichen Widerstand sorgen, sogenannte Reaktanz Reaktionen hervorrufen. Wir meinen es doch nur gut.

Ich würde unseren jungen Mann dazu ermuntern, den Schmerz der Kollegen für einen kurzen Moment zu spüren, ihre Hilflosigkeit und ihr Opferempfinden wahrzunehmen und wertzuschätzen. Für sie ist alles das real, echt und unmittelbar. Hierbei sage ich natürlich nicht “Oh ja, ihr habt recht, das ist ja alles hoffnungslos und doof!”. Ebenso wenig wie ich das Recht auf objektive Wahrheit habe, haben es die anderen. Vielmehr würde ich es in etwa so ausdrücken: “So wie ihr das beschreibt, kann ich total verstehen, dass ihr euch soundso fühlt. An eurer Stelle wäre ich sicher auch ratlos und vielleicht auch wütend und frustriert.”

Nach einer kurzen Pause würde ich Fragen wie wir denn nun als Team mit unseren Vorgaben, Zielen und Aufgaben mit dieser Situation umgehen sollen. Wahrscheinlich würde ich dafür erneuten Widerstand ernten. Ich würde erneut meine Ratlosigkeit mitteilen und aus dieser Hilflosigkeit das gute alte Oper-Gestalter-Modell einführen. Zum genauen Inhalt des Modells habe ich bereits den ein oder anderen Blog verfasst, weil ich dieses Modell für ein absolutes Basismodell im organisationalen Kontext halte. Blättert also gerne zurück für einen kurzen Recap!

Mit Hilfe des Modells würde ich gemeinsam mit dem Team schauen, ob sich in all dem negativen Dilemma nicht doch die ein oder andere Kleinigkeit finden lässt, die in unserer Hand liegen, die wir gestalten können, bei der wir nicht Opfer sind, um so in kleinen Schritten Angebote für einen Perspektivwandel zu machen. Häufig wirkt diese sanfte Methode besser und nachhaltiger, als offensiv zu propagieren, dass man das auch alles positiv sehen könnte…

Doch alles hat seine Grenzen - Warum Leader eben keine Coaches sind!

Als Coach höre ich auf, wenn ich merke, dass Menschen ihre Perspektiven und ihr Verhalten partout nicht ändern wollen. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich und Coaching ohne Auftrag ist Stalking. Als Coach mache ich Angebote, nicht mehr und nicht weniger. Als Führungskraft sind mir hier Grenzen gesetzt, da ich auf die Ergebnisse meines Teams angewiesen bin. Deshalb können Führungskräfte bei aller Liebe eben auch nicht nur als Coaches unterwegs sein. Als Führungskraft bin ich selbstverständlich auch immer ein Performance Manager. Wenn ich als Performance Manager feststelle, dass einzelne Menschen oder ganze Gruppen von Menschen negativ, passiv, vielleicht sogar destruktiv durchs Berufsleben gehen, versuche ich es natürlich zunächst mit einem coachenden Ansatz. Ich versuche es mit Verständnis, Unterstützungsnageboten, einem offenen Ohr, mehr Verständnis und allem was dazu gehört. Zeigt das jedoch keine Wirkung muss ich klare und deutliche Worte finden, um so durch eine extrinsische Motivation zum Verhaltens- oder Perspektivwandel anzuregen. Natürlich kann ich auch als Führungskraft Menschen nicht zu etwas zwingen, das sie nicht wollen. Es liegt aber definitiv in der Verantwortung von Führenden auf die möglichen Auswirkungen dieses Verhaltens hinzuweisen, damit die Betroffenen noch einmal einen kleinen Preis-Leistungs-Check für sich machen können. Fruchtet auch das nicht sollte ich mir Gedanken machen, welche Auswirkungen das Verhalten einzelner auf Teamdynamiken oder ganze Organisationen hat und ob ich das hinnehmen kann.

So stößt das gute alten “Du bist OK, ich bin OK!” in Organisation selbstverständlich an seine Grenzen, denn in Organisationen geht es nicht um ich und du, sondern um wir und wir bedeutet immer auch Kompromiss. Zusätzlich stecken hinter dem Wir in Wirtschaftsorganisationen mit Gewinnorientierung immer auch messbare Ziele, die es zu bedienen gilt. Das heißt nicht nur das Wir, sondern auch das Ich im Wir sollte eine Leistung erbringen, die in angemessener Form auf diese Ziele einzahlt.

Habt einen schönen Sonntag. Ich freu mich jetzt auf ein hoffentlich tolle Spiel unsere Frauen-Nationalmannschaft und einen zweiten Kaffee, bevor ich weiter an meiner Arbeit schreibe.

Eure Constance

Leader as Coach

„Ich sehe dich! Ich nehme dich wahr! Ich bewerte oder relativiere nicht was ich wahrnehmen. Denn so ist deine Welt wenn ich sie durch deine Linse betrachte.“

Führung in Extremsituationen - Agilität an ihren Grenzen?

Agilität - Allheilmittel für alle Fälle?

Agilität und agile Führung oder Servant Leadership sind absolute Trendthemen unserer Zeit. Beides wird nur zu gerne als Allheilmittel für diese so gnadenlose, unbeständige, dynamische und komplexe VUKA-Welt beschrieben. Aber wie viel VUKA darf es denn sein, bis die Ansätze von Agilität und agiler Führung gegebenenfalls an ihre Grenzen kommen, weil eine Situation zu dynamisch wird und am Ende eben doch einer die Verantwortung übernehmen muss?

In der Grundidee von Agilität geht man davon aus, in einem Umfeld navigieren zu müssen, das von hoher Unsicherheit, Komplexität und Dynamik geprägt ist. Auch jede Extremsituation oder Krise ist geprägt von Unsicherheit, Komplexität und Dynamik. Man denke nur an Corona, eine weltweite Extremsituation, die man so noch nie zuvor erlebt hat. Wenn Agilität und agile Führung nun bedeutet, sich flexibel und schnell auf eine neue Situation einzustellen um folglich auch entsprechend schnell zu handeln, dann ist ein agiles Mindset tatsächlich eine Grundvoraussetzung, um in Extremsituationen überhaupt erfolgreich führen zu können. Wer in einer solchen Situation nicht flexibel reagiert und führt, indem er darauf vertraut, dass alle Mitarbeiter eigenverantwortlich, in Teams mit einem hohen Grad an Selbstorganisation reagieren, wird vermutlich scheitern. Die sozialistische Planwirtschaft des Topdown-Managements ist hier zum Scheitern verurteilt.

Agilität an ihren Grenzen

Allerdings erreichen Teams in extremen Situationen oder Krisen häufig sehr schnell die Grenzen der Selbstorganisation. Tobt der Sturm so heftig, dass er droht die Segel zu zerreißen, agieren selbstorganisierte Teams wahrscheinlich zu zögerlich. Was es in dieser Situation braucht sind klare Ansagen und Leitplanken, so wie Handlungsanweisungen und jemanden, der Verantwortung übernimmt. Eigentlich passt das ja überhaupt nicht in die schöne bunte Welt der Agilität. Auf der anderen Seite finde ich, dass es sehr wohl zur Grundidee von Agilität und Servant Leadership passt: Führung fällt situativ dem zu, der die besten Voraussetzungen, Kompetenzen oder die meiste Erfahrung für die jeweilige Situation mitbringt. In einer Studie zu High Performance Teams der TU Chemnitz wird diese Form von Führung als transformational bezeichnet und darf getrost als einer der Schlüssel zu High Performance gesehen werden. Eine der wichtigsten Voraussetzungen hierfür ist jedoch, dass Zuständigkeiten klar geregelt sind. Als Beispiel hierfür führt die Studie der TU Chemnitz unter anderem die Luftrettung an. Hier agieren Teams unterschiedlicher Experten gemeinsam innerhalb eines gesetzten Rahmens. Jeder hat seinen Fachbereich und es ist völlig klar wer den fliegerischen Hut auf hat, wer den medizinischen und wer die größte Kompetenz im Bereich der Rettungstechnik hat. Je nachdem, um was es gerade geht, wechselt die Führung in diesen Teams von einem zum anderen. Zusätzlich hat das Team gemeinsame Regeln, Vorschriften und Anweisungen.

Ein weiterer Aspekt, der Agilität in Extremsituationen an ihre Grenzen bringen kann, ist der Umstand, dass in agilen Umfeldern gerne bis zum Exzess gepredigt wird, dass es darum geht, immer und stets kreativ zu sein, Neues auszuprobieren, Experimente zu wagen, nicht auf bereits ausgetretenen Pfaden zu wandeln und sich stetig neu zu erfinden. Das ist großartig und dafür liebe ich die Idee der Agilität! Allerdings ist es in Extremsituationen und Krisen sinnvoll ein bereits trainiertes und jederzeit abrufbares Handlungsrepertoire zu haben, das einen schnell reagieren lässt, ohne große Denkprozesse. - Quasi eine Art erste Hilfe, die einem die Luft verschafft, um in zweiten Schritt schließlich kreativ sein zu können. Der Wert von Routinen, die Ruhe und Sicherheit im Zustand höchster Dynamik und Komplexität bringen, wird in agilen Strukturen noch häufig unterschätzt. Oft sind es diese Routinen oder auch einfach nur eine klare und bereits im Vorfeld festgelegte Priorisierung, die uns in besonderen Stresssituationen die kognitive Kapazität verschaffen, damit letzten Endes dann doch etwas Großartiges rauskommt.

Flugzeuge und agile Krisen

Ich muss gestehen, dass ich bei meiner Reise durch die Welt von New Work und Agilität immer und immer wieder daran erinnert werde, wo ich her komme und natürlich mache ich immer wieder den agilen Kardinalsfehler (und zwar mit voller Absicht, weil ich es für absolut richtig halte): ich vergleiche, stelle Parallelen fest, schaue mir an, wie man seit Jahrzehnten in der Luftfahrt Dynamik und Komplexität managt, Teams strukturiert und in die Eigenverantwortung und Selbstorganisation führt und natürlich auch, wie Führung in der Luftfahrt geschult und wahrgenommen wird. Natürlich ist die Definition von Erfolg in der Luftfahrt ganz anders als in einer Bank. Aber VUKA ist genau so dynamisch und komplex wie es Flugzeuge sind, die ziemlich flott auf 10 Kilometer Höhe um die Welt düsen! Hinzu kommt, dass sich in diesen Flugzeugen selbstorganisierte Teams befinden, die auf sich gestellt sind, agieren und entscheiden müssen und auch die Art der Führung, wie sie in der Luftfahrt geschult wird, ist nicht wirklich weit weg von dem, was man in agilen Strukturen Servant Leadership nennt. In flachen Hierarchien ist sich der Kapitän jederzeit bewusst, dass seine wertvollste Ressource seine Crew ist, weil einer alleine diese Komplexität der fliegenden Blechdosen niemals überblicken kann. Ein Kapitän ist darauf angewiesen, dass jedes Crewmitglied ein hohes Maß an Eigenverantwortung spürt und wahrnimmt (nennt man Neuhochdeutsch ja gerne Self-Leadership), sich dabei aber jederzeit als Teil eines Teams sieht und sich bewusst darüber ist, dass es in erster Linie immer um den Erfolg des Teams geht und nicht darum, sich selbst zu profilieren.

Ja, Flugzeuge sind anders als Banken und Erfolg sieht in beiden Bereichen ausgesprochen unterschiedlich aus. Aber die Faktoren auf menschlicher Ebene, die eine Organisation erfolgreich machen, sind überall die gleichen und ich stelle fest, dass ich in meiner agilen Welt vieles versuche noch klarer und deutlicher zu implementieren, dass ich auch als Human Faktors Trainer in der Luftfahrt immer wieder gepredigt habe: klare Priorisierung, absolute Transparenz, eine Kultur der psychologischen Sicherheit und eine Führung, die sich vor allem auch darum kümmert, dass das Team bestmögliche Voraussetzungen hat, um Leistung zu erbringen. Hierbei habe ich bereits in den ersten Monaten meiner agilen Reise festgestellt, dass auch agile Teams Leitplanken benötigen und dass man alles das, was sich standardisieren lässt, auch standardisieren und automatisieren sollten. Denn wenn plötzlich ein wirklich wilder Sturm zu toben beginnt, sind es die Automatismen, alles das, worüber wir nicht nachdenken müssen, was uns die kognitive Kapazität gibt, um in Krisensituationen kreativ agieren zu können.

Und Führungspersönlichkeiten braucht es überall

Und wie viel Führung braucht es denn nun in der agilen Welt? Diese Diskussion zwischen Alignment und Autonomy ist allgegenwärtig und was soll man einer Führungskraft, die gerne Servant Leader sein möchte, raten? Nicht einfach! Wobei, eigentlich doch! Wenn der Wind ganz sanft weht und dabei warm die Nase kitzelt, dann läuft der Laden, dann braucht dein Team niemanden, der ihnen sagt, was zu tun ist. Im sanften, warmen Wind fühlt dein Team sich sicher, agiert routiniert und ist dankbar für den Raum, den du ihm lässt. Wird aus dem Wind ein Sturm, wird die Unsicherheit immer größer, liegen die Dinge anders. Wenn ich nicht mehr weiß, was in dieser unbekannten, dynamischen und vielleicht sogar beängstigenden Situation richtig und falsch ist, suche ich förmlich nach Führung. Lieber Servant Leader, in deiner Berufsbezeichnung steht nicht nur Servant, sondern auch Leader und wenn eine steife Brise anfängt dein Team durcheinanderzuwirbeln, dann ist Führung gefragt. Dann geht es darum, mit deinem Team und für dein Team Strukturen zu schaffen, Prioritäten zu setzen und vielleicht sogar mal darum, zu sagen, wie die Segel zu setzen sind. Keine Angst, das ist nicht “un-agil”. Agil ist zu sehen, was es wann braucht und entsprechend situativ zu agieren. Einen besseren Dienst am Team gibt es nicht! Also nur Mut, lieber Servant Leader!

Bei mir weht übrigens gerade gar kein Wind. Dafür scheint die Sonne und ich gehe wandern! Habt einen schönen Sonntag!

Eure Constance

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Die Ruhe vor dem Sturm?

Manchmal braucht es einen Kapitän auf der Brücke und keinen Kammerdiener