Unternehmenskultur

Sicherheit und Vertrauen in Phasen der Veränderung - Psychological Safety in a Nutshell

Halt in haltlosen Zeiten

In den letzten Wochen habe ich immer wieder mit Führungskräften und Führungsteams gearbeitet, die ein zentrales Thema beschäftigt: Veränderungen überholen sich gegenseitig. Die Dynamik hat auf allen Ebenen stark zugenommen. Führungskräfte fragen sich zunehmend, wie sie ihre Teams oder Organisationen mitnehmen und „bei Laune“ halten können. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass viele von ihnen die Sorgen und Ängste ihrer Mitarbeitenden nicht nur nachvollziehen können, sondern oft selbst spüren. Denn was bei all diesen Veränderungen häufig auf der Strecke bleibt, ist das Gefühl von Sicherheit.

Was braucht es also, um in einer scheinbar unberechenbaren Welt aktiv, erfolgreich und zielorientiert zu agieren? Es braucht sichere Räume, aus denen heraus man sich den Herausforderungen des Lebens stellen und in die man sich immer wieder zurückziehen kann. Solche sicheren Räume sind auch im beruflichen Kontext unverzichtbar. Die Suche nach diesen führt mich zu einem meiner Lieblingsthemen: psychologische Sicherheit. Diese sicheren Räume, die uns mutig, kreativ und leistungsfähig machen und uns helfen, äußere Veränderungen zu bewältigen, finden wir im Arbeitsumfeld vor allem in unseren Teams – in den Menschen, mit denen wir direkt zusammenarbeiten.

Mir ist aufgefallen, dass ich schon viel zu lange nicht mehr über dieses wichtige Thema geschrieben habe. Es ist also höchste Zeit!

Psychological Safety in a Nutshell

Psychologische Sicherheit beschreibt ein Klima innerhalb einer Gruppe oder eines Teams, in dem sich die Mitglieder sicher fühlen, ihre Meinung zu äußern, Ideen zu teilen, Fehler zuzugeben und Bedenken anzusprechen – ohne Angst vor negativen Konsequenzen wie Zurückweisung, Bloßstellung oder Bestrafung. Der Begriff und das dahinterstehende Konzept wurden vor allem durch die Arbeit der Harvard-Professorin Amy C. Edmondson geprägt.

Laut Edmondsons aktueller Forschung ist eine Kultur der psychologischen Sicherheit der zentrale Bestandteil effektiver Teamarbeit. Und effektive Teamarbeit ist das wichtigste Instrument, um erfolgreich mit einem dynamischen und komplexen Umfeld umzugehen. Dadurch entsteht nicht nur der sichere Raum, den wir alle brauchen. Psychologische Sicherheit fördert auch die Innovationskraft, die essenziell ist, um mit der Dynamik unserer Zeit Schritt zu halten. Zudem bildet eine vertrauensvolle Zusammenarbeit die Basis für eine offene Fehlerkultur, die dazu führt, dass Fehler frühzeitig erkannt und behoben werden können – bevor sie größere Schäden anrichten. Nicht zuletzt steigert eine Kultur des Vertrauens das Wohlbefinden und die Gesundheit der Mitarbeitenden.

Wie erkennt man psychologische Sicherheit?

In meiner Arbeit als Beraterin werde ich oft gefragt, wie ich das Maß an psychologischer Sicherheit in einem Team oder einer Organisationseinheit einschätze. Kann man psychologische Sicherheit erkennen? Für mich gibt es vier zentrale Bereiche, die ich bei einer solchen Einschätzung besonders betrachte:

  1. Offenheit
    Ist es erlaubt, Fehler zu machen? Wird bei Problemen nach Schuldigen gesucht oder nach gemeinsamen Lösungen? Dürfen der Status quo hinterfragt und neue Ideen eingebracht werden?

  2. Konfliktkultur
    Werden Konflikte vermieden, weil sie als negativ wahrgenommen werden? Oder werden sie als Chance für Weiterentwicklung und Diskurs gesehen?

  3. Respekt
    Wird den Unterschieden im Team mit Respekt begegnet?

  4. Lernkultur
    Entwickelt sich das Team gemeinsam weiter – aus Fehlern oder externen Impulsen?

Wie entsteht psychologische Sicherheit?

Eine weitere häufige Frage in meiner Zusammenarbeit mit Führungskräften ist: „Wie kann man psychologische Sicherheit schaffen?“

Die Wahrheit ist: Psychologische Sicherheit kann man nicht mit Maßnahmen A, B, und C initiieren. Sie lässt sich nicht einfach „erschaffen“. Aber es ist möglich, Rahmenbedingungen zu gestalten, die ihre Entstehung fördern. Hier tragen Führungskräfte eine besondere Verantwortung, denn ihr Verhalten beeinflusst das Sicherheitsgefühl der Mitarbeitenden direkt. In stürmischen Zeiten blicken Teams auf die Führung – auf ihre „Kapitänin“ oder ihren „Kapitän“.

Wenn ich an meine Zeit als Flugbegleiterin zurückdenke, kenne ich dieses Gefühl nur zu gut. Es gab Kapitäne, denen ich ohne Zögern in jeden Sturm gefolgt wäre – und ich war damit nicht allein. Die Strahlkraft guter Führung kann ein ganzes Team prägen, besonders in herausfordernden Situationen. Schon damals habe ich mich gefragt, was genau diese Führungspersönlichkeiten auszeichnete und was mich so bedingungslos vertrauen ließ.

Mit Blick auf die Gestaltung psychologisch sicherer Teamkulturen sehe ich acht zentrale Handlungsfelder, die ich gerne mit euch teilen möchte:

Acht Handlungsfelder für Führungskräfte

  1. Vorbildfunktion der Führungskraft
    Offenheit zeigen: Eigene Fehler und Unsicherheiten zugeben.
    Empathie leben: Zuhören, auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden eingehen.
    Respekt vorleben: Wertschätzend auf andere Meinungen reagieren.

  2. Fehlerkultur etablieren
    Fehler als Lernchancen betrachten, statt Schuld zuzuweisen.
    Offen und ehrlich über Herausforderungen und Schwächen kommunizieren.
    Eine „Blame Culture“ vermeiden.

  3. Kommunikationsregeln festlegen
    Aktives Zuhören sicherstellen: Jedes Teammitglied fühlt sich gehört.
    Eine konstruktive Feedback-Kultur etablieren.

  4. Vertrauen aufbauen
    Verlässlichkeit, Integrität und Diskretion vorleben.

  5. Diversität wertschätzen
    Unterschiedliche Perspektiven fördern.
    Konflikte als Chance für Wachstum sehen.

  6. Gemeinsame Ziele und Werte betonen
    Werte aktiv vorleben, nicht nur in Leitbilder schreiben.

  7. Raum für Fragen und Ideen schaffen
    Formate schaffen, in denen Meinungen und Ideen offen geteilt werden können.
    Experimentierfreude fördern.

  8. Regelmäßige Reflexionen
    Zeiträume für Meta-Gespräche über Zusammenarbeit, Erfolge und Misserfolge schaffen.

Psychologische Sicherheit zu etablieren ist ein fortlaufender Prozess. Eine Kultur des Vertrauens erfordert Pflege, und Führungskräften kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Doch auch die Teammitglieder tragen Verantwortung – sowohl als Individuen als auch als Gemeinschaft.

In einer Zeit voller Dynamik und Komplexität ist eine Kultur des Vertrauens überlebenswichtig. Ohne sie droht eine Kultur der Angst, die Innovation und Zusammenarbeit lähmt und letztlich den Erfolg von Organisationen gefährdet.

In zwei Wochen werde ich euch ein Beispiel aus der Luftfahrt mitbringen, um die Bedeutung von psychologischer Sicherheit in High-Performing-Teams noch greifbarer zu machen.

Bis dahin freue ich mich auf meinen letzten Einsatz als Human-Factors-Trainerin in der Luftfahrt und auf zwei wunderbare Tage in Maastricht, wo ich erneut an der wirtschaftspsychologischen Fakultät der Universität einen Workshop für Master-Studierende leite. Beide Veranstaltungen stehen ganz im Zeichen psychologisch sicherer Teamkulturen.

Eure Constance

Safety First!

Je stürmischer die See, desto wichtiger das Gefühl, dass da im Notfall ein Rettungsring ist.

Warum Flugzeuge abstürzen... - Wie Kultur Unternehmensziele unterstützen kann

Die Unfallserie der Korean Airline - Pech? - Mangelhafte Ausbildung? - Veraltete Flugzeuge? - Oder doch etwas ganz anderes?

In den achtziger und neunziger Jahren galt die Korean Air als die Airline weltweit mit den schlechtesten Safety Records, oder etwas reißerisch ausgedrückt als die gefährlichste Airline der Welt. Diese Feststellung speiste sich aus der Tatsache, dass es die Fluggesellschaft seit ihrer Gründung 1962 unter ihren verschiedenen Namen auf sage und schreibe 17 Totalverluste von Flugzeugen gebracht hat. Bei zehn dieser Unfälle kamen insgesamt über 700 Menschen ums Leben. Unter den verlorenen Fliegern waren auch einige Frachtflugzeuge ohne Passagiere und bei einigen der Unglücke konnten es die Passagiere lebend aus den verunglückten Maschinen schaffen. Selbstverständlich wurde akribisch recherchiert welche Ursachen es für die unterschiedlichen Unfälle gab. Hierbei ist eine Art Ursachenhäufung in den Achtzigern und Neunzigern von besonderem Interesse für mich, sowohl in meiner Rolle als Human Factors Trainer in der Luftfahrt, als auch in meiner Rolle als Business Coach und Consultant.

Als sich die Ermittler auf die Suche nach der Ursache für diese Unfälle machten, standen sie immer wieder vor einem Rätsel. Die Piloten waren alle samt gut ausgebildet, erfahren und erfreuten sich bester Gesundheit und auch die Flugzeugtechnik wies keine Mängel auf, die einen Totalverlust rechtfertigten. So suchten die Ermittler weiter und wurden schließlich beim Abhören der Cockpit Voice Records, also der aufgezeichneten Kommunikation im Cockpit, fündig. Was auffiel, war, dass es in der Kommunikation zwischen den Piloten ein interessantes Muster gab.

Denn Kommunikation ist immer Teil des Problems

Bei Analyse der Kommunikation im Cockpit fiel auf, dass die Ersten Offiziere (oder Co-Piloten) ihre Kapitäne niemals direkt und klar ansprachen, selbst wenn sie sehen konnten, dass die Kapitäne glasklare Fehler machten. Vielmehr wählten sie eine Art “Mitigated Speech” (abgeschwächte Sprache), um das Thema zu platzieren. - Wahrscheinlich damit sie den Vorgesetzten nicht verärgerten oder gar bloßstellten. Anstatt augenscheinliche Probleme wie zum Beispiel eine vereiste Tragfläche direkt anzusprechen, wählten die Ersten Offiziere verklausulierte Aussagen oder Andeutungen wie: “Es könnte vielleicht ein Problem mit den Tragflächen geben. Unter Umständen wäre es eine gute Idee sich das einmal anzuschauen und zu prüfen.”

Insbesondere Menschen mit einem hohen Grad an Empathie und Nähebedürfniss neigen dazu in einen “Mitigated Speech” fallen, was sich ganz wunderbar auf die Beziehungseben auswirken kann. Im beruflichen Kontext, wo es häufig um faktenbasierte Entscheidungsfindungen geht, ist diese Form der Rhetorik jedoch selten hilfreich. In diesem Kontext ist zu beobachten, dass diese beziehungsorientierte Form des Sprechens deutlich häufiger in Organisationen mit besonders steiler Hierarchie auftritt.

Zurück in das Cockpit der Korean Air: Der Erste Offizier schlägt also ganz unverbindlich vor doch mal vielleicht unter Umständen und ganz ohne Druck darüber nachzudenken, sich die Tragflächen anzuschauen und der Kapitän sagt nein, mache er nicht, weil er es nicht für notwendig erachte…

Die Unfähigkeit zu sprechen

Jeder Pilot, eigentlich überhaupt jeder, weiß, dass Eis auf den Tragflächen lebensgefährlich ist, weil es sich ausgesprochen ungünstig auf die Aerodynamik eines Flugzeuges auswirkt. Deshalb könnten man meinen, dass der Erste Offizier in unserem Fall etwas vehementer werden müsste, da er sich ja ebenfalls in der Maschine befindet und wir unterstellen, dass er seines Lebens nicht überdrüssig ist. In unserem Beispiel sagt er einfach nichts und verliert sein Leben.

Einen vergleichbaren Vorfall hat es bei der Korean Air Cargo tatsächlich gegeben, in dem der Erste Offizier den Fehler des Kapitäns deutlich gesehen hat, ihm klar war wie man den Flieger hätte vor einem Unfall bewahren können und trotzdem stirbt er lieber, als den Kapitän zu korrigieren.

Um diese Reaktion nachvollziehen zu können ist es wichtig zu verstehen, dass das kulturelle Miteinander im Cockpit der Korean Air Flugzeuge ein Abbild der koreanischen Kultur war, in der Hierarchie und Machtpositionen eine elementare Rolle spielten und zum Teil auch bis heute noch spielen. Der Respekt vor hierarchisch höhergestellten Menschen oder Autoritäten war und ist ausgesprochen groß. Auf die Zusammenarbeit im Cockpit hatte das die Auswirkung, dass Erste Offiziere nicht wie in der Branche üblich Redundanzen und Partner auf Augenhöhe darstellten, sondern reine Befehlsempfänger waren. Der Kapitän hatte die uneingeschränkte Hoheit und das absolute Kommando. Man weiß von Berichten darüber, dass es zu dieser Zeit nicht unüblich war, dass Kapitäne ihre Ersten Offiziere sogar körperlich attackierten, wenn diese einen Fehler machten.

Die Theorie der kulturellen Dimensionen

Es gibt viele Theorien und Ansätze, die das Phänomen Kultur erklären und erläutern. Ein Modell, das ich im Kontext meines heutigen Themas besonders interessant finde, ist das Modell der Kulturdimensionen nach Geert Hofstede. Im Rahmen dieses Modells geht es darum insbesondere kulturelle Unterschiedlichkeit messbar zu machen. In diesem Zusammenhang führt Hofstede sechs Ebenen an, an Hand derer er diese Unterschiedlichkeit messbar oder greifbar machen kann: Genuss und Beschränkung, Kurzzeit- und Langzeitorientierung. Unsicherheitsvermeidung, Maskulinität und Femininität , Kollektivismus und Individualismus und schließlich die Ebene, die in der Betrachtung unserer Piloten besonders interessant ist: die Ebene der Machtdistanz. Hierfür hat Hofstede den sogenannten Power Distanz Index (PDI) oder Machtdistanzindex entwickelt, der wiedergibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit Menschen in einem bestimmten Land gegen Autoritäten aufbegehren. In Ländern mit niedrigem PDI fühlen sich Menschen sicher(er) Machthaber in Frage zu stellen. In Ländern mit hohem PDI wird das aufbegehren gegen Autoritäten (egal ob im beruflichen oder privaten Kontext) schwerer und schwerer bis hin zu unmöglich.

Einen besonders niedrigen PDI findet man laut Hofstede in den USA, den skandinavischen Ländern und in Deutschland. Südkorea hingegen hatte in den 1980er Jahren den zweithöchsten PDI der Welt. Die ersten Offiziere in der Reihen von Unfällen der Korean Air waren durch kulturelle Umstände und Regeln wie gelähmt. Sie konnten schlicht und ergreifend nicht aufbegehren.

Herkunftskultur vs. Unternehmenskultur

Nachdem die Gutachten der Unfallermittler veröffentlicht waren mussten sich die Verantwortlichen bei Korean Air natürlich die Frage stellen, wie sie mit diesen faktischen Aussagen als Unternehmen umgehen möchten. Zunächst wurde Englisch als verbindliche Sprache im Cockpit eingeführt, da Englisch deutlich weniger hierarchisch ist, als Koreanisch. Außerdem wurden und werden immer wieder Piloten aus anderen Ländern eingestellt um die herkunftskulturelle Prägung der Pilotenschaft bei Korean Air aufzubrechen. So hat sich Korean Air bewusst eine Unternehmenskultur geschaffen, die von der originären Kultur in Südkorea abweicht. Dieser eingeschlagene Weg der Fluggesellschaft scheint von Erfolg gekrönt zu sein. Seit 1999 gab es bei Korean Air keinen ähnlich gelagerten nennenswerten Zwischenfall mehr.

Betrachte ich mir diese Zusammenhänge in meiner Rolle als Business Coach und Consultant wird es mir noch einmal bewusst, wie wichtig es für Organisationen oder Unternehmen ist, sich die Kulturfrage zu stellen und die eigene Kultur bewusst zu gestalten. Die Frage danach, wofür ich als Organisation meine Kultur nutzen möchte, oder was das Ziel meiner ganz individuellen Unternehmenskultur ist, sollte hierbei im Fokus stehen. Ist das Ziel klar lässt sich schließlich definieren mit welchen Maßnahmen man auf dieses Ziel hinarbeiten kann. Korean Air ist für mich ein ganz wunderbar greifbares Beispiel aus der Luftfahrt, um zu belegen, dass bewusst gesteuerter unternehmenskultureller Wandel möglich ist. Schaue ich auf die Welt jenseits der Flugzeuge fällt mir direkt Nokia ein. Auch hier musste Unternehmenskultur bewusst und gesteuert verändert werden, um eine wirtschaftliche Schieflage zu korrigieren.

In meiner Rolle als Mitarbeiterin stellt sich für mich natürlich auch die zusätzliche Frage, welchen Machtdistanzindex ich in meinem Unternehmen und selbstverständlich auch in meinem Team vermuten würde und ob das so für mich passt, oder ob ich ihn verändern würde, wenn ich dazu in der Lage wäre. Vielleicht geht es euch ja ähnlich. Also fühlt euch eingeladen, darüber bei einer Tasse Kaffee am Sonntagmorgen nachzudenken, wenn ihr möchtet! - Und lasst mir gerne ein Feedback zu euren Erkenntnissen da.

Eure Constance

Hoch hinaus

Es geht nur mit der passenden gemeinsamen Basis, mit den oft ungeschriebenen Regeln des Miteinanders, das wir als Kultur bezeichnen. Sie macht uns als als Gemeinschaft entweder unendlich stark oder sehr verwundbar.

Gemeinsam in den Abgrund - Wenn der Konflikt ins Unermessliche eskaliert...

Die Konflikteskalation nach Friedrich Glasl

Ich finde Konflikte ausgesprochen faszinierend. Nicht erst seit meiner Ausbildung zum Mediator. Mich haben Konflikte schon immer in ihren Bann gezogen. Ich finde Konflikte unglaublich spannend und beschäftige mich gerne mit ihnen. Wahrscheinlich werden sich einige nun denken, ich sei sonderbar. Recht haben sie! Denn ja, auch ich finde (meine eigenen) Konflikte bei aller Faszination nicht toll. Im Gegenteil. Trotzdem, oder vielleicht auch deshalb, hat mich die Thematik gefangen: Ich kenne niemanden, der Konflikte im ersten Moment toll findet. Es sagt auch kaum jemand “Ja, gerne!”, wenn ich frage, ob sie/er Lust auf einen Konflikt haben. So scheint sich also die Mehrheit der Menschheit einig darin, dass Konflikte doof sind und ich frage mich, weshalb wir uns alle dennoch immer und immer wieder auf sie einlassen, mitmachen und sie voran treiben! Genau dieser Widerspruch macht meine Faszination aus. Sie sind allgegenwärtig und überall, obgleich sie doch niemand zu sich einlädt. Böse Zungen könnten sagen, wir brauchen sie förmlich. Ich antworte darauf “Nein, auf keinen Fall!” und schaue mir dabei zu, wie ich mich selbst in den nächsten Konflikt hineinmanövriere…

Sie sind eben elementarer Teil unseres Miteinanders, obwohl sie nicht erwünscht sind. Hinzukommt, dass sie immer und immer wieder gleich ablaufen. Das heißt, theoretisch könnten wir sie auch immer und immer wieder mit den gleichen Mitteln im Keim ersticken oder sie lösen, bevor sie total eskalieren. Und doch tun wir es nicht!

Neun Stufen in den Abgrund

Der österreichische Konflikt- und Friedensforscher Friedrich Glasl hat nach ausgiebiger Analyse diese Gleichförmigkeit von Konflikten in einer neunstufigen der Eskalation beschrieben, die ich zunächst kurz für all jene, die sich damit bislang noch nicht beschäftigt haben, zusammenfassen möchte:

  1. Es wird kälter: Jeder kennt dieses Gefühl. Man merkt, dass etwas nicht stimmt. Es gibt Spannungen und Sticheleien, kein wirklicher Streit, aber genug, um sich unwohl zu fühlen.

  2. Debatten und Polarisation: Kurzgefasst; es wird diskutiert und debattiert, wann immer es geht. Meist ohne des Pudels Kern zu benennen. Die jeweils anderen werden dabei langsam zum Gegner.

  3. Taten statt Worte: Jetzt geht es darum, die jeweils anderen konkret unter Druck zu setzen. Im Arbeitsumfeld könnte das bedeuten, die anderen vielleicht einfach mal zu vergessen, sie in einer wichtigen Mail nicht anzukopieren. Soll passieren, habe ich gehört! Ups!

  4. Jeder soll sehen, dass der andere der Schuft ist: Natürlich geht es darum, Allianzen zu knüpfen, Unterstützung und Verbündete zu finden. Klar, wenn mir noch drei andere bestätigen, dass das Verhalten des anderen “gar nicht geht” wird meine subjektive Empfindung jetzt zur objektiven Wahrheit! Victory!

  5. Gesichtsverlust: Nun ist es erklärtes Ziel, die jeweils anderen moralisch zu entwerten. Es geht langsam aber sicher nicht mehr um das eigentliche Konfliktthema, sondern um die anderen als Person, um den Feind! Eine differenzierte Perspektive wird immer schwieriger.

  6. Drohstrategien: Mein Lieblingspunkt! Ja, wir Menschen drohen unglaublich gerne, weil wir glauben, dass die anderen tun, was wir wollen, wenn wir sie nur gehörig unter Druck setzen. Dass wir uns dabei immer selbst am meisten unter Druck setzen, merken wir meistens erst zu spät! Kurze Geschichte gefällig? Eine hochgeschätzte Trainerkollegin berichtet an dieser Stelle gerne von ihren beiden Söhnen, die nicht so gerne aufräumen. Das nervt Mama natürlich sehr. Mal wieder herrschte Chaos in den Kinderzimmern. Es war Wochenende, die ganze Familie freute sich auf ein Straßenfest. Mama freute sich am meisten, weil sie sich da mit Freundinnen zum Sektchen treffen wollte. Die unaufgeräumten Zimmer ihrer Jungs am Morgen erzürnte sie jedoch so sehr, dass sie sich zu folgendem Satz hinreißen ließ: “Wenn ihr das nicht sofort aufräumt, gehen wir nachher nicht auf das Straßenfest!”. Sie sprach es und bereute postwendend! Was, wenn die beiden nicht aufräumten? Dann würde sie selbst entweder ihre Freundinnen nicht zum Sektchen treffen können, oder sie würde ihre Autorität bis zur Volljährigkeit der beiden verspielen müssen… Ich bin mir sicher, jeder kann von ähnlich gelagerten Situationen berichten und trotzdem tun wir es immer wieder!

  7. Begrenzte Vernichtungsschläge: Ab hier gibt es langsam aber sicher kein Halten mehr. Man fängt an, eigene moralische Grenzen zu überschreiten, nur um dem anderen zu schaden.

  8. Zersplitterung: Jetzt geht es zusätzlich darum, die anderen zu isolieren, indem man ihre Netzwerke zu zerstören versucht. Dabei macht man sogar vor der Manipulation Dritter keinen Halt.

  9. Gemeinsam in den Abgrund: Nun ist schließlich der Punkt erreicht, an dem man selbst eigene Verluste billigend in Kauf nimmt, solange die anderen noch ein klitzekleines bisschen mehr verliert. Wer kennt den Film “Rosenkrieg”? Genau so!

Wie das Steuer herumreißen, wenn man sich bereits auf dem Weg in den Abgrund befindet?

Ich habe meine eigene rote Linie gezogen, wenn ich damit beginnen, mir Allianzen zu basteln. Spätestens hier nehme ich wahr, dass ich mich in der Konfliktspirale nach unten bewegen und versuche Möglichkeiten zu finden, gegenzusteuern. Hierbei ist die einfachste auch immer gleich die herausforderndste Lösung: Miteinander reden, anstatt übereinander.

Friedrich Glasl zieht seine rote Linie insbesondere auch in seiner Rolle als Friedensforscher nach Stufe sechs. Alles das, was in seiner Beschreibung der Eskalation von Konflikten jenseits von Drohungen folgt, ist aus seiner Sicht Teil des roten Bereichs. Was also tun, wenn ein Konflikt diesen Bereich erreicht hat. In meiner Mediationsausbildung war davon die Rede, dass es ab der Stufe sieben machtvolle Instanzen von außen braucht, um eine (rechtliche) Lösung herbeizuführen.

Frieden stiften in scheinbar auswegloser Situation

Vor einigen Woche hatte ich die tolle Möglichkeit, einer virtuellen Podiumsdiskussion zwischen Friedrich Glasl und Erich Visotsching, dem Vater des systemischen Konsensierens, beizuwohnen, in der es genau darum gehen sollte: Was tun, wenn Konflikte die rote Linie überschritten haben?

In Verlauf des Gesprächs hat Friedrich Glasl von seiner Arbeit im Rahmen der Befriedung des Nordirlandkonflikts und des Balkankrieges erzählt. Glasl hat berichtet, dass in diesen Konflikten alle rote Linien längst überschritten waren. Zu viel Blut sei bereits geflossen, zu viele Menschen haben ihr Leben verloren. Die Fronten waren verhärtet. Und dennoch, so erklärte Glasl ist eine Mediation, eine Vermittlung auch hier noch möglich. Glasl ist an dieser Stelle mit einer Frage eingestiegen, die ich auch schon häufig genutzt habe, und als paradoxe Intervention bezeichnen würde. Allerdings hat Glasl hierbei ein anderes Ziel verfolgt, als ich. Nun, er ist eben der Meister und ich noch Schülerin.

Was ist eine paradoxe Intervention? In diesem Kontext ist es die Frage danach, was passieren würde, wenn es jetzt immer weiter so ginge. In welche Richtung würde sich die Situation entwickeln? Wie genau würde die weitere Verschärfung des Konflikts aussehen? Soweit war ich bei Glasl. Es ist hilfreich, Menschen das Undenkbare denken und formulieren zu lassen, um sich eventuell eine neue Perspektive zu erarbeiten, eine Perspektive, die auch die Ebene der möglichen Auswirkungen mit einbezieht.

Im Gegensatz zu mir hat Glasl an dieser Stelle nicht aufgehört. Er wollte wissen, ab welchem Punkt der Preis der Eskalation zu hoch sei. Welche (gemeinsamen) roten Linie die Beteiligten sehen. Momentan könnte die Welt am Rand eines Atomkrieges stehen. Eine rote Linie, die beide Seiten nicht überschreiten möchten? Dieses aktuelle Beispiel hat er benannt.

Glasl hat beschrieben, dass hinter diesen roten Linien Werte stehen, in vielen Fällen sogar gemeinsame Werte bei unterschiedlichen Konfliktparteien. So ist es Glasl gelungen, in scheinbar ausweglos verfahrenen Konflikten Gemeinsamkeiten der beiden Konfliktparteien zu identifizieren und anhand dieser Gemeinsamkeiten an einer Lösung zu arbeiten. Was müssen wir tun und was können wir tun, um unser gemeinsames Worst-Case-Szenario zu verhindern?

Mit Liebe zu und Vertrauen in Menschen

Was mich besonders beeindruckt und begeistert hat, war, dass Glasl in seiner Arbeit für Frieden in unendlich tiefe menschliche Abgründe geschaut hat. Das war und ist Teil des Geschäfts. Er hat dabei seinen Glauben an die Menschen, mit denen er arbeitet, trotz allem nicht verloren. Er hat darauf vertraut, dass es den Konfliktparteien gelingt, innerhalb eines gesetzten Rahmens zueinander zu finden, um eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten, die zumindest besser ist als der Ist-Zustand.

Während ich Glasl, der inzwischen schon über 80 Jahre alt ist, so zuhörte und mir eigene Anwendungsmöglichkeiten für diese für mich neue Idee zurechtgelegt habe, kam ich nicht umhin, mich zu fragen, wie schön es wäre, wenn wir gemeinsam als Gesellschaft diesen Weg gehen könnten. Vielleicht bringt uns die EM in Deutschland wieder ein bisschen näher zusammen. Ein Sommermärchen? Ein Midsommernachtstraum? Vielleicht auch nicht. Ich erlebe ein tief gespaltenes, konfliktäres Land. In Mannheim wird ein junger Mann während der Arbeit erstochen, der nicht nur seine Arbeitskraft, sondern auch sein Leben in den Dienst unserer gesellschaftlichen Freiheit gestellt hat. Was ist da los in unserer Gesellschaft? Auf welcher Eskalationsstufe würde Glasl uns einordnen? Die einen brüllen nach dem Kalifat, während 20 % von uns, die deutsche Fußballnationalmannschaft, nicht weiß genug finden. Es werden Strommasten abgefackelt, weil man mit dem Geschäftsgebaren von Tesla nicht einverstanden ist. Die angebliche Elite zeigt zur Empörung einer ganzen Nation auf Sylt den Hitlergruß, während auf Dorfdiscos die Empörung ausbleibt. Als Lösungsangebot wird “L’amour tousjours” während der EM verboten und die Politik streitet sich weiterhin zu Weilen tief unter der Gürtellinie. Europa wählt und die ehemalige innerdeutsche Grenze wird in unseren Herzen wieder neu errichtet… Echt jetzt?

Vielleicht sollten wir alle uns mal gemeinsam überlegen, wo unsere gemeinsame gesellschaftliche Reise auf keinen Fall hingehen sollte, um dann gemeinsam einen Weg hin zu einem wünschenswerteren Miteinander zu beschreiten. -Jenseits von Gewalt und Polarisierung. Ein erster Schritt, basierend auf den Werten unserer Gemeinschaft und den Manifesten unseres Grundgesetzes, sollte sein, keine Toleranz mit Gewalt und Verfassungsfeindlichkeit (egal ob von links, rechts oder aus Richtung islamistischer Gruppierungen) zu üben. In meiner Welt darf man das Kalifat ebenso wenig fordern, wie ein Deutschland für (Bio-) Deutsche oder eine Nationalmannschaft, die unsere bunte Gesellschaft nicht widerspiegelt.

Ich wünsche uns allen ein wunderschönes, zauberhaftes Miteinander während dieses bunten Fußballsommers. Vielleicht tritt es ja ein, dieses Sommermärchen jenseits eines Titels!

Eure Constance

Und dann ziehen düstere Wolken auf

Was tun wenn der Konflikt ins scheinbar Uferlose eskaliert?