Stets lächelnde Lebensretter - warum Kapitäne eine Mannschaft brauchen

Wenn ein Flugzeug vom Himmel fällt

San Francisco am 06. Juli 2013 um 11:27 Uhr Ortszeit: Die Boeing B777 der Asiana Airlines knallt mit 307 Menschen an Bord mit ihrem Heck gegen eine Quai-Mauer. Ein Teil des Flugzeuges reißt ab. Das, was übrig bleibt, dreht sich um sich selbst, stellt sich im 40 Grad Winkel auf und knallt auf den staubigen Boden. Hier der Link zu einer Videosequenz, die dieses Unglück dokumentiert. Es grenzt an ein Wunder, dass bei diesem Unfall lediglich drei Menschen ihr Leben verloren haben.

Selbstverständlich wurde im Nachhinein sehr ausführlich ermittelt und irgendwann stand fest, dass die Unfallursache im Bereich des menschlichen Versagens zu finden war. Eine fatale Aneinanderreihung von Pilotenfehlern führte letzten Endes zum Tod von drei jungen Menschen. Warum es zu diesen Fehlern kam, wurde natürlich auch hinterfragt und selbstverständlich gab es viele Ursachen: die Piloten waren müde, die Ausbildung war zwar den gesetzlichen Vorschriften entsprechend, passte aber nicht zu den Bedürfnissen der agierenden Piloten. Die Piloten vertrauten der ausgefeilten Technik ihres modernen Fliegers fast blind, einer der Piloten hatte Angst davor, um Hilfe zu bitten und es herrschte ein recht starkes hierarchisches Gefälle zwischen ihnen. Jeder im Cockpit war mit seinen Unsicherheiten allein und der Kapitän hat sich selbst zum Einzelkämpfer auserkoren, der unbedingt zeigen wollte, was er kann. Wer alles das noch nie an sich selbst beobachtet hat, der werfe bitte den ersten Stein. Fehler passieren, jedem. Aber in einem High Risk Environment wie der Luftfahrt sind die Folgen so fatal, dass diese Fehler eben ganz besonders ausführlich beleuchtet werden und man immer wieder hinterfragt, wie man diesen Fehlern auch systemisch begegnen kann.

Katastrophen bieten Raum für Helden

Kurz nach der Bruchlandung ging die Maschine in Flammen auf. Das warf eine weitere Frage auf: Wie ist es gelungen, dass fast alle Menschen überlebt haben. Es wurde rekonstruiert, dass die drei Toten während des Crashs aus dem Flugzeug geschleudert wurden, weil sie wahrscheinlich nicht richtig angeschnallt waren. Bei einer jungen Frau ist man sich sicher, bei den beiden anderen liegt die Vermutung aufgrund vieler Indizien sehr nah. Das heißt, allen Menschen, die richtig angeschnallt waren, war es möglich, das Flugzeug zu verlassen, noch ehe das Feuer sich ausgebreitet hat. Darunter waren auch 181 zum Teil schwer Verletzte, von denen einige nicht in der Lage waren zu laufen oder in den Trümmern eingeklemmt waren.

Man könnte meinen, der Kapitän hat schnell verstanden, in welcher Situation sein Flieger samt Passagieren und Crew war, und hat deshalb eine sehr schnelle Evakuierung angeordnet. Interessanterweise war sogar das Gegenteil der Fall. Die Chefflugbegleiterin ging direkt nachdem das Flugzeug zur Ruhe kam ins Cockpit und fragte den Kapitän, ob sie evakuieren soll. Dieser bat sie noch zu warten. In dieser Zeit hat ein weiterer Flugbegleiter ein Feuer außerhalb des Flugzeuges wahrgenommen und damit nahm die Heldengeschichte dieser Katastrophe ihren Lauf, während die Piloten offenbar noch ganz starr vor Schreck waren: Der Flugbegleiter, der auf Höhe der zweiten Flugzeugtüren saß, nahm das Heft des Handelns in die eigene Hand, koordinierte die Kollegen, die direkt beim ihm saßen und leitete die Evakuierung eigenständig ein. Die Chefflugbegleiterin, die eben noch von ihrem Kapitän angewiesen wurde, noch nicht zu evakuieren, hat infolge auch an ihren Türen die Evakuierung eingeleitet und so nahm die Geschichte ihren Lauf. Mehr als die Hälfte der Kabinenbesatzung waren entweder eingeklemmt, oder so schwer verletzt, dass sie ihre Kollegen nicht unterstützen konnten. So retteten fünf Flugbegleiter, Stewards und Stewardessen, im Volksmund auch Saftschubsen genannt, mehr als 300 Menschenleben. Zum Teil haben sie verletzte Passagiere aus dem Wrack herausgetragen, so lange, bis sie aufgrund des aufziehenden Qualms selbst nicht mehr atmen konnten. Helden, oder?

Macht und Ermächtigung

Defacto könnte man sagen, dieser eine Flugbegleiter hat sich über alle hierarchischen Strukturen hinweggesetzt, die Befehlsgewalt des Kommandanten untergraben und die Chefflugbegleiterin hat bereitwillig mitgemacht! Jetzt kommt das wirklich verrückte: in der Luftfahrt ermuntern wir unsere Crew-Mitglieder genau das zu tun. Das System des Crew Ressource Managements, das ich euch letzte Woche in seinen Grundzügen vorgestellt habe, ermächtigt jedes einzelne Crew-Mitglied, niemals blind hinterher zu laufen. Guter Followership in der Luftfahrt bedeutet, dass jeder jederzeit hellwach und kritisch ist und seinen eigenen Verstand nutzt. Jede Führungskraft, ob im Cockpit oder in der Kabine, ist sich im Klaren darüber, dass die Luftfahrt so komplex ist, dass auch sie Fehler machen. Aus diesem Grund ermächtigen sie ihre Teammitglieder dazu, jederzeit Stopp sagen zu können. So dürfen auch Co-Piloten ihrem Kapitän den Flieger “abnehmen”, wenn sie das Gefühl haben, dass es ansonsten zu einem fatalen Fehler kommen kann und auch die Kollegen in der Kabine sind dazu aufgerufen, kritisch zu sein, ihre Meinung zu äußern und auch in der Hierarchie nach oben Feedback zu geben. Die Basis der Sicherheitskultur in der Luftfahrt ist, dass Führungskräfte ihre Macht auch dazu nutzen, ihre Teams zu ermächtigen, ihnen den Raum geben, um ihr gesamtes Potenzial zu nutzen, weil es keine andere Möglichkeit gibt um in einem komplexen und dynamischen Umfeld sicher und erfolgreich zu agieren.

Denn das Team ist der Star - Confession of a Trolley Dolly

Ich plaudere mal ein wenig aus dem Nähkästchen. In über zwanzig Jahren in der Luftfahrt erlebt man so einiges und in all dieser Zeit bekommt man auch ein gewisses Gefühl dafür, wie man in seiner Rolle als Kabinenbesatzung wahrgenommen wird. Eine Szene, die ich schon tausende Male erlebt habe, ist dass ich nach dem Flug an der Tür stehe, um mich von meinen Gästen zu verabschieden. Viele bedanken sich ganz herzlich für den Flug und den Service. Einig laufen allerdings lächelnd und fröhlich auf mich zu um zu sagen “sagen Sie dem Kapitän vielen Dank für den Flug…” und dann verschwinden sie in der Gangway. Natürlich meint das keiner meiner Gäste böse. Es ist ihre Art, auszudrücken, dass sie froh sind, gut gelandet zu sein. Ich muss jedoch gestehen, dass mich diese Situation gelegentlich zum Schmunzeln bringt. Da lässt jemand seinen Dank für den Flug einem Menschen ausrichten, den er kein einziges Mal zu Gesicht bekommen hat, weil man glaubt, dass dieser eine übermächtige Heilige es verantwortet hat, dass man sicher angekommen ist… Mal abgesehen davon, dass die Kollegen in der Kabine ihre Gäste während des Fluges im Rahmen der Möglichkeiten, die ihre jeweilige Airline ihnen bietet, mit Service beglücken, sind es nicht die Kapitäne, die das Feuer löschen, falls mal wieder jemand seine brennende Zigarette auf der Toilette “vergisst”. Es sind auch nicht die Kapitäne, die den Defibrillator bedienen, falls ein Gast wiederbelebt werden muss. Es ist übrigens auch nicht der herbeigerufene Notarzt! Schwierig im Flieger! Wenn ein Gast aus welchen Gründen auch immer die Beherrschung verliert, sind es die Flugbegleiter, die diese Situation so regeln, dass die anderen Gäste möglichst nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Es ist nicht die herbeigerufene Polizei! Auch wenn der Handy-Akku explodiert, kann man sich auf seine Flugbegleiter verlassen und falls die Chlortabletten, die ein Gast zur Poolreinigung im Handgepäck hat, anfangen giftige Dämpfe zu bilden, sind es ebenfalls die Flugbegleiter, die wissen was zu tun ist, um Chlorgasvergiftungen zu vermeiden… Piloten wissen das und sind sich über den Wert ihrer Kabinenkollegen bewusst. In der öffentlichen Wahrnehmung findet das alles jedoch (zum Glück) nicht statt, weil all diese Situationen glücklicherweise sehr selten sind. Allerdings wurde der Asiana Crash wenigsten in Südkorea sehr wohl wahrgenommen, was dazu führte, dass Flugbegleiter eine deutliche Aufwertung in der öffentlichen Wahrnehmung Südkoreas erfahren haben. Der Luftfahrtpsychologe H. C. Foushee hat einmal folgendes gesagt: “A flying mission is always a team task.” Da jeder Fehler machen kann, egal wo er in die Hierarchie steht, ist jedes einzelne Teammitglied gleich wertvoll, allerdings zeigt sich dieser Wert manchmal erst, wenn es im Vorfeld zu fatalen Fehlern kommt.

Quo vadis, Stewardess?

Nun erlebe ich die Luftfahrt seit über zwanzig Jahren hautnah mit und ich muss sagen, die Dinge verändern sich rasant und nicht erst durch Corona. Der Luftfahrtpsychologe James Reason hat kürzlich erklärt, dass er der Meinung sei, dass die Luftfahrt ihr höchstes Level an Sicherheit bereits vor einigen Jahren erreicht habe. Klar sei Fliegen auch weiterhin sicher, aber das wirklich hohe Sicherheitsniveau, dass sich die Luftfahrt über Jahrzehnte hart erarbeitet habe, sei inzwischen wieder rückläufig. Er begründet diese These damit, dass die Wettbewerbssituation in der Luftfahrt angefacht durch das, was der Volksmund Billig-Airlines nennt, derart gnadenlos geworden ist, dass eine gesamte Branche dazu gezwungen ist, jeden Cent zweimal umzudrehen und sich auf diesen unwürdigen und gefährlichen Kampf einzulassen. Aus diesem Grund wird auch bei ihrem Kabinenpersonal gespart. Eine große, seriöse Airline mit hohem Sicherheitsniveau und angemessenen Arbeitsbedingungen macht es im Schatten von Corona vor: Da werden vermeintlich teure Töchter abgewickelt und eine neue kostenbewusstere Tochter aus dem Boden gestampft. Die Mitarbeiter der nun geschlossenen Töchter habe selbstverständlich die tolle Möglichkeit, bei der neuen Tochter anzufangen, natürlich für deutlich weniger Gehalt und zu “neuen” Bedingungen. Die Alternative ist natürlich Arbeitslosigkeit, weil sich selbstverständlich viele andere junge Menschen finden, die die angebotenen Verträge gerne annehmen. So läuft das in der freien Markwirtschaft. Allerdings hat das auch Folgen für die Sicherheit. Am 19. März 2019 musste ein Airbus A320 der Laudamotion in London den Start abbrechen. Das passiert selten und wenn man es miterlebt, ist das recht spektakulär, laut und auch etwas erschreckend. Es ist aber nicht lebensgefährlich und die Kabinenbesatzung sollte in einer solchen Situation auch auf keinen Fall selbstständig evakuieren. Die junge Chefflugbegleiterin hat aber trotzdem direkt nach dem Stillstand der Maschine reflexartig und eigenständig die Evakuierung eingeleitet. Da eines der Treibwerke noch lief, hat sie die evakuierten Gäste, für die sie verantwortlich war, in wirkliche und greifbare Gefahr gebracht. Die britischen Unfallermittler waren “not amused”, stellten aber fest, dass man den Vorwurf nicht in erster Linie dieser jungen Frau machen konnte, da sie von ihrem Arbeitgeber in eine Situation gebracht wurde, die sie niemals hätte meistern können. Totale Überforderung! Zum einen hatte die junge Frau nur wenig Erfahrung als Flugbegleiterin, wahrscheinlich zu wenig Erfahrung, um die Verantwortung als Chefflugbegleiterin zu übernehmen. Zum anderen hatte das wenige Training, dass sie erhalten hat, klare Defizite. Das System “Geiz-ist-geil” war schlichtweg der Hauptgrund dafür, dass dieses arme Mädchen, auf dem infolge erstmal gehörig rumgehackt wurde, niemals eine faire Chance hatte, ihren Job gut zu machen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Zum Glück verstanden die Piloten recht schnell, was vor sich ging und schalteten das noch laufenden Triebwerk ab. Nicht auszumalen, wäre ein Passagier in das noch laufende Triebwerk geraten… Unverantwortlich den Gästen gegenüber und unendlich gemein, niederträchtig und verantwortungslos meiner jungen Kollegin gegenüber. Eine Airline hat gegenüber ihren Mitarbeiten ihre Verantwortung und ihre Fürsorgepflicht wahrzunehmen!

Schuld ist natürlich immer der andere

Selbstverständlich führen solche Situationen mal wieder zu allgemeinem Airline-Bashing! -Verschmutzen die Umwelt und kümmern sich dabei noch nicht mal angemessen um ihre Mitarbeiter, bilden sie nicht richtig aus und riskieren die Gesundheit ihrer Passagiere! Natürlich ist es ein No-Go, was die ein oder andere Airline so treibt, auf Kosten ihrer Mitarbeiter, ihrer Gäste, der Sicherheit. Ein unverschämtes und verantwortungsloses Verhalten! Was ich jedoch wirklich unverschämt und verantwortungslos finde, ist, dass die Qualität einer Airline in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend vor allem anhand ihres Service definiert wird, selbst wenn diese gefeierte Dienstleistungsbereitschaft auf Kosten der Sicherheit geht. Beispiel gefällig: “Die Airline XY ist viel besser, weil die Stewardessen da viel netter sind. Da muss ich mein Kind nicht zur Landung wecken, um es anzuschnallen! Ich werde mich über Sie beschweren.” Kurze Erinnerung: Beim Crash der Asiana sind nur die Gäste gestorben, die nicht angeschnallt waren. Die ein oder andere Stewardess denkt sich in einer solchen Situation sicher so etwas wie: “Und mir ist Ihr Kind und dessen Gesundheit so wichtig, dass ich mich dafür sogar mit Ihnen streite. Mir könnte es auch einfach egal sein und ich könnte weitergehen. Das würde meinen Tag viel netter und einfacher machen. Aber ich bin mir meiner Verantwortung für meine Gäste bewusst.” Dabei lächelt die Stewardess freundlich, weil sie den Unmut der gestressten Mutter natürlich versteht, erklärt ihr die Situation nochmal ganz freundlich und hilft ihr, das Kind vorsichtig, sicher anzuschnallen, möglichst ohne es aufzuwecken. Wobei das am Ende des Tages eigentlich egal ist, weil man dann doch am liebsten den billigsten Flug bucht…

Liebe Verbraucher, auch ihr habt Verantwortung. Im Prinzip habt ihr es sogar in der Hand. Ihr habt mit Geiz-ist-geil angefangen, ihr könnt damit aufhören und vor allem könnt ihr euch entscheiden, wie ihr Flugbeleiter wahrnehmt: Servicepersonal, dass einen gängelt oder Menschen, die Verantwortung für das Wohlergehen anderer Menschen übernehmen. Wer sicher von A nach B möchte, tut gut daran, zu verstehen, dass Flugbegleiter dafür absolut systemrelevant sind, so wie es das Pflegepersonal für die Intensivstationen ist. Ein Flugzeug mit Piloten allein ist, wenn es um Menschenleben geht, so hilfreich wie eine Intensivstation mit vielen Betten und Ärzten, aber ohne Pflegepersonal.

Krankenschwestern, Stewardessen - stets sanft lächelnde Lebensretter die einfach da sind, als gegeben hingenommen werden, im Verborgenen wirksam werden, ihre gefeierten Piloten und Ärzte unterstützen, damit man im Team gemeinsam Leben rettet. Jeder leistet seinen Beitrag, seinen systemrelevanten Beitrag. Für diesen Beitrag hat man Respekt verdient und eine Bezahlung, die diesen Respekt widerspiegelt und vor allem hat man eine Ausbildung verdient, die einen in angemessener Art und Weise auf seinen verantwortungsvollen Berufsalltag vorbereitet

Liebe Verbraucher, hört auf über die Geister zu schimpfen, die ihr selbst herbeigerufen habt! Wenn ihr diese Geister nicht mögt, ruft euch neue, bessere Geister herbei. Marktwirtschaft bedeutet nämlich auch, dass der Markt die Wirtschaft macht und der Markt sind wir! - Wow, ich sollte eine Revolution anzetteln!

Eure Constance

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Cabin under Preassure

Flugbegleiter in Zeiten von Billigfliegern - zwischen Verantwortung und wirtschaftlichem Druck

Komplizierte Flugzeuge, komplexe Luftfahrt... Wie Soft Skills über den Wolken Leben retten

Alles nur Wortklauberei

Habt ihr euch mal Gedanken darüber gemacht, was der Unterschied zwischen “kompliziert” und “komplex” ist? Freund Duden sagt folgendes:

  • kom/pli/ziert - in seiner Vielfältigkeit, Unübersichtlichkeit o. Ä., schwer zu durchschauen, zu handhaben

  • kom/plex - 1. vielschichtig, viele Dinge umfassend 2. allseitig, umfassend

So weit so gut und eigentlich das Gleiche! -Wirklich? Mit Nichten, meine Damen und Herren. Einer der größten Fehler unserer Zeit ist es, zu glauben dass es sich hierbei im Prinzip um das Gleiche handelt, weil man somit auf beides auch gleich reagiert. Schauen wir uns deshalb mal an, was der Unterschied zwischen komplexen und komplizierten Systemen ist.

Ein kompliziertes System ist vorhersagbar. Es ist zwar schwer zu durchschauen, aber es ist durchschaubar. Allerdings muss man hierfür zu einem Experten werden. In komplizierten Systemen ist die Ursache-Wirkungskette klar zu belegen und sie können von außen kontrolliert werden. So ein Flugzeug ist ein gutes Beispiel für ein kompliziertes System. Wenn etwas nicht funktioniert, kann man dafür eine Ursache finden, allerdings ist das nicht einfach, weshalb man hierfür eine Ausbildung zum Fluggerätemechaniker benötigt. Auch um das komplizierte System Flugzeug von außen zu kontrollieren, benötigt man eine Ausbildung, eigentlich sogar zwei: zum einen die Pilotenausbildung und zum anderen noch ein spezielles Type Rating, eine sogenannte Musterberechtigung, für eben dieses Flugzeug, das man fliegt. Für solche komplizierte Systeme sind Experten Gold wert, weil diese Systeme ohne ihr Fachwissen nicht zu beherrschen oder deren Reaktionen nicht vorherzusagen sind.

Ein komplexes System ist dagegen unvorhersehbar, und steckt voller Überraschungen. Es ist vielschichtig, alles hängt irgendwie zusammen, jedoch ist eine Ursache-Wirkungskette nicht eindeutig identifizierbar, weil es immer mehrere Faktoren sind, die zu einem wahrnehmbaren Outcome führen. Komplexe Systeme kann man vortrefflich von außen beobachte, kontrollieren kann man sie von außen nicht. Sie sind wie lebende Organismen, weil alles zusammenhängt und man diesen Zusammenhang auf den ersten Blick oft nicht erkennt.

Ein komplexes System besteht häufig aus vielen Teilen, die für sich genommen eigenständigen Standards folgen. Diese Teile können durchaus auch komplizierte Systeme sein. Diese komplizierten Flugzeuge sind zum Beispiel ein elementare Bestandteile der Luftfahrt. Doch bereits im Jahr 1977 hat die Luftfahrt verstanden, dass es nicht ausreichend ist, das komplizierte System Flugzeug zu perfektionieren und die Piloten, die es beherrschen sollen, bestmöglich auszubilden, um erfolgreich zu sein. Am 27. März 1977 kollidierten auf dem Flughafen von Teneriffa zwei fehlerfrei funktionierende Jumbo-Jets mit sehr gut ausgebildeten Piloten. Hier der Link zum Blog, der erklärt was passiert ist. Dieser Unfall, bei dem 583 Menschen ihr Leben verloren, sorgte dafür, dass sich eine ganze Branche hinsichtlich ihrer Erfolgsfaktoren hinterfragt hat.

Wie man in komplexen Umfeldern kompliziert scheitert

Man stellte fest, dass es an diesem Tag zu viele Faktoren gab, die von außen nicht kontrollierbar waren: ein Attentat auf dem Flughafen von Las Palmas, das zur Überfüllung des Flughafens von Teneriffa geführt hat, dieser dichte Nebel, der Zufall, dass eben dieser Lotse sich so ausgedrückt hat, dass der Kapitän der einen Maschine es falsch verstehen konnte, dieser zweite Zufall, dass die andere Maschine just zu dieser Zeit über die Startbahne rollte und dass der Co-Pilot sich nicht traute, seinen Kapitän zu hinterfragen und so weiter und so fort… Der Luftfahrtpsychologe James Reason beschreibt diese Verkettung unterschiedlichster Faktoren, die einem Flugzeugunglück immer vorausgehen müssen, in seinem Swiss-Cheese-Model, das ihr ebenfalls im oben verlinkten Blog findet.

Anfang der Achtziger machte sich in der Luftfahrt die Idee breit, dass man die komplizierten Flugzeuge zwar durch Experten fliegen und warten lassen sollte, aber dass deren Expertenwissen nicht ausreichend ist, um auch die komplexe Luftfahrt als Ganzes zu verstehen und entsprechend zu reagieren. Man erkannte, dass die Idee, ein komplexes Umfeld von oben, durch einen Experten, kontrollieren zu lassen, ein Kardinalsfehler war, der an diesem Tag in Teneriffa viele Menschen das Leben kostete. Allerdings war damals zunächst nicht klar, wie man es anders machen könnte. Bis dato kannte man das althergebrachte System, in dem der eine kompetente Experte alle anderen steuert, ihnen sagt, was zu tun ist. Nach dem Unglück von Teneriffa verstand man jedoch relativ schnell, dass es im Prinzip nur eine einzige Instanz gibt, die in einem komplexen Umfeld erfolgreich agieren kann: das Team. Somit war das Unglück von Teneriffa die Geburtsstunde dessen, was die Luftfahrt Crew Ressource Management nennt. Man stellte fest, dass komplexe Umfelder unmöglich von einer einzelnen Person ganzheitlich verstanden und beherrscht werden können. Was man benötigte, war eine neue Form der Zusammenarbeit, der Führung, dem Umgang mit Fehlern und dem Prozess der Entscheidungsfindung. Nicht mehr und nicht weniger. Man implementierte Backup Behavior, Kommunikationsstandards, man akzeptierte, dass Fehler im komplexen Umfeldern nicht zu vermeiden sind und entschied sich deshalb Fehler als systemimmanent zu akzeptieren, um als Organisation aus den Fehlern des einzelnen zu lernen. Vor allem lernten Kapitäne recht schnell, dass sie mutige Crewmitglieder benötigen, die (im Gegensatz zum Co-Piloten in Teneriffa) ihre Gedanken und Bedenken teilen. Nein, noch nicht einmal Kapitäne sind in der Lage, Komplexe Systeme bis ins letzte Detail zu verstehen und zu durchschauen. Allein die Physiologie der Wahrnehmung macht ihnen hier einen deutlichen Strich durch die Rechnung. So verarbeitet unser Gehirn nur etwa fünf Prozent aller Sinneswahrnehmungen. Da ist man doch froh, wenn neben einem selbst jemand sitzt, der fünf weitere Prozent verarbeitet. In einem dynamischen, sich ständig ändernden Umfeld ist das noch immer nicht wirklich viel, aber wenigstens ein bisschen mehr. Als Nicht-Mathematiker darf ich mich zu der Aussage hinreißen lassen, dass man zu zweit immerhin eine doppelt so hohe Erfolgsquote hat!

So lernt die Luftfahrt seit vierzig Jahren immer weiter dazu. Der entsprechende Trainingsleitfaden wird stetig und aktuellen Ereignissen folgen weiterentwickelt, getreu dem Motto Inspect and Adapt. Ganz schön agil sag ich da als Scrum Master! Das wichtigste, was die Luftfahrt jedoch gelernt hat, ist den Wert eines jeden einzelnen Crew Members wahrzunehmen, weil jeder benötigt wird, um erfolgreich zu sein, der erfahrene Kapitän genauso wie die frisch ausgebildete Flugbegleiterin.

Um an dieser Stelle noch ein wenig tiefer einzutauchen, werde ich euch nächste Woche vom 06. Juli 2013 berichten, als auf dem Flughafen von San Francisco eine Boeing B777 der koreanischen Asiana heftig verunglückte, weil die Experten ganz vorne Fehler machten. Der Grund, weshalb dieser Unfall mit drei Toten nicht zu einer Katastrophe mit über 300 Toten wurde, war die Reaktion der Kabinenbesatzung, die in dieser extrem dynamischen Situation im richtigen Moment Verantwortung übernahm und als Team, das leistete, was ein einzelner Mensch, egal wie gut ausgebildet und wie erfahren, nicht zu leisten in der Lage gewesen wäre. Dieser Vorfall führte dazu, dass Flugbegleiter in Korea auch in der öffentlichen Wahrnehmung eine große Aufwertung erfahren haben. Aber dazu nächste Woche mehr. Für heute soll es das mit Flugzeugen gewesen sein.

Vom Flugzeug in die Welt des Big Business

Letzte Woche wurde ich in einem Gespräch gefragt, was denn für mich der wirkliche Unterschied zwischen traditionellen und agilen Organisationsstrukturen ist. Das war eine gute Frage und ich musste kurz nachdenken. Aber eigentlich ist es klar: das Menschenbild! Ich habe die Erfahrung gemacht, dass agile Strukturen ihr Humanvermögen, also den Wert ihrer Mitarbeiter, viel bewusster wahrnehmen. In agilen Strukturen kann ich nicht kontrollieren. Ich muss vertrauen. In agilen Strukturen versuche ich nicht, Höchstleistung durch maximalen Druck zu erzeugen, sondern indem ich alles daran setze, dass meine Mitarbeiter sich sicher und wohl fühlen, weil ich davon ausgehe, dass die Menschen in meinem Unternehmen bereitwillig ihr Bestes geben, weil es ihnen wichtig ist, sich einzubringen, zu gestalten und weil sie ein wertvoller Teil der großen Ganzen sein wollen. In agilen Strukturen haben Chefs erkannt, dass sie ohne ihre Teams nichts sind und werden deshalb automatischen zu dem, was man inzwischen Servant Leader nennt.

All jene unter euch, die jetzt darauf warten, dass ich anfange mit Glitzer-Konfetti um mich zu werfen, damit mich dann ein Einhorn abholt, sei gesagt, das ist keine Utopie. Es gibt immer mehr Unternehmen, die sich entschieden haben, anders zu sein. Es gibt immer mehr Chefs, die hochqualifizierte Mitarbeiter nicht mehr für teures Geld anheuern, um ihnen dann genau zu sagen, was zu tun ist, sondern diese Mitarbeiter in die Position bringen, ihr gesamtes Potenzial zu nutzen, indem sie ihnen Gestaltungsraum geben. Es gibt sie, diese Chefs, die die Sache mit dem Humanvermögen und der sozialen Verantwortung wirklich verstanden haben. Und dabei sind diese Chefs auch noch (wirtschaftlich) unfassbar erfolgreich. Ich möchte euch in diesem Zusammenhang Frederic Laloux’ Buch “Reinventing Organizations” ans Herz legen. Laloux stellt diese Unternehmen und ihre Mindsets vor und erläutert ihren Erfolg sehr kurzweilig und anschaulich (diese Werbung ist natürlich unbezahlt!).

Vielleicht eine Utopie, aber der Unterschied zwischen komplex und kompliziert bleibt trotzdem bestehen

Ich weiß, das alles hört sich für unsere Ohren manchmal ein wenig verrückt an. Sicher wird Agilität nicht alles lösen und es gibt auch schon die ersten, die post-agile Strukturen propagieren… Selbstverständlich darf im Dschungel der New Work jeder eine eigene Meinung haben. Und vielleicht ist das mit der Agilität ja auch völliger Quatsch. Was aber bleibt, ist der Unterschied zwischen kompliziert und komplex und an dem einen mit der Medizin für das andere rumzudoktern ist nicht zielführend. Es ist sogar dumm und in der Luftfahrt gefährlich. Wer erfolgreich sein will, muss wissen, mit was er es zu tun hat. Und sollte sich ein System doch eher als komplex herausstellen, gibt es nur eine Lösung: das Team, das Humanvermögen - um nicht von einer vielschichtigen Dynamik überrollt zu werden.

Natürlich darf man auch diesen Soft-Skill-Hokuspokus verteufeln und als nicht Performance-relevantes Beiwerk verstehen. Wir leben ja auch so alle zusammen, kommen auch bei der Arbeit miteinander klar und das läuft doch auch alles, irgendwie, schon immer… Ja, stimmt, das lief auch in der Luftfahrt vor 1977 irgendwie, allerdings offensichtlich nicht so gut. Man muss dem Menschen jedoch tatsächlich erst beibringen, sich in komplexen und dynamischen Situationen gemeinsam mit anderen zurecht zu finden. Von allein tut der Mensch das nicht. Ohne Schulung verhält sich der Mensch genauso, wie es sein Überleben über Jahrmillionen gesichert hat: er schweigt, passt sich an, ist ungeduldig, so stark fokussiert, dass er um sich herum manchmal gar nichts mehr wahrnimmt, er folgt dem Stärksten und Erfahrensten blind und wenn es eng wird, schlägt er entweder zu, oder läuft weg. Das hat sehr lange gut funktioniert. Damals war das Leben kompliziert und gefährlich. Heute ist es komplex und der Mensch muss lernen, sein Potenzial so zu nutzen, dass er auch weiterhin erfolgreich ist. Dass ein solcher Lernprozess erfolgreich sein kann, beweist uns die zivile Luftfahrt tagtäglich. Hier sind Soft Skill Schulungen gesetzlich vorgeschrieben und die Unfallstatistik zeigt, dass sie erfolgreich sind. Zwar ist bei etwa 80 Prozent aller Unfälle und Zwischenfälle in der zivilen Luftfahrt der Mensch dafür verantwortlich, dass es schief ging und geht. Das ist ja auch logisch: ein komplexes Umfeld kann nur durch Menschen, die im Team zusammenarbeiten, beherrscht werden. Und Menschen machen eben Fehler, auch im Team. Betrachtet man sich aber die Statistik der letzten vierzig Jahre, sieht man, dass die Unfälle in der zivilen Luftfahrt signifikant weniger wurden und werden, weil die agierenden Crews immer besser zusammenarbeiten, Backup Behaviour immer konsequenter nutzen. Denn genau das wird ihnen alle Jahre wieder in Schulungen vermittelt. In Hinblick auf die Sicherheit ist die Luftfahrt also immer erfolgreicher geworden. Klar geht es in eurem Arbeitsumfeld wahrscheinlich nicht unbedingt darum, zu fliegen. Aber glaubt mir, Erfolg ist Erfolg und in einem komplexen Umfeld sind es immer die gleichen Faktoren, die einen erfolgreich machen, auch wenn die Definition von Erfolg unter Umständen eine ganz andere ist. Nennt es Agile, nennt es Crew Ressource Management, von mir aus auch Horst oder Uschi… Gebt dem Kind euren ganz eigenen Namen. Orientiert euch an dem, was schon da ist, oder erfindet etwas Neues, das zu eurem Umfeld passt… Alles ganz egal! Aber werdet euch eures Humanvermögens bewusst, eures eigenen und dem eurer Mitarbeiter, Kollegen, Teammitglieder. Denn das ist der Schlüssel zum Erfolg.

Eure Constance

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Über den Wolken…

Aerodynamik oder Zauberei? Auf jeden Fall komplex!

Das Toilettenpapier-Dilemma: Warum bewusste Selbstführung eben doch verdammt schwer sein kann

Hilfe ich habe Corona… Nee, warte… Doch nicht…

Heute schreibt euch die stolze Besitzerin von 24 Rollen Toilettenpapier! Ich würde sagen, Weihnachten kann kommen… Ich weiß, in meinem ersten Corona-Blog habe ich mich intensiv gefragt, was Menschen dazu treibt, Toilettenpapier zu horten. Jetzt weiß ich es. Ich fange mal von vorne an, denn Corona ist mir in dieser Woche ganz schön auf die Pelle gerückt.

Mitte dieser Woche klingelt morgens das Telefon, es war ein Freund, dessen Sohnemann ich vor einigen Tagen bei ihm zuhause zum Spielen besucht habe. Es gibt nichts Bereichernderes als die unverfälschten Gedankengänge eines Vierjährigen. Nun war der Papa, den ich bei meinem Besuch auch gesehen habe, Covid-positiv getestet, was gegenwärtig ja recht negativ ist. In dem Moment, in dem er das am Telefon ausgesprochen hatte, verspürte ich selbstverständlich spontan Halsschmerzen. Es folgte wilder Aktionismus, ich wusste nämlich so gar nicht, was ich jetzt zu tun hatte. OK, ich habe erstmal alle Termine abgesagt und meine geplanten Präsenz-Schulungen diese Woche an einen Trainerkollegen weitergegeben. Danach kam wieder Hilflosigkeit in mir hoch. Ich wollte Fakten schaffen und am liebsten sofort einen Test machen. Das ist leider nicht so einfach. Ich telefonierte wild umher und hörte gefühlt mindestens zwei Mal zu oft Sätze wie “also so richtig wissen wir auch nicht, wie das jetzt weitergeht”. Erlösung erhoffte ich mir, als ich beim Gesundheitsamt endlich ein Freizeichen hatte. Meine Heldin am anderen Ende der Leitung war eine wirklich sympathische junge Frau. Leider folgte die Ernüchterung postwendend, denn auch sie konnte mir nicht das liefern, was ich mir am sehnlichsten wünschte: jemanden, der mir in dieser unbekannten Situation sagt, was zu tun ist. Testen lassen könne ich mich erst, wenn der Erkrankte die Kontaktliste eingereicht habe und diese abgearbeitet sei. Das könne bis zu zwei Tage dauern. Und bis dahin? Bis dahin müsse ich entscheiden, wie ich mich verhalte! Toll! Und wie soll ich mich jetzt verhalten? Ich merkte, wie ich am Telefon allmählich den Druck erhöhte. Die arme Frau. Druck erhöhen kann ich ganz gut. Es half aber alles nichts. Das Telefonat war beendet und ich musste selbst entscheiden, was nun sinnvollerweise zu tun ist. Erstmal auf die Quarantäne vorbereiten und die Vorräte auffüllen. Es entstand eine Einkaufsliste, die mir bis heute Freude macht und selbstverständlich musste noch eine Extraportion Toilettenpapier her. Es waren zwar noch zwölf Rollen im Vorratsschrank, aber ich war in meiner Machtlosigkeit der Meinung, dass man Toilettenpapier ja immer brauchen kann, es wird nicht schlecht und überhaupt ist es besser, Toilettenpapier zu kaufen, als sich wehrlos dem Schicksal zu ergeben.

Den restlichen Tag versuchte ich ruhig zu bleiben und mich abzulenken, indem ich einen mir sehr wichtigen Online-Termin am nächsten Tag vorbereitete. Funktionierte ganz gut. Ich habe zwischenzeitlich sogar das Halskratzen vergessen. Am Abend klingelte wieder das Telefon. Erneut der Papa meines Spielkameraden, der mir erklärte, dass ich ihn kurz vor dem ermittelten Ansteckungsfenster gesehen habe und deshalb raus sei aus der Nummer. Kein Test, keine Quarantäneanordnung! Großartig. Das Halskratzen war auch sofort weg. Interessant dachte ich noch, verabschiedete mich von meinem Freund, wünschte gute Besserung und freute mich, dieses Mal fein raus zu sein. Trotzdem kreiselte es in meinem Kopf weiter. Wie genau ist das denn nun mit diesem Ansteckungsfenster? Und was wenn das doch nicht ganz gestimmt hatte… Schon wieder hilflos und schon wieder sagt einem keiner was richtig und falsch ist. Ich habe schließlich für mich entschieden, mich in den nächsten Tagen zurückzuziehen, die geplanten Schulungen durch meinen Kollegen durchführen zu lassen und meinen Hals zu beobachten, obwohl ich eigentlich hätte postwendend zur Normalität zurückkehren können. War das jetzt panisch oder übervorsichtig, oder einfach nur vernünftig? Keine Ahnung! Es war meine Art in dieser Situation Verantwortung zu übernehmen.

Zwei Tage später klingelte gegen Abend wieder das Telefon. Es war die nette Dame vom Gesundheitsamt, die sich bei unserem ersten Gespräch meine Daten aufgeschrieben hatte und sich nochmal melden wollte, weil sie mich auf keiner der Listen gefunden hat. Ich erklärte ihr kurz die Situation und sagte abschließend, dass ich kein Fall für sie sei. Sie musste lachen und meinte nur, ich wisse gar nicht, wie gerne sie das gerade höre. In dem Moment wurde mir klar, dass unser System in Anbetracht des großen Chaos doch recht gut funktioniert. Was nicht fehlerfrei funktioniert hat, war in meinem Fall der Mensch, also ich…

“Es ist leichter, zum Mars vorzudringen als zu sich selbst.” C. G. Jung

Als ich schließlich einen Tag später damit angefangen habe, über Corona und mich selbst nachzudenken, bin ich über dieses Zitat des Begründers der analytischen Psychologie gestolpert und dachte mir nur, wie recht er hat. Betrachte ich die Dinge aus einer Metaebene, wirkt alles immer so klar. Ich weiß nicht wie oft ich schon über New York geflogen bin und mir dachte, wie ordentlich und strukturiert diese Stadt von oben aussieht und unten, mitten auf dem Times Square, muss ich aufpassen, nicht verloren zu gehen. Ähnlich geht es mir mit den Menschen. Von außen betrachtet scheint so vieles klar zu sein, steckt man selbst im Chaos, geht die Klarheit schnell verloren. Der Schlüssel dazu, sich nicht zu verlieren, ist bewusste Selbstführung. Hört sich erstmal ganz einfach an, wenn das Leben jedoch passiert, ist es oft so, dass unbewusste, uralte Mechanismen übernehmen und wir uns nicht mehr selbst führen, sondern nach externer Führung suchen. Damals, in der Höhle war das durchaus sinnvoll, heute brauchen wir das nicht mehr. Heute tragen wir alle Ressourcen, die uns erfolgreich machen, in uns. Spätestens seit der Aufklärung sollte uns das klar sein. “Sapere aude!” postulierte der große Immanuel Kant. Und Recht hatte er. Es bedarf Mut, sich seines Verstandes zu bedienen, führt es doch zwangsläufig irgendwann dazu, sich über sich selbst Gedanken zu machen. Aber leider bleibt uns nichts anderes übrig, als diesen Mut aufzubringen, denn diese Panikreaktionen sind in Hinblick auf Toilettenpapier ziemlich dämlich, in anderen Situationen können sie durchaus gefährlich werden. Außerdem sind sie anstrengend und kosten viel Energie.

Das Hirn umpolen… Was bitte?

Um die bundesdeutschen Toilettenpapiervorräte und unsere Nerven zu schonen, ist es also sinnvoll, unserem Gehirn dabei zu helfen, in der modernen, aufgeklärten Welt anzukommen, damit wir uns zukünftig bewusst selbst führen können. Hierzu ist es im ersten Schritt wichtig, eigene kognitive Muster zu erkennen und sie im zweiten Schritt zu durchbrechen. Hilfreich hierbei kann die sogenannte ABC-Theorie von Albert Ellis sein.

Ellis’ Theorie liegt zugrunde, dass wahrgenommene Reize unbewusst bewertet werden und diese Bewertung schließlich die Ursache für daraus abgeleitetes Verhalten ist.

  • A steht hierbei für den auslösenden Reiz (in meinem Fall für diesen Corona-Anruf).

  • Aus A resultiert B, die Bewertung, die in meinem Fall zunächst unbewusst und irrational abgelaufen ist. Mein Hirn hat sich sofort in einen Zustand größter Bedrohung katapultiert. Mein Gehirn dachte, ich habe Corona. Deshalb musste mir ja auch der Hals wehtun!

  • B führt zu C, den Konsequenzen (engl. Consequences), sowohl auf emotionaler, als auch auf Verhaltensebene. Auf emotionaler Ebene habe ich mich überrumpelt und hilflos gefühlt, was zum einen dazu geführt hat, dass ich intensiv nach jemanden gesucht habe, der mir sagt, was zu tun ist. Zudem habe ich versucht aktiv zu bleiben und etwas vermeintlich Sinnvolles zu tun. Jetzt habe ich 24 Rollen Toilettenpapier!

  • Während ich also vor meinen 24 Rollen Toilettenpapier saß, kam bei mir die Frage auf, ob das wirklich klug war. Wir sind bei Ebene D, dem Infrage stellen (engl. Disputation). Natürlich habe ich recht schnell verstanden, dass der bloße Anruf meines Freundes noch lange nicht bedeutet, dass ich für die nächsten vierzehn Tage auf mich alleine gestellt eingesperrt sein würde. Außerdem erkannte ich, dass ich niemanden brauche, der mir sagt was zu tun ist, weil ich das selbst ausgesprochen gut hinbekomme. Ich kann das mit dem Übernehmen von Verantwortung, eigentlich! Verdammt, was ist da nur passiert?

  • Diese Frage führte mich schließlich zu E, dem Effekt, der zur kognitiven Umstrukturierung führt. In meinem Fall war der Effekt, dass ich mich recht lächerlich mit meinen 24 Rollen Toilettenpapier gefühlt habe und als die nette Dame vom Gesundheitsamt ein zweites Mal angerufen hat, war ich irgendwie etwas kleinlaut, weil es mir inzwischen ein ganz kleines bisschen unangenehm war, dass ich bei unserem ersten Telefonat Anweisungen erwartet habe, die ich nur mir selbst hätte geben können. Mein Verhalten in einer unklaren Situation (in der es keine eindeutigen Vorschriften gibt) liegt in meiner Verantwortung. Punkt!

  • Deshalb geht es zurück zu B, jetzt eben B2. Ich habe gelernt, dass es zielführender ist, beim nächsten Mal die Situation rational und logisch zu bewerten, um auf C2 eben auch mit angemessenen Emotionen ein zielförderliches Verhalten an den Tag zu legen und eigenverantwortlich klare Entscheidungen zu treffen. Vor allem aber habe ich gelernt, dass ich keine Angst davor haben muss, eigenverantwortlich und bewusst zu entscheiden und zu handeln, weil das daraus resultierende Ergebnis einfach besser ist, als das Resultat emotionaler und aus Unsicherheit geprägter Übersprunghandlungen. Diese undurchdachten Bewertung resultieren übrigens aus unseren Erfahrungen, unserer Erziehung, unseren Glaubenssätzen und so weiter uns sofort. Also aus Faktoren, die aus unserer Vergangenheit resultieren und mit der aktuellen Situation nicht allzu viel zu tun haben. Unser faules Gehirn macht es sich eben gerne leicht. Wenn es nicht unbedingt sein muss, bewertet man nicht die wirklich aktuelle Situation, sondern greift lieber auf Altbekanntes zurück, obwohl in einer komplexen Welt keine Situation einer bereits erlebten gleicht…

Also einfach das Bewertungssystem auf Reset stellen

Liest sich wahrscheinlich ganz einfach. Eine konsequente Umbewertung ist jedoch ein Prozess der Zeit braucht. Der Weg hin zu bewusster Selbstführung ist lang, aber lohnend, weil auf dessen Zielgerade ganz viel Ruhe und Gelassenheit winken. Hinzu kommt, dass irrationale Bewertungen (beruflich wie privat) in unserer komplexen und dynamischen Welt oft deutlich fatalere Folgen als ein Schrank voller Toilettenpapier haben. Wer erfolgreich sein möchte, wer andere erfolgreich führen möchte, muss im ersten Schritt lernen, sich selbst zu führen. Und das geht nicht, ohne sich mit sich selbst und seinen eigenen Werten oder Bewertungen zu beschäftigen, denn sie bestimmen unser Fühlen und Handeln. Ein Coach kann hierbei Hilfestellung leisten, den Weg ein wenig zu beleuchten. Gehen muss man diesen Weg jedoch allein, eigenverantwortlich, weil wir die Verantwortung für unser Handeln tragen. Klar gibt man uns einen gewissen Handlungsspielraum. Diesen gibt uns zum Beispiel der Staat durch Gesetze vor, der Arbeitgeber durch Verträge und Regeln und wir uns selbst durch Normen. Allerdings muss uns bewusst sein, dass das Leben auf allen Ebenen so komplex und dynamisch geworden ist, dass wir nur erfolgreich sein können, wenn wir im Rahmen dieser Vorgaben das tun, was Kant uns schon 1784 ans Herz gelegt hat: nämlich den Mut uns unseres Verstandes zu bedienen und eigenverantwortlich zu entscheiden und zu handeln. Und eh das hier in eine falsche Richtung geht, sei abschließend noch erwähnt: mein Verstand sagt mir, dass ein studierter Virologe fundierteres Expertenwissen in Hinblick auf Pandemien hat, als Köche, YouTuber und anderen Verschwörungstheoretiker. Denn Verantwortung bedeutet nicht nur Verantwortung für sich selbst, sondern auch für seine Mitmenschen zu tragen. Das nennt man Solidarität.

Eure Constance

PS: All jenen, die sich etwas intensiver mit dem ABC-Modell und ihrem eigenen Bewertungssystem auseinandersetzen möchten, ohne sich einen Coach leisten zum müssen, lege ich H.H. Stavemanns Buch “… und ständig tickt die Selbstwertbombe” sehr ans Herz. Natürlich ist diese Werbung unbezahlt. Das Buch ist für den “Endverbraucher” geschrieben und beinhaltet auch zum ABC Modell Arbeitsblätter und Denkanstöße, die einem den Weg durch sein eigenes Bewertungssystem ein wenig beleuchten.

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Wenn Emotionen hochkochen verschiebt sich das Wertesystem

Toilettenpapier: auf jeden Fall eine gute Investition