Skeptiker

Der Shruggie - agiles Denken 2.0, oder wenn Coaches loslassen müssen

Weil loslassen in der Praxis doch schwerer ist, als in der Theorie

Es gibt Tage, an denen bin ich ausgesprochen froh, keine eigenen Kinder zu haben! Nicht der Anstrengung und der Sorgen wegen, sondern weil ich manchmal glaube, dass ich keine einfache Mutter wäre… Etwas, das Mütter ab dem Moment, in dem ihr Kind auf der Welt ist, leisten müssen, damit das liebe Kleine im späteren Leben gute Chance hat, erfolgreich durch diese wilde Welt zu navigieren, ist Schritt für Schritt loslassen. Das geht damit los, dass das Baby seine Flasche allein halten kann (und auch will!), irgendwann kann es alleine zur Toilette und schwupps ist es ausgezogen und macht sein eigenes Ding. Bis dahin begleitet Mama das liebe Kleine nach Kräften und coached es durch alle Herausforderung, die so anstehen, vom Streit im Kindergarten, über den ersten Liebeskummer, bis hin zur ach so schweren Berufswahl. Dabei sollte es die oberste Prämisse einer verantwortungsvollen Mutter sein, sich Schritt für Schritt überflüssig zu machen, sich quasi selbst abzuschaffen. Und was soll ich euch sagen, genauso verhält es sich auch mit meiner Vorstellung eines guten Coaches. Da ich mich natürlich in aller Bescheidenheit für einen guten Coach halte, stehe ich gegenwärtig einmal wieder kurz davor mich selbst abgeschafft zu haben. Das macht mich stolz und wehmütig zugleich. Das Team, das sich mir anvertraut hat, wird sehr bald ohne mich durch diese manchmal doch recht feindselige Welt navigieren und ganz unter uns und im Vertrauen: da ist ein Teil von mir der sehr gerne noch ein wenig klammern würde, weil es doch grade so einen Spaß macht! Aber nein, Mutti lässt jetzt los! Vorgestern habe ich eine letzte gemeinsame Retrospektive, also dieses Meeting, in dem man sich anschaut, wie die Zusammenarbeit läuft und ob man etwas verbessern oder verändern möchte, vorbereitet und natürlich habe ich mir in der Vorbereitung ausführlich Gedanken darüber gemacht, was ich diesem Team noch mitgebe. Es hat sich so eingebürgert, dass wir die Retros dieses Teams immer mit einem Zitat beenden, das ich mitbringe. -Manchmal etwas Lustiges und manchmal auch etwas, das zu Nachdenken anregen soll. Diesmal wird es ein Zitat sein, das der gute alte Sherlock Holmes seinem Dr. Watson zugeflüstert hat und das meine ganz persönliche Grundidee agilen Denkens vortrefflich zusammenfasst:

We all learn by experience and your lesson this time is that you should never lose sight of the alternative.

Weil unsere schöne neue Welt aus Alternativen besteht

Warum ich glaube, dass es genau diese Offenheit für Alternativen ist, die die Grundlage der Agilität sein soll? Ganz einfach: der Mensch ist über viele, viele Jahrhunderte hinweg sehr gut damit gefahren, überall Muster zu entdecken, das was er wahrnimmt, in vorgefertigte Schubladen einzuordnen, daraus feste Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, Kausalitäten astrein zu identifizieren und sich so durch eine sehr klare und eindeutige Welt zu schlagen. Unser ganzes Denken und Handeln ist auf eine solche Welt abgestimmt. Fakt ist jedoch, dass die Welt sich immer weiterentwickelt hat und gegenwärtig weit davon entfernt ist, eindeutig und überschaubar zu sein. In der Wirtschaftspsychologie wird diese Welt gerne als “VUKA” bezeichnet: ein Umfeld, das von hoher Dynamik, extremer Komplexität, Unübersichtlichkeit, Widersprüchlichkeit und Wissenslücken geprägt ist. Hält der Mensch in dieser Welt am altbekannten Kontrolldenken fest, steckt Wahrgenommenes in Schubladen und glaubt Kausalitäten 1A identifiziert zu haben, wird es schwierig, denn diese Art des Denkens passt einfach nicht mehr. In komplexen und dynamischen Situationen daran festzuhalten, ist nicht hilfreich. Eigentlich sogar im Gegenteil: zum einen geraten wir unter Kontrollstress, weil wir auf der Suche nach den alten Schubladen und den klaren Kausalitäten fast verzweifelt immer mehr Informationen sammeln, die uns jedoch nicht weiterbringen. Viel mehr verunsichern sie uns nur weiter und führen schließlich zu totaler Orientierungslosigkeit. Zum anderen führt das stakkato-artige Festhalten an diesem alten Kontrolldenken besonders in Situationen, die subjektiv empfunden von einem Informationsdefizit geprägt sind, nicht selten zu fatalen Fehleinschätzungen. Hierbei kann es dann dazu kommen, dass wir einzelne uns zur Verfügung stehende Fakten überbewerten (wie zum Beispiel die eher seltenen Nebenwirkungen einer generell sinnvollen und auch gut kontrollierten Impfung) und somit zu Panik und Hysterie neigen. Weil dieses altbewährte Kontrolldenken einfach nicht mehr funktioniert, haben Verschwörungstheorien und Fake News Hochkonjunktur!

Was hilft, ist möglichst viel Perspektiven und Alternativen in Betracht zu ziehen, um eine für sich bestmögliche Entscheidung zu treffen. Wichtig hierbei ist, dass keiner von uns das objektive Richtige oder Falsche kennt. Vielmehr ist es so, dass wir in einer Welt des “Vielleicht” leben.

Wer weiß was ein Shruggie ist?

Ich gebe zu, ich musste mich bei Menschen, die deutlich jünger sind als ich, danach erkundigen, wie dieses Emoji, das mit breit geöffneten Armen die Schultern zu den Ohren zieht, heißt! Shruggie eben. Und dieses Shruggie spiegelt für mich agiles Denken, eine agiles Mindset geradezu vortrefflich wider! Ja, ich sehe eure ungläubigen Blicke, aber ich versuche mich zu erklären und fange einfach mal bei den altgriechischen Anhängern der philosophischen Schule der Skeptiker an. Ihr seht, nachdem ich zweimal einfach nur über Träume geschrieben habe, wird es heut fast intellektuell! Also, die alten Skeptiker: ebenso wie Menschen mit agilem Mindset beschäftigen sie sich mit der sogenannten Erkenntnis der Dinge. Das heißt in “nicht-philosophisch”, dass sie sich nicht festlegen, welcher ihrer Gedanken der Wirklichkeit entspricht. Alles ist möglich und alles ist denkbar. Deshalb rechnen Skeptiker jederzeit mit starken Gegenargumenten, oder einer radikalen Veränderung der Gesamtsituation. Dadurch ist es fast unmöglich, den Skeptiker zu überraschen. Skeptiker verirren sich nicht, weil sie sich nicht festlegen. Vielmehr rechnen sie sogar damit, falsch liegen zu können. Unglaublich, wie wertvoll die Perspektiven und Meinungen anderer für Skeptiker sein müssen! Und wieviel innere Stabilität man dadurch erlangt, dass man weiß, dass man sich nicht irren kann, weil man sich eben nicht festlegt! Ja, alles ist möglich!

Die moderne Form dieser skeptischen Neutralität ist der Shruggie. Er steht stabil mitten im Chaos, ist sich nicht sicher, aber das ist OK für ihn, denn weder die sich stetig verändernde Welt, noch die gegensätzliche Meinung seines Gegenübers kann ihn aus der Ruhe bringen, weil beides elementare Teile seiner Welt sind. Nicht falsch verstehen, dem Shruggie ist seine Welt nicht egal! Ganz und gar nicht! Der Shruggie hat verstanden, dass er selbst in dieser Welt des Wandels sein wichtigster Anker ist! -Und zwar nicht, in dem er sich auf unveränderliche Meinungen und Aussagen festlegt, sondern indem er sich seiner Welt wertneutral und mit unendlich viel Offenheit zuwendet und dabei stetig Neues lernt und sich weiterentwickelt! Der Shruggie ist diese lernende Ich-AG, von der ich euch vor einigen Wochen berichtet habe. Die einzig wahre Antwort auf VUKA!

Ein Team voller Shruggies

Während ich meine Retro für dieses Team, das seine Wege zukünftig sicher höchst erfolgreich ohne mich gehen wird, vorbereitet habe, war es ein ziemlich guter Trost für mich, dass ich hier eine Gruppe von Shruggies zurücklasse, die gemeinsam ausgesprochen erfolgreich sein werden, weil sie so unterschiedlich sind und diese Unterschiedlichkeit wertfrei zum Wohle des Teams nutzen können. Deshalb wird die Mutti, äh sorry, der Coach nächste Woche nach der Retro auch nicht wehmütig sein, sondern total stolz! Mission complete! Und natürlich wird der Coach parallel auch daran arbeiten, selbst ein noch besserer Shruggie zu werden!

Eure Constance

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Alles ist möglich

Mein Leben als weltoffener Shruggie…