Beratung

Maastricht und ich - Runde II

Mein ganz persönliches Weihnachtswunder…

Auch als ich in diesem Jahr nun schon zum zweiten Mal die Universität Maastricht betrat um den Masterstudentinnen und Studenten im Bereich Wirtschaftspsychologie einen Workshop anzubieten, kam es mir erneut surreal vor. Verrückt, wie sich die Dinge für mich gefügt haben. Ich weiß noch genau, wie ich zum ersten Mal darüber nachdachte, wie man die Ideen der Luftfahrt zum Managen eines dynamischen, komplexen und mehrdeutigen Umfeld in die Welt hinaustragen könnte, Und nun stehe ich hier, in diesem altehrwürdigen Gebäude mitten im Zentrum Maastrichts. Ich liebe das Sprachen-Wirrwarr in den Gängen und diese flüchtigen Begegnungen: “Das ist XY. Er forscht bei uns im Department an…!” Und ich denke mir nur: Wow! Eigentlich müsste ich mal für sechs bis acht Wochen als Praktikant zu Gast sein um überall reinzuschnuppern. Es ist alles so spannend und zeigt mir wieder und wieder wie viel es noch zu lernen gibt! Mein eines kleines Leben wird dafür kaum ausreichen.

Völlig selig und voller Vorfreude bereitete ich meinen Raum vor und begrüßte die ersten Studierenden. Immer an meiner Seite meine liebe Freundin Conny. Uns hat das Schicksal (oder besser gesagt ihr Onkel) während Connys Bachelorarbeit zusammengeführt. Damals schaute sie sich eines meiner Trainings in der Luftfahrt an. Sie forscht in Maastricht für ihre Doktorarbeit und ich darf von ihrem großen Wissen profitieren und vor ihr lernen. Conny war wahrscheinlich die erste, über die ich meine Idee, den Ansatz des Human Factors Trainings aus der Luftfahrt hinaus in die Welt getragen habe.

So könnte man meinen, mein Erfolg hinge auch viel mit dem Glück der zufälligen Begegnungen zusammen. Sicher hatte ich das große Glück, viele wunderbare Menschen kennenzulernen. Aber dieses Glück hat sicher jeder, der mit offenen Augen und einem offenen Herzen durchs Leben geht. Ich stehe heute da wo ich stehe, weil ich all dieses zauberhaften Begegnungen gepflegt habe, ich habe hart gearbeitet und meinen Tram nie aufgegeben, weil ich an diesen Traum und auch an mich selbst geglaubt habe. -Selbst in den Momentan, in denen ich von anderen dafür belächelt wurde.

Was die Business-Welt von der Luftfahrt lernen kann…

Mit Conny lächelnd in der ersten Reihe sitzend ging mein zweiter Workshop in Maastricht also los. Was wollte ich den Studierenden vermitteln? In der Business-Welt geht es inzwischen wie auch in der Luftfahrt darum, Dynamik und Komplexität zu managen. Die Luftfahrt hat bereits vor Jahrzehnten verstanden, dass einzelne Menschen Dynamik und Komplexität gar nicht managen können. Es braucht Teams mit multiplen Perspektiven, einer breiten Wissensbasis um der stetig anwachsenden Dynamik und Komplexität unserer Zeit gerecht zu werden. Aus diesem Grund ging es in meinem Workshop vor allem darum, was Teams brauchen um erfolgreich zusammenzuarbeiten. Und, was sagt ihr? Was brauchen Teams um erfolgreich zu sein? Als aller erstes brauchen sie einzelne Teammitglieder, die den Mut haben, Verantwortung zu übernehmen und den Mund aufzumachen. Teams laden gerne dazu ein, sich als Individuum hinter dem Kollektiv zu verstecken. Nur so funktioniert es eben nicht. Ich erzähle den jungen Studierenden von diesem Co-Piloten, der nicht den Mut hatte, seinen Kapitän auf etwas anzusprechen, das ihm falsch erschien. An diesem Tag verloren 583 Menschen ihr Leben und ich stelle die Frage, wer nun Schuld sei, der Kapitän, der den Fehler gemacht hat, oder vielleicht doch der Co-Pilot, der den Fahler kommen sah, den Mund jedoch nicht aufgemacht hat. In einem komplexen Umfeld ist die Schuldfrage meistens nicht eindimensional zu klären. Vielmehr gilt es Systeme zu konstruieren, die die Wahrscheinlichkeit eines Misserfolges minimieren. Hierbei zählt jeder einzelne Akteur, jede einzelne Perspektive. Ich weiß noch, wie ich damals, als ich meine Grundschulung als Stewardess hatte, verstanden habe, dass meine Perspektive nicht wichtig ist, obwohl ich jung und unerfahren war, sondern weil ich jung und unerfahren war.

Psychological Safety als Basis

Wie schwer es trotzdem ist, im täglichen Tun den Mund stets aufzumachen, merkte ich fortan auf jedem Flug. Und bis heute erlebe ich täglich, dass der Unterschied zwischen Theorie und Praxis in der Praxis einfach größer ist, als in der Theorie. Bis heute habe ich immer und immer wieder Momente, in denen ich wider besseren Wissens lieber schweige, als spreche. Was braucht es also, um zu sprechen? Es braucht das Gefühl, dass es OK ist zu sprechen, dass es sicher ist zu sprechen.

Da tauchte sie also wieder auf, diese sagenumwobene Psychological Safety. Sie ist so schwer zu umschreiben und doch so klar zu spüren. Also habe ich den Teilnehmenden meines Workshops eine praktischen Übung mitgebracht, um eben auch erfahrungsorientiert zu lernen, zu fühlen eben. Denn Psychological Safety kann ich niemanden beibringen. Ich kann bestenfalls Gedankenfutter, Food for Thought, mitbringen, das meinen Teilnehmenden hilft ihre Richtung hin zum großen Ziel zu finden. Weiß ich, wie sich das Ziel anfühlt und welchen Beitrag ich dazu leisten kann, ergibt sich der Weg.

Ich habe mich unglaublich gefreut, dass auch die beiden anwesenden Professor*innen Therese und Wim mitgemacht haben. Und auch Conny, meine Freundin und Doktorandin, war mit Feuereifer dabei. Die Gruppe hat ganz hervorragend interagiert und konnte im Nachgang viele der Punkte, die sie zuvor im Rahmen ihres Studiengangs theoretisch besprochen haben, auch im praktischen Miteinander analysieren. Besonders spannend war die Frage, welche Rolle die Teilnahme von Wim und Therese hinsichtlich der Teamdynamik gespielt hat. Für Therese und Wim wohl eine recht große, da beide sich bewusst zurückgehalten haben, damit die Studierenden sich nicht eingeschüchtert fühlen und frei und offen interagieren. Eine der Studentinnen sagte dazu, dass für sie die Teilnahme der beiden an der Übung absolut keine Rolle gespielt habe. Sie hat nicht darüber nachgedacht und sich komplett frei verhalten. Wie besser kann man ein psychologisch sicheres Lernumfeld beschreiben oder analysieren? - Aber auch die Rolle von Führung, die Menschen Raum gibt, sich selbst zurücknimmt, damit die anderen wachsen können.

Ich war ausgesprochen glücklich, diese Interaktion beobachten zu dürfen. Betrachten wir uns unsere Themen und Probleme, die globalen und die lokalen, die großen und die kleinen, dann braucht es eine junge Generation, die in einem Umfeld groß wird, in dem sie von Anfang an dazu ermuntert werden, ihren Mund aufzumachen. Denke ich an meine Schulzeit zurück, wurde ich zur Zurückhaltung erzogen. Galt ich doch als jung und ahnungslos. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich wirklich ausreichend Mut hatte, offen kritisch zu sein, zu hinterfragen und Ideen anzubieten. Diese Zeit hat die nächste Generation wahrscheinlich nicht, wenn sie dieser Welt die neue Richtung geben will, die es braucht.

Was haben sich die Studierenden mitgenommen?

So verging mein Workshop wie im Fluge und ich habe um das akademische Viertel überzogen. Was ich mir jedoch nicht nehmen lassen wollte, war die Frage nach den Takeaways:

  • Eine positive Teamdynamik kann Fehler verhindern, auch wenn die Bedingungen und Umstände alles andere als gut sind.

  • Kultur und Haltung verspeisen auch in Transformationsprozessen Struktur und Prozesse zum Frühstück.

  • Speak up!

Gedanken zum Abschied…

Im Gehen haben Conny, Therese und ich noch darüber gesprochen, dass wir in einem kulturellen Wandel von der Tragweite der Industrialisierung stecken ohne es wirklich zu verstehen. Digitalisierung ist das große Thema unserer Zeit und wird Arbeitswelten und Arbeitskultur nachhaltig verändern. Auch deshalb braucht es ganz neue Ideen und Perspektiven. Ich erlebe noch immer vor allem qualitative und quantitativ messbare Veränderungsprozesse. Prozesse werden optimiert, was das Zeug hält… Aber am Ende schreit unsere Zeit wahrscheinlich nach substantiellen Veränderungen. Auch dafür brauche wir eine frische und neue Generation, die in der Lage ist, alles anders zu sehen, als wir. Unsere Herausforderung wird es sein, das auszuhalten! Der gegenwärtige Generationenkonflikt ist für mich durchaus greifbar.

Wo mich diese Veränderung hinführt? Keine Ahnung. Aber Coaches werden immer gebraucht. Denn der Mensch ist und bleibt die einzige Instanz, die in der Lage ist, Dynamik und Komplexität proaktive zu managen, wenn er denn die Richtung und den Überblick nicht verliert. Und ich als Coach bin an dieser Stelle wie eine Art Navigationshilfe für Individuen und ganze Organisationen. Ich persönlich denke, der Coaching-Markt wird sogar noch ein bisschen wachsen.

In diesem Sinne gehe ich jetzt auf den Weihnachtsmarkt und wünsche euch einen schönen ersten Advent!

Eure Constance

Maastricht und ich…

Und auch im nächsten Jahr wird sich das Riesenrad für mich weiterdrehen!

Der Humble Consultant - beraten in Demut und Bescheidenheit

Und weiter geht die wilde Fahrt

In den letzten Jahren teile ich in meinem Blog nicht nur fachliche Themen, sondern immer mal wieder auch persönliche Meilensteine. Mein letzter Meilenstein war meine Reise nach Maastricht im letzten Dezember und heute ist es erneut an der Zeit über einen nächsten wichtigen Schritt zu schreiben. Seit erstem April (und nein, es ist kein Scherz) arbeite ich hauptberuflich nicht mehr als Agile Coach, sondern als Organizational Effectiveness Consultant. Aus dem Coach wurde also über Nacht ein Consultant! Abgesehen davon, dass der Titel sich bestimmt recht spannend anhört, ist das vielleicht attraktivste an diesem Job, dass er sich noch entwickelt und die abschließende Tätigkeitsbeschreibung in Teilen noch im Werden ist. Ich darf also selbst gestalten. Für Manche recht chaotische Voraussetzungen, für mich ein Traum. Ich bleibe in meiner Abteilung, gemeinsam mit meinen bisherigen Kolleg:innen. Eigentlich ändert sich erst einmal nicht so viel und trotzdem war das Thema Rollenfindung oder genauer gesagt Rollendefinition bereits im Vorfeld ein recht Großes für mich. “Coach oder Consultant?”, war die große Frage.

Der Berater, der weiß wie es geht, sagt wie es geht und dann wieder verschwindet…

Irgendwo in meinem Kopf versteckt sich noch immer ein recht stereotypes Bild eines Beraters oder Consultants: natürlich männlich, teurer Anzug und noch viel teurere Uhr, stets busy, busy, busy. So rauscht er rein ins Unternehmen, analysiert Zahlen und Prozesse nach festen Schemata und erstellt basierend auf diesen Analysen Empfehlungen. Er spricht laut und lacht noch viel lauter mit seinen Berater-Freunden! Zahlen, Daten, Fakten! Gedacht wird in FTEs und nicht in Menschen. Kognitive oder emotionale Diversität lassen sich nicht berechnen oder analysieren und kommen deshalb nicht vor. Ängste übrigens auch nicht! In meiner kunterbunten Welt mit absolutem People-Fokus ist das kein besonders schmeichelhaftes Bild und sollte keinesfalls zum Selbstbild werden! Somit habe ich mich sehr intensiv damit beschäftig, welche Art Beraterin oder Consultant ich sein möchte oder sein kann.

Für mich ist jede Organisation, jede Organisationseinheit, jedes Team eine Art lebender Organismus, individuell und einzigartig, mit ganz individuellen Bedürfnissen und Gesetzmäßigkeiten. Schema-F gab es bei mir noch nie. Die Basis für den Erfolg dieser Organisationen sind aus meiner Sicht ihre Menschen, in ihrer Individualität, Diversität und Emotionalität. Dem gilt es auch in der Beratung Rechnung zu zollen. Erfolg bedeutet für mich heute mehr denn je, die Dynamik, Komplexität und Unklarheit unserer Zeit erfolgreich zu managen. Das geschieht nur bedingt durch Prozesse. Diese stellen lediglich eine gute Basis dar, weil sie das Potenzial haben, Menschen zu entlasten. Auch Algorithmen und zunehmende Digitalisierung haben nicht das Potenzial Dynamik und Komplexität zu managen. Sie können in Hinblick auf Komplexität vielleicht entlasten. In Hinblick auf die Dynamik unserer Zeit bin ich davon überzeugt, dass zunehmende Digitalisierung und Automatisierung die Dynamik noch zusätzlich befeuern. -Fast ein kleiner Teufelskreis! Welche Instanz bleibt nun also um durch erfolgreiches Managen von Dynamik und Komplexität für Erfolg zu sorgen? -Natürlich: der Mensch, bzw. Gruppen aus Menschen die ihr Wissen, ihre Perspektiven und ihre Erfahrungen erfolgreich im Team nutzen.

Der Mensch als Schlüssel zu Erfolg unserer Systeme

Wie kann ich nun also ausgerechnet den Schlüsselfaktor Mensch in meinen Effizienzanalysen außer Acht lassen? Wie kann ich für unterschiedliche Systeme immer wieder die gleichen Lösungen anbieten? Dies soll mein Weg nicht sein! Ich möchte bei den Menschen beginnen. Ich möchte beraten, indem ich mich auf die Menschen in den jeweils betrachteten Systemen einlasse, mich mit ihnen auseinandersetze und ihnen einen Raum schaffe, ihre Lösungen zu finden. Als Beraterin möchte ich bescheiden, fast demütig sein, da ich mir sicher bin, dass niemand ein System so gut kennt, wie die Menschen, die Teil des Systems sind. Dementsprechend werden diese Menschen auch stets in der Lage sein, eine deutlich passendere Lösung für ihre jeweiligen Systeme zu finden, als ich. Ich habe Ideen, Erfahrung und Vorschläge, aber es wäre doch töricht zu glauben, ich hätte allgemeingültige Lösungen…

Und dann kam Edgar H. Schein

So haderte ich nun also mit mir selbst und meiner Rollendefinition, als mir ein Buch in die Hände fiel: “Humble Consulting - die Kunst des vorurteilslosen Beratens” von Edgar H. Schein. Der Titel hat mich direkt gefangen und auch der Umstand, dass der im Januar verstorbene Professor Emeritus des MIT Ed Schein als einer der Begründer dessen gilt, was wir heute Organisationsentwicklung oder Change Management nennen, sprach für sich. Ich habe es quasi über Nacht gelesen und kann nun voller Stolz verkünden: ich bin ein Humble Consultant, eine bescheidene und vorurteilslose Beraterin!

Hier für euch, die Kerngedanken aus Scheins Ansatz, die mich sofort vereinnahmt haben:

Die Voraussetzung für Humble Consulting ist eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Berater:in und Kund:in. Schein nennt sie Level 2 Beziehung, die aus seiner Sicht tiefer geht als eine klassische respektvolle Business-Beziehung (Level 1), jedoch mehr Abstand und Abgrenzung erlauben als intime Beziehungen, die Schein als Level 3 bezeichnet. Diese vertrauensvolle Beziehung ist die Basis dafür, dass Berater:in und Kund:in gemeinsam die wahren Sorgen und Probleme im betrachteten System ergründen können, offen und vorurteilsfrei. Im Rahmen dieses Prozesses ist es unabdingbar, dass der/die Berater:in offen und neugierig zuhört. Das Gehörte wiederum wird genutzt, um authentische Fragen zu stellen, die auch dazu dienen, ganz neue Denkprozesse in Gang zu bringen. Spätestens hier ist der Übergang zwischen Humble Consulting und (systemischen) Coaching fließend, empfiehl Schein doch an dieser Stelle die komplette Palette systemischer Fragen. So erarbeiten sich Kund:in und Berater:in gemeinsam und mit Hilfe eines Insider-Blickes und der Perspektive von außen ein tieferes Verständnis der Themen, die das System oder die Organisation einschränken.

Aus diesem gemeinsamen Verständnis entstehen im Sinne von Humble Consulting eine Intervention, die schrittweise oder iterativ erfolgt. Diese bedachtsamen Anpassungen entwickeln sich im stetigen Austausch mit den Menschen im betrachteten System.

Natürlich spielen auch im Rahmen dieses Beratungsprozesses Performance-Indikatoren oder Kennzahlen eine wichtige Rolle und auch prozedurale Abläufe, Schnittstellen und der Bereich Performance Management wird durchaus betrachtet. Deren Analyse stellt jedoch nicht den ersten Schritt meiner Arbeit dar, sondern ergeben sich ggf. aus der gemeinsamen Analyse mit meinen Kunden und Kundinnen. Die komplexen, oder eigentlich schon fast chaotischen Herausforderungen unserer Zeit benötigen eben ein menschenzentriertes Modell des Beratens, Coachens, Unterstützens.

Ja, ich denke so passt das für mich. So kann ich arbeiten. Schein schreibt, dass sein Modell des bescheidenen oder vorurteilslosen Beratens davon ausgeht, dass Berater:innen sich dafür engagieren, unterstützen zu dürfen, eine Menge echter Neugier mitbringen und eine fürsorgliche Grundeinstellung haben, was bedeutet, dass Humble Consultants die Bereitschaft haben, herauszufinden, was ihre Kunden und Kundinnen tatsächlich bewegt oder beunruhigt. Ich finde das passt doch ganz gut zu mir. Und was den teuren Anzug und die noch teurere Uhr anbelangt kann ich ja einfach mal schauen, was die Zukunft so bringt!

Habt einen wunderschönen Sonntag und bis in zwei Wochen.

Eure Constance

Coach oder consultant?

Oder vielleicht Consultant mit dem Mindset eines systemischen Coaches?

Angst ist eine Leistung - wirklich!

“Wer Angst hat, hat Zukunft.” G. Schmidt

“Was?”, dachte ich mir, als ich mich im Rahmen der Jahreskonferenz der Milton Erickson Gesellschaft für meinen ersten Workshop bei Gunther Schmidt angemeldet habe. Nun gut, er wird schon wissen, wie er seine Workshops tituliert. Aber Angst und Zukunft…?

Ich war also in Kassel und sollte mich unter der Überschrift “Out of Fear” drei Tage lang mit Ängsten beschäftigen. Ängste sind keineswegs Therapeuten vorbehalten. Auch im Business Coaching lauern sie überall. - Versagensängste, Existenzängste, Angst vor Digitalisierung, Angst nicht gut genug zu sein, Angst nicht mithalten zu können, zum alten Eisen zu gehören, Angst vor der Blamage, Angst vor der Veränderung, Angst vor Gesichtsverlust … Ich kenne sie alle, auch aus dem eigenen Erleben. Warum also nicht drei Tage lang dazulernen, um mich als Coach noch kompetenter mit diesem Thema auseinandersetzen zu können?!

Ich nehme vorweg, das Angebot war riesig. Ich habe mich für zwei Workshops bei Gunther Schmidt entschieden um mehr über hypnosystemische Ansätze in der Arbeit mit Ängsten zu lernen, ich war bei Ortwin Meiss, der sich mit Versagensängsten in Hochleistungssituationen auseinandergesetzt hat. Prof. Bernhard Pörksen hat die durch die moderne Medienlandschaft initiierte Angstspirale beschrieben. Von Tilman Rentel habe ich wertvolle Impulse zur idiolektischen Gesprächsführung für das Coaching bei Angstthematiken bekommen und von Charlotte Cordes und Florian Schwartz durfte ich einiges zur provokativen Szenenarbeit im Coaching lernen. Im Prinzip sollte ich zu jedem einzelnen Workshop einen Blog schreiben. Vielleicht werde ich das auch Schritt für Schritt tun. Allerdings möchte ich heute damit anfangen, davon zu berichten, wie ich am letzten Wochenende meine eigenen Perspektive auf Angst grundlegend verändert habe.

“Die Arme, sie leidet so unter ihren Ängsten!”

Ich gebe zu, so oder so ähnlich schallte es in meinem Kopf, wann immer ich mit den Ängsten anderer konfrontiert wurde. Und dann kam Gunther Schmidt, der erklärte, dass die große Stärke von Menschen mit Ängsten ihre Zukunftsorientierung sei. Angst habe ich für gewöhnlich nicht “nach” etwas, sondern “vor” etwas, also vor etwas, das im zeitlichen Kontext vor mir liegt. Angst blickt konsequent in die Zukunft. Klar spielen hier auch Erfahrungen aus der Vergangenheit eine Rolle, aber der Fokus liegt auf der Zukunft. Überhaupt ist Angst etwas ausgesprochen Kraftvolles und Aktives. So jedenfalls stellte es Gunther Schmidt dar. Wie alle Emotionen hält auch sie uns “in motion”, also in Bewegung, lässt uns aktiv werden.

Das alles klingt nicht besonders bemitleidenswert. Gunther Schmidt fuhr fort und berichtete, dass Angst im Prinzip eine Leistung des Organismus sei, um bestimmte Ziele zu erreichen. Angst darf als Wegweiser in die Sicherheit betrachtet werden, oder wie Gunther Schmidt es beschrieben hat: als Undercover-Verkleidung unserer Sehnsucht nach Sicherheit. Evolutionshistorisch betrachtet waren es Ängste, die wie Bodyguards auf uns aufgepasst haben, dafür gesorgt haben, dass wir in Bewegung geblieben sind, das Ziel der Sicherheit stets im Kopf und im Herzen. Angst als unwillkürliches Phänomen hat also das Überleben der Menschheit gesichert, wird aber in unserer modernen Gesellschaft zunehmend zum Thema.

Mein Haus, mein Auto, meine Ängste und ich

Was ist passiert, auf dem Weg von der Höhle in unsere coolen, neuen Smart-Homes? Die Menschheit hat begonnen das unwillkürliche Phänomen der Angst zu objektivieren und sich damit in ein Opferempfinden manövriert: “Meine Angst, sie ist schuld! ICH will so ja gar nicht reagieren, aber ES passiert einfach!” Mit mir geschieht etwas und ich fühle mich ausgeliefert und hilflos. Die objektivierte Angst übernimmt meinen Körper, meinen Geist, meine Seele. Besessen von den kleinen Dämonen meiner Angst erlebe ich vor allem Ohnmacht oder Handlungsunfähigkeit. Nun ist guter Rat teuer. Was tun, um meine Ängste loszuwerden? Vielleicht wäre es ja hilfreich, im ersten Schritt zu überlegen, ob es überhaupt klug ist, meine Ängste loszuwerden. Immerhin helfen sie mir dabei, zukunftsorientiert zu sein, sie passen auf mich auf und sorgen dafür, dass ich in Bewegung bleibe, in Bewegung Richtung Sicherheit. Will ich in diesen verrückten Zeiten wirklich auf meinen Bodyguard verzichten? Unter Umständen könnte es viel besser sein, meinen Bodyguard einfach wie alle anderen guten Angestellten sicher zu führen, anstatt in rauszuschmeißen.

Mein Bodyguard namens Angst

Wie in der tatsächlichen Mitarbeiterführung ist es auch im Rahmen der Führung meines inneren Teams immanent wichtig jeden einzelnen Mitarbeitenden bestmöglich zu kennen, um ihn als Ressource zielorientiert zum Einsatz zu bringen. Also lasst uns diesen Bodyguard namens Angst etwas besser kennenlernen.

Dieser Bodyguard wird genährt durch meine Aufmerksamkeitsfokussierung auf ein einziges mögliches Szenario in der Zukunft. Wir alle kennen unsere Zukunft nicht. Wir alle haben tausende oder gar millionen mögliche Zukünfte. Unser Bodyguard, die Angst, pickt sich aus all diesen möglichen Szenarien eines heraus, auf das er all unsere Aufmerksamkeit richtet. Wichtig ist es nun zu verstehen, dass unser Bodyguard nicht so vorgeht, um uns zu ärgern. Nein, unser Bodyguard macht das, um bestmöglich auf uns aufzupassen. Wer stets vom Schlimmsten ausgeht, ist jederzeit bestmöglich auf alle Gefahren vorbereitet. Im Verlauf der Evolution hat sich bei uns Menschen eine selektive Priorität für Gefahren entwickelt. Wir alle haben uns aus der Genetik der “Angstbereiten” entwickelt. Die Mutigen waren zu langsam und am Ende nicht in der Lage ihre mutigen Gene weiterzugeben.

So sind wir gut ausgestattet mit den Bodyguards unserer Ängste. Ich bin mir sehr sicher, dass nicht nur ich davon berichten kann, wie ich mich fühle, wenn mein Bodyguard zur Höchstform aufläuft. Vielleicht gibt es noch andere Menschen, die schon einmal versucht haben, diesen Bodyguard zu bekämpfen und vielleicht bin ich nicht die Einzige, die die Erfahrung gemacht hat, dass der sicherste Weg ein Problem zu verstärken ist, es zu bekämpfen. Druck erzeugt eben immer Gegendruck, auch in der Mitarbeiterführung im innen wie im außen.

Ich werde es zukünftig auf einem anderen Weg versuchen: Ich werde nicht mehr gegen meine Ängste ankämpfen, sondern versuchen meinen Fokus zu verändern. Eine bedrohliche Zukunft macht doch nur dann Angst wenn ich mich ohnmächtig fühle und davon überzeugt bin, dass diese bedrohliche Zukunft meine einzige mögliche Zukunft ist. Ja, das schlimmstmögliche Szenario kann durchaus eintreten, das bestmögliche aber auch. - Und viele andere, die irgendwo dazwischen anzusiedeln sind. Ich gönne mir den Gedanken, dass es gefährlich ist, mit 180 über die Autobahn zu düsen. Lässt mich dieser Gedanke von Todesangst gelähmt zurück? -Oder in Schrittgeschwindigkeit auf dem Standstreifen? Nein, denn es gibt auch viele Szenarien, in denen ich lebend an mein Ziel komme. Mein Bodyguard ist bei mir und passt auf, dass ich nicht zu leichtsinnig oder unachtsam werde, aber er übernimmt nicht mein gesamtes Denken und Handeln. Ich fühle mich nicht fremdbestimmt, sondern selbstbestimmt.

Ängste im Business Coaching und der Beratung

Was nehme ich für meine Rolle als Coach und Berater mit nachhause? Zum einen natürlich die Idee, dass Ängste nicht etwas Schwaches oder gar Bemitleidenswertes sind, sondern eine großartige Leistung unseres Organismus. Außerdem zeugen sie davon, dass ich ausgesprochen zukunftsorientierte Menschen vor mir habe, wenn mir diese von ihren Ängsten oder Sorgen berichten. Ich werde (noch) wertschätzender mit der großen Kompetenz der Angst umgehen.

Zum anderen denke ich natürlich auch über meine Arbeit mit ganzen Organisationen oder Organisationseinheiten nach. Mein Kernthema heißt Psychological Safety und tagein tagaus mache ich mir Gedanken darüber, wie Organisationen Rahmenbedingungen schaffen können, die die Voraussetzungen für eine Kultur der subjektiv empfundenen psychologischen Sicherheit bestmöglich unterstützen. Hierzu habe ich über die Jahre hinweg ein recht gutes Repertoire entwickelt, das ich nach dem Workshop mit Gunther Schmidt besonders in Organisationen, die sich in einem Veränderungsprozess befinden, oder einen solchen planen, um einen Punkt erweitern möchte: Ich werde besonders die Führungskräfte dazu ermuntern, nicht nur eine Zukunftsvision zu entwickeln, sondern mehrere, damit den vielen Bodyguards der Mitarbeitenden möglichst von Anfang an klar ist, dass es nicht nur ein oder zwei Szenarien gibt. Für gewöhnlich sind das ja immer die schöne neue Welt in den Köpfen der Chefs und die überfordernde Horrorvision der Zukunft in den Köpfen der besorgten, skeptischen, ängstlichen Mitarbeitenden. Ich kann mir vorstellen, dass es hilfreich ist, unterschiedliche Szenarien zu zeichnen um den Fokus von Anfang an breiter zu halten.

In diesem Sinne entlasse ich euch in einen wunderschönen Sonntag. Vielen Dank für das Interesse an meinem Blog. Ich melde mich nach Ostern mit ein paar News zu meiner ganz persönlichen Rollenfindung. Seid gespannt, denn bei mir hat sich ein bisschen was getan! -Aber keine Angst, alles recht positiv!

Eure Constance

Out of fear?

-Ich doch nicht! Und das ist gut so.