Führung

Der Shruggie - agiles Denken 2.0, oder wenn Coaches loslassen müssen

Weil loslassen in der Praxis doch schwerer ist, als in der Theorie

Es gibt Tage, an denen bin ich ausgesprochen froh, keine eigenen Kinder zu haben! Nicht der Anstrengung und der Sorgen wegen, sondern weil ich manchmal glaube, dass ich keine einfache Mutter wäre… Etwas, das Mütter ab dem Moment, in dem ihr Kind auf der Welt ist, leisten müssen, damit das liebe Kleine im späteren Leben gute Chance hat, erfolgreich durch diese wilde Welt zu navigieren, ist Schritt für Schritt loslassen. Das geht damit los, dass das Baby seine Flasche allein halten kann (und auch will!), irgendwann kann es alleine zur Toilette und schwupps ist es ausgezogen und macht sein eigenes Ding. Bis dahin begleitet Mama das liebe Kleine nach Kräften und coached es durch alle Herausforderung, die so anstehen, vom Streit im Kindergarten, über den ersten Liebeskummer, bis hin zur ach so schweren Berufswahl. Dabei sollte es die oberste Prämisse einer verantwortungsvollen Mutter sein, sich Schritt für Schritt überflüssig zu machen, sich quasi selbst abzuschaffen. Und was soll ich euch sagen, genauso verhält es sich auch mit meiner Vorstellung eines guten Coaches. Da ich mich natürlich in aller Bescheidenheit für einen guten Coach halte, stehe ich gegenwärtig einmal wieder kurz davor mich selbst abgeschafft zu haben. Das macht mich stolz und wehmütig zugleich. Das Team, das sich mir anvertraut hat, wird sehr bald ohne mich durch diese manchmal doch recht feindselige Welt navigieren und ganz unter uns und im Vertrauen: da ist ein Teil von mir der sehr gerne noch ein wenig klammern würde, weil es doch grade so einen Spaß macht! Aber nein, Mutti lässt jetzt los! Vorgestern habe ich eine letzte gemeinsame Retrospektive, also dieses Meeting, in dem man sich anschaut, wie die Zusammenarbeit läuft und ob man etwas verbessern oder verändern möchte, vorbereitet und natürlich habe ich mir in der Vorbereitung ausführlich Gedanken darüber gemacht, was ich diesem Team noch mitgebe. Es hat sich so eingebürgert, dass wir die Retros dieses Teams immer mit einem Zitat beenden, das ich mitbringe. -Manchmal etwas Lustiges und manchmal auch etwas, das zu Nachdenken anregen soll. Diesmal wird es ein Zitat sein, das der gute alte Sherlock Holmes seinem Dr. Watson zugeflüstert hat und das meine ganz persönliche Grundidee agilen Denkens vortrefflich zusammenfasst:

We all learn by experience and your lesson this time is that you should never lose sight of the alternative.

Weil unsere schöne neue Welt aus Alternativen besteht

Warum ich glaube, dass es genau diese Offenheit für Alternativen ist, die die Grundlage der Agilität sein soll? Ganz einfach: der Mensch ist über viele, viele Jahrhunderte hinweg sehr gut damit gefahren, überall Muster zu entdecken, das was er wahrnimmt, in vorgefertigte Schubladen einzuordnen, daraus feste Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, Kausalitäten astrein zu identifizieren und sich so durch eine sehr klare und eindeutige Welt zu schlagen. Unser ganzes Denken und Handeln ist auf eine solche Welt abgestimmt. Fakt ist jedoch, dass die Welt sich immer weiterentwickelt hat und gegenwärtig weit davon entfernt ist, eindeutig und überschaubar zu sein. In der Wirtschaftspsychologie wird diese Welt gerne als “VUKA” bezeichnet: ein Umfeld, das von hoher Dynamik, extremer Komplexität, Unübersichtlichkeit, Widersprüchlichkeit und Wissenslücken geprägt ist. Hält der Mensch in dieser Welt am altbekannten Kontrolldenken fest, steckt Wahrgenommenes in Schubladen und glaubt Kausalitäten 1A identifiziert zu haben, wird es schwierig, denn diese Art des Denkens passt einfach nicht mehr. In komplexen und dynamischen Situationen daran festzuhalten, ist nicht hilfreich. Eigentlich sogar im Gegenteil: zum einen geraten wir unter Kontrollstress, weil wir auf der Suche nach den alten Schubladen und den klaren Kausalitäten fast verzweifelt immer mehr Informationen sammeln, die uns jedoch nicht weiterbringen. Viel mehr verunsichern sie uns nur weiter und führen schließlich zu totaler Orientierungslosigkeit. Zum anderen führt das stakkato-artige Festhalten an diesem alten Kontrolldenken besonders in Situationen, die subjektiv empfunden von einem Informationsdefizit geprägt sind, nicht selten zu fatalen Fehleinschätzungen. Hierbei kann es dann dazu kommen, dass wir einzelne uns zur Verfügung stehende Fakten überbewerten (wie zum Beispiel die eher seltenen Nebenwirkungen einer generell sinnvollen und auch gut kontrollierten Impfung) und somit zu Panik und Hysterie neigen. Weil dieses altbewährte Kontrolldenken einfach nicht mehr funktioniert, haben Verschwörungstheorien und Fake News Hochkonjunktur!

Was hilft, ist möglichst viel Perspektiven und Alternativen in Betracht zu ziehen, um eine für sich bestmögliche Entscheidung zu treffen. Wichtig hierbei ist, dass keiner von uns das objektive Richtige oder Falsche kennt. Vielmehr ist es so, dass wir in einer Welt des “Vielleicht” leben.

Wer weiß was ein Shruggie ist?

Ich gebe zu, ich musste mich bei Menschen, die deutlich jünger sind als ich, danach erkundigen, wie dieses Emoji, das mit breit geöffneten Armen die Schultern zu den Ohren zieht, heißt! Shruggie eben. Und dieses Shruggie spiegelt für mich agiles Denken, eine agiles Mindset geradezu vortrefflich wider! Ja, ich sehe eure ungläubigen Blicke, aber ich versuche mich zu erklären und fange einfach mal bei den altgriechischen Anhängern der philosophischen Schule der Skeptiker an. Ihr seht, nachdem ich zweimal einfach nur über Träume geschrieben habe, wird es heut fast intellektuell! Also, die alten Skeptiker: ebenso wie Menschen mit agilem Mindset beschäftigen sie sich mit der sogenannten Erkenntnis der Dinge. Das heißt in “nicht-philosophisch”, dass sie sich nicht festlegen, welcher ihrer Gedanken der Wirklichkeit entspricht. Alles ist möglich und alles ist denkbar. Deshalb rechnen Skeptiker jederzeit mit starken Gegenargumenten, oder einer radikalen Veränderung der Gesamtsituation. Dadurch ist es fast unmöglich, den Skeptiker zu überraschen. Skeptiker verirren sich nicht, weil sie sich nicht festlegen. Vielmehr rechnen sie sogar damit, falsch liegen zu können. Unglaublich, wie wertvoll die Perspektiven und Meinungen anderer für Skeptiker sein müssen! Und wieviel innere Stabilität man dadurch erlangt, dass man weiß, dass man sich nicht irren kann, weil man sich eben nicht festlegt! Ja, alles ist möglich!

Die moderne Form dieser skeptischen Neutralität ist der Shruggie. Er steht stabil mitten im Chaos, ist sich nicht sicher, aber das ist OK für ihn, denn weder die sich stetig verändernde Welt, noch die gegensätzliche Meinung seines Gegenübers kann ihn aus der Ruhe bringen, weil beides elementare Teile seiner Welt sind. Nicht falsch verstehen, dem Shruggie ist seine Welt nicht egal! Ganz und gar nicht! Der Shruggie hat verstanden, dass er selbst in dieser Welt des Wandels sein wichtigster Anker ist! -Und zwar nicht, in dem er sich auf unveränderliche Meinungen und Aussagen festlegt, sondern indem er sich seiner Welt wertneutral und mit unendlich viel Offenheit zuwendet und dabei stetig Neues lernt und sich weiterentwickelt! Der Shruggie ist diese lernende Ich-AG, von der ich euch vor einigen Wochen berichtet habe. Die einzig wahre Antwort auf VUKA!

Ein Team voller Shruggies

Während ich meine Retro für dieses Team, das seine Wege zukünftig sicher höchst erfolgreich ohne mich gehen wird, vorbereitet habe, war es ein ziemlich guter Trost für mich, dass ich hier eine Gruppe von Shruggies zurücklasse, die gemeinsam ausgesprochen erfolgreich sein werden, weil sie so unterschiedlich sind und diese Unterschiedlichkeit wertfrei zum Wohle des Teams nutzen können. Deshalb wird die Mutti, äh sorry, der Coach nächste Woche nach der Retro auch nicht wehmütig sein, sondern total stolz! Mission complete! Und natürlich wird der Coach parallel auch daran arbeiten, selbst ein noch besserer Shruggie zu werden!

Eure Constance

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Alles ist möglich

Mein Leben als weltoffener Shruggie…

Teams mit Dysfunktionen? -Vielleicht auch nur ein Spiegel arroganter Coaches?

Dysfunktion hier, Dysfunktion dort…

All jenen unter euch, die meine Artikel in den letzten Wochen gelesen haben, geht es vielleicht wie mir. Vielleicht könnt ihr das Wort Dysfunktionen auch nicht mehr hören. Was soll das überhaupt, einem Team zu unterstellen, es sei dysfunktional? Und woher kommt dieser Ansatz der fünf Dysfunktionen überhaupt? Interessanterweise entspringt die Ausformulierung tatsächlich der Kultur der sogenannten New Work, genauer gesagt der agilen Welt des Scrum. Unmengen agiler Coaches und Scrum Master referieren (so wie ich in den letzten beiden Wochen) darüber, wie wir die fünf Dysfunktionen bei (Scrum) Teams identifizieren können und welche Maßnahmen zu ergreifen sind , um die jeweiligen Dysfunktionalität auszumerzen.

So weit so gut und das ist ja auch alles fachlich und inhaltlich richtig. Ich habe mich in den letzten Wochen jedoch immer wieder gefragt, warum ich mir mit dieser sachlichen Beschreibung so schwertue. Nach reiflicher Überlegung muss ich einfach zugeben, dass ich am Ende des Tages wohl doch ein ressourcenorientierter Human Factors Trainer und Consultant bin. Der Agile Coach bin ich wohl nur nebenbei. Mein Herz schlägt anders. Wie ich darauf komme? Mir gefällt es nicht, Dysfunktionen an Menschen oder in Teams zu identifizieren und daran zu arbeiten. Ich sage es mal ganz frei nach der von mir so häufig genannten Harvard Professorin Amy C. Edmondson: Kein Mensch steht morgens auf und fährt zur Arbeit, weil er es nicht abwarten kann, dysfunktional zu agieren. In Wirklichkeit ist es doch viel mehr so, dass die allermeisten von uns morgens aufstehen und sich fest vornehmen, ihr Bestes zu geben. Dass dabei nicht immer alles glatt läuft, ist jedem von uns klar. Manchmal ist es sogar strukturell bedingt, aber eines ist es eben immer: menschlich. Verunsicherung und Konfliktvermeidung sind etwas zu tiefst Menschliches und keine Dysfunktion. Vielmehr sehe ich es so, dass dieses normale, menschliche Verhalten, das wir alle mal mehr und mal weniger ausgeprägt an den Tag legen, in unserer neuen, modernen, komplexen und dynamischen Welt die Performance (die individuelle, die eines Teams und auch die einer gesamten Organisation) beeinträchtigen. Dysfunktional ist in diesem Kontext bestenfalls unser Umfeld, unsere Welt, die sich auf geradezu absurde Weise immer schneller zu drehen scheint und an die es sich anzupassen gilt.

Warum ich mir so sehr gewünscht habe, in einem agilen Umfeld zu arbeiten

Als meine Wut auf all diese großen und ruhmreichen Agilisten, die Bücher schreiben und Vorträge halten, wieder ein wenig verraucht war, habe ich mich schließlich gefragt, warum ich denn eigentlich unbedingt in ein agiles Umfeld wollte. Dass ich momentan hauptberuflich als Agile Coach in einer großen Bank arbeiten darf, war ein Traum, der sich über Jahre hinweg in mir entwickelt hat. Dieser Traum hat als absolutes Fundament mein Menschenbild und meine Idee von der Bedeutung des Faktors Mensch in modernen Organisationsstrukturen. Nach vielen Jahren als Human Factors Trainer wurden mir diesbezüglich zwei Dinge glasklar:

  1. Der Mensch ist der absolute Schlüssel zum Erfolg all unserer Systeme!

  2. Menschen machen Fehler, ja! Aber sie tun das nicht, weil sie sich dazu entschieden haben. Vielmehr will jeder von uns zu jeder Zeit sein Bestes geben, sich einbringen und zum Erfolg eines Teams oder einer Organisation beitragen.

Natürlich resultiert aus diesen beiden Feststellungen zwangsläufig die Frage, was Menschen denn dann brauchen, um all ihr Potenzial nutzen zu können. Die Antwort ist ebenso profan wie sie kompliziert ist. Menschen brauchen Vertrauen und Gestaltungsraum. Ja, hört sich einfach an, aber findet das mal in klassischen Wirtschaftsorganisationen, in denen der Chef den Mitarbeitern Boni bietet, weil er denkt, dass sie sonst auf keinen Fall volle Leistung erbringen und gleichzeitig nimmt er ihnen so ziemlich alle Gestaltungsmöglichkeiten, gibt strenge Rahmenbedingungen vor und glaubt noch immer, dass Druck ein gutes Mittel zur Leistungssteigerung sei. Ich habe mir lange vorgestellt, wie eine Organisation aussehen müsste, die genau das anders macht, wie Führung aussehen könnte, die anders vorgeht, Raum lässt und Vertrauen schenkt. Alles das hat mich in die Welt agiler Strukturen eintauchen lassen und ich war irgendwie selig. Alles hat so viel Sinn ergeben: dieser Fokus auf selbst-organisierten Teams und dieser dienenden Führung, die man Neu-Hochdeutsch ja als Servant Leadership bezeichnet, hat mich in den Bann gezogen. Hier habe ich mein Menschenbild wiedergefunden. Die Grundidee aller Agilität liegt meiner Meinung nach darin, dass man den Menschen als kompetent, leistungsbereit, eigenverantwortlich und positiv sieht und ihm deshalb eben auch zutraut, dass er sich selbst im Team bestmöglich organisieren kann, dass er selbst klug genug ist, um sich die für ihn passenden Voraussetzungen für High Performance zu schaffen und vor allem, dass der Mensch nicht kontrolliert werden muss und keine Karotten braucht, die man ihm wie einem Esel vor die Nase hängt, damit er schneller rennt.

Und nach dem Träumen kommt natürlich immer die Realität

Es war dieser Traum, der mir den Mut gegeben hat, mein Leben komplett auf links zu drehen und mich dieser neuen Welt und einem ganz anderen Leben zu stellen. Nach 21 Jahren Flugzeuge im Bauch und Kerosin im Blut plötzlich in einer Bank! Das war und ist verrückt. Nichtsdestotrotz hat mein Traum mir ausreichend Rückenwind gegeben und jetzt stehe ich hier, nach einem halben Jahr als Agile Coach eigentlich noch recht grün hinter den Ohren aber eben auch nicht blind und taub! Um zu lernen habe ich mich natürlich sehr intensiv umgeschaut, in der schönen neuen Welt der Agilität. Ich habe unendlich viele Blogs anderer Coaches gelesen, Bücher, Publikationen, etc. Ich habe viele tolle neue Anregungen und Ideen gefunden, die ich zum Teil auch schon mit meinen Teams umsetze. Ich durfte über Kanban und OKRs lernen, die Struktur eines Obeya kennenlernen und alles das sind tolle Tools und eigentlich finde ich auch mein Menschenbild darin wieder… Eigentlich! Denn parallel musste ich lernen, dass Coaches über Dysfunktionen schreiben und aus einer Perspektive, die ich persönlich gefährlich Arrogant finde, Teams oder Strukturen beurteilen und glauben es gebe Tools und Frameworks, die nach “Schema F” einzuführen sind und schon läuft der Laden! Aber weder Scrum, noch Kanban ist eine Lösung! Die Lösung liegt immer in den Menschen selbst, auch im agilen Coaching! -Sorry Leute, ist eben so! Eine anständige Portion Systemik schadet nicht, wenn ich High Performance Teams und Organisationen schaffen möchte!

Was bleibt ist die Frage der inneren Haltung

Worüber ich mich freue, ist dass ich als Agile Coach frei bin, meinen Ansatz so zu wählen, wie er zu mir passt und wie ich am besten arbeiten kann. Und ich verspreche hoch und heilig NIEMALS mit einem meiner Teams an deren Dysfunktionen zu arbeiten. Meine Teams haben keine Dysfunktionen! Ich schau mir an, worin meine Teams gut sind und worin sie besser werden können, möchten oder vielleicht sogar müssen. Am Ende streben wir doch alle nach High Performance und brauchen immer mal wieder einen Coach, der uns dabei hilft, unsere eigene Performance zu verbessern, was nicht bedeutet, dass wir deshalb schlecht sind. Wir sind immer so gut wie wir sein können. Als systemischer Coach und auch im NLP bekommt man diese innere Haltung ausführlich eingeimpft, weil es anders nicht läuft. Jeder Agile Coach der nicht nur einen guten, sondern einen sehr guten Job machen möchte, ist, so denke ich, sicher gut beraten, sich hinsichtlich seiner eigenen inneren Haltung zu reflektieren. Und diese innere Haltung zeigt sich eben auch in der Perspektive, die wie einnehmen: sehe ich Defizite (und arbeite deshalb mit den fünf Dysfunktionen) oder sehe ich Entwicklungsräume (und orientiere mich deshalb vielleicht aus den Merkmalen der H!PE Formel für High Performance Teams der TU Chemnitz). Inhaltlich ist beides richtig. Es ist nur die innere Haltung, die den Unterschied macht! -Übrigens auch bei euch und in anderen Zusammenhängen!

So! Das musste ich mal sagen!

Habt einen zauberhaft sonnigen Sonntag.

Eure Constance

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alte Karren mit multiplen Dysfunktionen?

-Oder Autos mit dem Potenzial etwas besonderes zu sein?

Warum es ohne Konflikte niemals zu High Performance kommt

Die zweite Dysfunktion (agiler) Teams: Angst vor Konflikten

All jene unter euch, die meinen Blog regelmäßig lesen, erinnern sich sicher noch daran, dass ich in der letzten Woche die fünf großen Dysfunktionen agiler Teams vorgestellt habe. Während ich mich in der letzten Woche schließlich auf die erste Dysfunktion, den Mangel an Vertrauen, fokussiert habe, weil diese Dysfunktion für mich so etwas wie die Mutter aller Dysfunktionen ist, möchte ich mich in dieser Woche mit der zweiten Dysfunktion, der Angst vor Konflikten, auseinandersetzen. Diese Dysfunktion steht völlig zurecht auf Platz zwei der Liste, da ohne Konfliktfähigkeit, das heißt ohne die Fähigkeit, Konflikte auszutragen, keine High Performance entstehen kann. Warum? Weil man ohne, dass man sich über unterschiedliche Meinungen und Ansichten auszutauschen, diesen wertvollen Input nicht zum Wohle des Teams nutzen kann. Oder wie Winston Churchill es ausgedrückt hat: “Wenn zwei Menschen immer die gleiche Meinung haben, ist einer von beiden überflüssig.” Ferner ist es so, dass ohne offene Auseinandersetzungen schwelende Konflikte im Team nicht aufgearbeitet und gelöst werden können. Ist das der Fall, wie soll man in einem Team blind zusammenarbeiten? Wie soll ich voller Vertrauen und auf meine Arbeit fokussiert Höchstleistung erbringen, wenn persönliche Bedürfnisse nicht eingebracht werden können, unterschiedliche Sichtweisen nicht ausgetauscht werden und Ärger übereinander einfach heruntergeschluckt wird? Richtig, gar nicht! All diese “rosa Elefanten” halten mich mal mehr und mal weniger von dem ab, was ich eigentlich tun sollte.

Merkmale von Teams mit Konfliktangst

Wissend, dass eine angemessene Konfliktkultur nun wichtig für die Performance eines Teams ist, stellt sich nun die Frage, woran ich als Vorgesetzter, Teamleiter, (Agile) Coach, Scrum Master, Product Owner, etc. merken kann, dass mein Team durch mangelnde Konfliktfähigkeit in seiner Performance gehemmt wird? Ich erzähle euch mal, wann ich als Agile Coach hellhörig werde:

  1. Taktieren hinter dem Rücken der Betroffenen stehen an der Tagesordnung: zum Beispiel werden in Einzelgesprächen mit mir als Coach, mit den Scrum Master, dem Product Owner oder dem Vorgesetzten Probleme benannt, die in Teamgesprächen jedoch nicht erwähnt werden. Insgesamt wird häufig übereinander gesprochen und der Flurfunk läuft sehr hochfrequent.

  2. Meetings sind eher langweilig und formal: eigentlich belanglose oder untergeordnete Themen werden in epischer Breite besprochen, ohne jedoch des Pudels Kern zu benennen und insgesamt wird am liebsten über rein formale Themen gesprochen. Persönliches und Zwischenmenschliches hat keinen Platz.

  3. Kontroverse Themen, die wichtig für den Erfolg des Teams sind, werden weitestgehend ignoriert: kontroverse Themen werden nur in Einzelgesprächen benannt, in Meetings und der täglichen Arbeit jedoch ausgeblendet. Auch wichtige Entscheidungen werden gerne so lange ignoriert, bis sie jemand anderes für das Team trifft (hier gerne der Chef, der Scrum Master, der Product Owner). Selbstverständlich werden die getroffenen Entscheidungen anschließend ausführlich diskutiert und in Frage gestellt. Es versteht sich von selbst, dass das nicht offen, sondern hinterm Rücken getan wird!

  4. Unterschiedliche Meinungen oder Perspektiven werden kaum gehört. Lieber wird geschwiegen.

  5. Die einzelnen Teammitglieder verbringen viel Zeit mit zwischenmenschlicher Absicherung und persönlicher Selbstdarstellung: in Meetings werden vor allem Erfolge und unkritische Themen hervorgehoben. Positive Aspekte werden gerne als persönliche Erfolge verkauft, während für negative Aspekte gerne schon im Vorfeld Ausreden und Entschuldigungen zurechtgelegt werden.

Und? Habt ihr etwas wiedererkannt?

Ich muss gestehen, wenn ich derartige Listen runtertippe, bekomme ich ein ums andere Mal Gänsehaut, weil ich natürlich das ein oder andere wiedererkenne. Mal habe ich es in Teams erlebt, mal habe ich es sogar selbst getan. Die Wahrheit ist nämlich, dass wir Menschen alle so aufgestellt sind, dass wir Konflikte tendenziell nicht toll finden und würden wir vorher gefragt werden, ob wir diesen oder jenen Konflikt haben möchte, würden wir diese Frage sicher klar mit Nein beantworten. Wir alle müssen unseren inneren Schweinehund überwinden, um potenziell konfliktträchtige Themen zu benennen. Jedoch ist den meisten von uns sicher klar, dass genau das nicht nur im privaten, sondern auch im beruflichen immanent wichtig ist, um erfolgreich zu sein. Schaffen es ganze Teams nicht, ihre inneren Schweinehunde zu überwinden und baden dafür lieber in einer oberflächlichen Harmonie, hat das nicht nur negativen Einfluss auf die Produktivität dieses Teams, sondern auch auf die Kreativität und Innovationskraft. Als Führungskraft, Product Owner, Scrum Master oder eben auch als (Agile) Coach muss ich hier aktiv werden.

Was kann man denn schon tun, als Coach oder Führungskraft

In so einer Situation ist guter Rat natürlich teuer und glaubt mir, auch für eine Coach und Mediator wird das niemals zur Routine, also zu mindestens nicht für mich. Steht ein konkreter, unausgesprochener Konflikt im Raum, muss dieser gelöst werden, eh er die Atmosphäre nachhaltig schädigt. Der Profi hierfür ist der Mediator und auch Coaches sind durchaus in der Lage, ein entsprechendes klärendes Gespräch zu moderieren. Liebe Führungskraft, wenn du dich mir einer derartigen Situation überfordert fühlst, ist das absolut OK, wahrscheinlich ist es sogar normal. Hol dir Hilfe!

Ist das akute Problem aus der Welt geschafft, empfehle ich einen Workshop, der im ersten Schritt aufzeigt, woher unterschiedliche Meinungen und Perspektiven kommen und warum es gerade diese Unterschiedlichkeit ist, die Teams besonders erfolgreich machen. Im zweiten Schritt empfiehlt es sich, den Workshop-Teilnehmern konkrete Tools rund um das Thema Kommunikation, Konfliktmanagement und Feedback mitzugeben. Zu meinem Repertoire gehört hierbei natürlich Schulz von Thun, die Konflikteskalation nach Glasl, das Harvard Prinzip, gegebenenfalls Gewaltfreie Kommunikation, auf jeden Fall aber das Drei-Welten-Modell von Bernd Schmitt und das WWW-Prinzip als Struktur für ein Feedback. Über alles habe ich im Rahmen meines Blogs bereits berichtet. Also blättere gerne zurück!

Darüber hinaus ist es wichtig, im Anschluss an den Workshop für Nachhaltigkeit zu sorgen. Als Coach ist es sinnvoll, mit besonders konfliktscheuen, ruhigen oder unsicheren Mitarbeiter das Einzelgespräch zu suchen. Für das gesamte Team empfehle ich regelmäßige Debriefings oder Retrospektiven, in denen die Zusammenarbeit besprochen wird. Derartige Termine sind gute Möglichkeiten für Coaches, potenzielle unausgesprochenes durch strategisch kluge Moderation ans Tageslicht zu befördern. Je häufiger die Kollegen die Erfahrung machen, dass Meinungsverschiedenheiten kein Drama sind, sondern mit Team gelöst werden können, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass der Coach als Moderator nicht mehr benötig wird! Tja, gute Coaches schaffen sich mit der Zeit eben leider selbst ab!

In diesem Sinne wünsche ich euch einen schönen Sonntag! Genießt den Sommer! Wir haben lange genug auf ihn gewartet!

Eure Constance

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Ran an die anderen Meinungen!

Kopf in den Sand oder Augen verschließen ist niemals hilfreich…