Soft Skill

Komplizierte Flugzeuge, komplexe Luftfahrt... Wie Soft Skills über den Wolken Leben retten

Alles nur Wortklauberei

Habt ihr euch mal Gedanken darüber gemacht, was der Unterschied zwischen “kompliziert” und “komplex” ist? Freund Duden sagt folgendes:

  • kom/pli/ziert - in seiner Vielfältigkeit, Unübersichtlichkeit o. Ä., schwer zu durchschauen, zu handhaben

  • kom/plex - 1. vielschichtig, viele Dinge umfassend 2. allseitig, umfassend

So weit so gut und eigentlich das Gleiche! -Wirklich? Mit Nichten, meine Damen und Herren. Einer der größten Fehler unserer Zeit ist es, zu glauben dass es sich hierbei im Prinzip um das Gleiche handelt, weil man somit auf beides auch gleich reagiert. Schauen wir uns deshalb mal an, was der Unterschied zwischen komplexen und komplizierten Systemen ist.

Ein kompliziertes System ist vorhersagbar. Es ist zwar schwer zu durchschauen, aber es ist durchschaubar. Allerdings muss man hierfür zu einem Experten werden. In komplizierten Systemen ist die Ursache-Wirkungskette klar zu belegen und sie können von außen kontrolliert werden. So ein Flugzeug ist ein gutes Beispiel für ein kompliziertes System. Wenn etwas nicht funktioniert, kann man dafür eine Ursache finden, allerdings ist das nicht einfach, weshalb man hierfür eine Ausbildung zum Fluggerätemechaniker benötigt. Auch um das komplizierte System Flugzeug von außen zu kontrollieren, benötigt man eine Ausbildung, eigentlich sogar zwei: zum einen die Pilotenausbildung und zum anderen noch ein spezielles Type Rating, eine sogenannte Musterberechtigung, für eben dieses Flugzeug, das man fliegt. Für solche komplizierte Systeme sind Experten Gold wert, weil diese Systeme ohne ihr Fachwissen nicht zu beherrschen oder deren Reaktionen nicht vorherzusagen sind.

Ein komplexes System ist dagegen unvorhersehbar, und steckt voller Überraschungen. Es ist vielschichtig, alles hängt irgendwie zusammen, jedoch ist eine Ursache-Wirkungskette nicht eindeutig identifizierbar, weil es immer mehrere Faktoren sind, die zu einem wahrnehmbaren Outcome führen. Komplexe Systeme kann man vortrefflich von außen beobachte, kontrollieren kann man sie von außen nicht. Sie sind wie lebende Organismen, weil alles zusammenhängt und man diesen Zusammenhang auf den ersten Blick oft nicht erkennt.

Ein komplexes System besteht häufig aus vielen Teilen, die für sich genommen eigenständigen Standards folgen. Diese Teile können durchaus auch komplizierte Systeme sein. Diese komplizierten Flugzeuge sind zum Beispiel ein elementare Bestandteile der Luftfahrt. Doch bereits im Jahr 1977 hat die Luftfahrt verstanden, dass es nicht ausreichend ist, das komplizierte System Flugzeug zu perfektionieren und die Piloten, die es beherrschen sollen, bestmöglich auszubilden, um erfolgreich zu sein. Am 27. März 1977 kollidierten auf dem Flughafen von Teneriffa zwei fehlerfrei funktionierende Jumbo-Jets mit sehr gut ausgebildeten Piloten. Hier der Link zum Blog, der erklärt was passiert ist. Dieser Unfall, bei dem 583 Menschen ihr Leben verloren, sorgte dafür, dass sich eine ganze Branche hinsichtlich ihrer Erfolgsfaktoren hinterfragt hat.

Wie man in komplexen Umfeldern kompliziert scheitert

Man stellte fest, dass es an diesem Tag zu viele Faktoren gab, die von außen nicht kontrollierbar waren: ein Attentat auf dem Flughafen von Las Palmas, das zur Überfüllung des Flughafens von Teneriffa geführt hat, dieser dichte Nebel, der Zufall, dass eben dieser Lotse sich so ausgedrückt hat, dass der Kapitän der einen Maschine es falsch verstehen konnte, dieser zweite Zufall, dass die andere Maschine just zu dieser Zeit über die Startbahne rollte und dass der Co-Pilot sich nicht traute, seinen Kapitän zu hinterfragen und so weiter und so fort… Der Luftfahrtpsychologe James Reason beschreibt diese Verkettung unterschiedlichster Faktoren, die einem Flugzeugunglück immer vorausgehen müssen, in seinem Swiss-Cheese-Model, das ihr ebenfalls im oben verlinkten Blog findet.

Anfang der Achtziger machte sich in der Luftfahrt die Idee breit, dass man die komplizierten Flugzeuge zwar durch Experten fliegen und warten lassen sollte, aber dass deren Expertenwissen nicht ausreichend ist, um auch die komplexe Luftfahrt als Ganzes zu verstehen und entsprechend zu reagieren. Man erkannte, dass die Idee, ein komplexes Umfeld von oben, durch einen Experten, kontrollieren zu lassen, ein Kardinalsfehler war, der an diesem Tag in Teneriffa viele Menschen das Leben kostete. Allerdings war damals zunächst nicht klar, wie man es anders machen könnte. Bis dato kannte man das althergebrachte System, in dem der eine kompetente Experte alle anderen steuert, ihnen sagt, was zu tun ist. Nach dem Unglück von Teneriffa verstand man jedoch relativ schnell, dass es im Prinzip nur eine einzige Instanz gibt, die in einem komplexen Umfeld erfolgreich agieren kann: das Team. Somit war das Unglück von Teneriffa die Geburtsstunde dessen, was die Luftfahrt Crew Ressource Management nennt. Man stellte fest, dass komplexe Umfelder unmöglich von einer einzelnen Person ganzheitlich verstanden und beherrscht werden können. Was man benötigte, war eine neue Form der Zusammenarbeit, der Führung, dem Umgang mit Fehlern und dem Prozess der Entscheidungsfindung. Nicht mehr und nicht weniger. Man implementierte Backup Behavior, Kommunikationsstandards, man akzeptierte, dass Fehler im komplexen Umfeldern nicht zu vermeiden sind und entschied sich deshalb Fehler als systemimmanent zu akzeptieren, um als Organisation aus den Fehlern des einzelnen zu lernen. Vor allem lernten Kapitäne recht schnell, dass sie mutige Crewmitglieder benötigen, die (im Gegensatz zum Co-Piloten in Teneriffa) ihre Gedanken und Bedenken teilen. Nein, noch nicht einmal Kapitäne sind in der Lage, Komplexe Systeme bis ins letzte Detail zu verstehen und zu durchschauen. Allein die Physiologie der Wahrnehmung macht ihnen hier einen deutlichen Strich durch die Rechnung. So verarbeitet unser Gehirn nur etwa fünf Prozent aller Sinneswahrnehmungen. Da ist man doch froh, wenn neben einem selbst jemand sitzt, der fünf weitere Prozent verarbeitet. In einem dynamischen, sich ständig ändernden Umfeld ist das noch immer nicht wirklich viel, aber wenigstens ein bisschen mehr. Als Nicht-Mathematiker darf ich mich zu der Aussage hinreißen lassen, dass man zu zweit immerhin eine doppelt so hohe Erfolgsquote hat!

So lernt die Luftfahrt seit vierzig Jahren immer weiter dazu. Der entsprechende Trainingsleitfaden wird stetig und aktuellen Ereignissen folgen weiterentwickelt, getreu dem Motto Inspect and Adapt. Ganz schön agil sag ich da als Scrum Master! Das wichtigste, was die Luftfahrt jedoch gelernt hat, ist den Wert eines jeden einzelnen Crew Members wahrzunehmen, weil jeder benötigt wird, um erfolgreich zu sein, der erfahrene Kapitän genauso wie die frisch ausgebildete Flugbegleiterin.

Um an dieser Stelle noch ein wenig tiefer einzutauchen, werde ich euch nächste Woche vom 06. Juli 2013 berichten, als auf dem Flughafen von San Francisco eine Boeing B777 der koreanischen Asiana heftig verunglückte, weil die Experten ganz vorne Fehler machten. Der Grund, weshalb dieser Unfall mit drei Toten nicht zu einer Katastrophe mit über 300 Toten wurde, war die Reaktion der Kabinenbesatzung, die in dieser extrem dynamischen Situation im richtigen Moment Verantwortung übernahm und als Team, das leistete, was ein einzelner Mensch, egal wie gut ausgebildet und wie erfahren, nicht zu leisten in der Lage gewesen wäre. Dieser Vorfall führte dazu, dass Flugbegleiter in Korea auch in der öffentlichen Wahrnehmung eine große Aufwertung erfahren haben. Aber dazu nächste Woche mehr. Für heute soll es das mit Flugzeugen gewesen sein.

Vom Flugzeug in die Welt des Big Business

Letzte Woche wurde ich in einem Gespräch gefragt, was denn für mich der wirkliche Unterschied zwischen traditionellen und agilen Organisationsstrukturen ist. Das war eine gute Frage und ich musste kurz nachdenken. Aber eigentlich ist es klar: das Menschenbild! Ich habe die Erfahrung gemacht, dass agile Strukturen ihr Humanvermögen, also den Wert ihrer Mitarbeiter, viel bewusster wahrnehmen. In agilen Strukturen kann ich nicht kontrollieren. Ich muss vertrauen. In agilen Strukturen versuche ich nicht, Höchstleistung durch maximalen Druck zu erzeugen, sondern indem ich alles daran setze, dass meine Mitarbeiter sich sicher und wohl fühlen, weil ich davon ausgehe, dass die Menschen in meinem Unternehmen bereitwillig ihr Bestes geben, weil es ihnen wichtig ist, sich einzubringen, zu gestalten und weil sie ein wertvoller Teil der großen Ganzen sein wollen. In agilen Strukturen haben Chefs erkannt, dass sie ohne ihre Teams nichts sind und werden deshalb automatischen zu dem, was man inzwischen Servant Leader nennt.

All jene unter euch, die jetzt darauf warten, dass ich anfange mit Glitzer-Konfetti um mich zu werfen, damit mich dann ein Einhorn abholt, sei gesagt, das ist keine Utopie. Es gibt immer mehr Unternehmen, die sich entschieden haben, anders zu sein. Es gibt immer mehr Chefs, die hochqualifizierte Mitarbeiter nicht mehr für teures Geld anheuern, um ihnen dann genau zu sagen, was zu tun ist, sondern diese Mitarbeiter in die Position bringen, ihr gesamtes Potenzial zu nutzen, indem sie ihnen Gestaltungsraum geben. Es gibt sie, diese Chefs, die die Sache mit dem Humanvermögen und der sozialen Verantwortung wirklich verstanden haben. Und dabei sind diese Chefs auch noch (wirtschaftlich) unfassbar erfolgreich. Ich möchte euch in diesem Zusammenhang Frederic Laloux’ Buch “Reinventing Organizations” ans Herz legen. Laloux stellt diese Unternehmen und ihre Mindsets vor und erläutert ihren Erfolg sehr kurzweilig und anschaulich (diese Werbung ist natürlich unbezahlt!).

Vielleicht eine Utopie, aber der Unterschied zwischen komplex und kompliziert bleibt trotzdem bestehen

Ich weiß, das alles hört sich für unsere Ohren manchmal ein wenig verrückt an. Sicher wird Agilität nicht alles lösen und es gibt auch schon die ersten, die post-agile Strukturen propagieren… Selbstverständlich darf im Dschungel der New Work jeder eine eigene Meinung haben. Und vielleicht ist das mit der Agilität ja auch völliger Quatsch. Was aber bleibt, ist der Unterschied zwischen kompliziert und komplex und an dem einen mit der Medizin für das andere rumzudoktern ist nicht zielführend. Es ist sogar dumm und in der Luftfahrt gefährlich. Wer erfolgreich sein will, muss wissen, mit was er es zu tun hat. Und sollte sich ein System doch eher als komplex herausstellen, gibt es nur eine Lösung: das Team, das Humanvermögen - um nicht von einer vielschichtigen Dynamik überrollt zu werden.

Natürlich darf man auch diesen Soft-Skill-Hokuspokus verteufeln und als nicht Performance-relevantes Beiwerk verstehen. Wir leben ja auch so alle zusammen, kommen auch bei der Arbeit miteinander klar und das läuft doch auch alles, irgendwie, schon immer… Ja, stimmt, das lief auch in der Luftfahrt vor 1977 irgendwie, allerdings offensichtlich nicht so gut. Man muss dem Menschen jedoch tatsächlich erst beibringen, sich in komplexen und dynamischen Situationen gemeinsam mit anderen zurecht zu finden. Von allein tut der Mensch das nicht. Ohne Schulung verhält sich der Mensch genauso, wie es sein Überleben über Jahrmillionen gesichert hat: er schweigt, passt sich an, ist ungeduldig, so stark fokussiert, dass er um sich herum manchmal gar nichts mehr wahrnimmt, er folgt dem Stärksten und Erfahrensten blind und wenn es eng wird, schlägt er entweder zu, oder läuft weg. Das hat sehr lange gut funktioniert. Damals war das Leben kompliziert und gefährlich. Heute ist es komplex und der Mensch muss lernen, sein Potenzial so zu nutzen, dass er auch weiterhin erfolgreich ist. Dass ein solcher Lernprozess erfolgreich sein kann, beweist uns die zivile Luftfahrt tagtäglich. Hier sind Soft Skill Schulungen gesetzlich vorgeschrieben und die Unfallstatistik zeigt, dass sie erfolgreich sind. Zwar ist bei etwa 80 Prozent aller Unfälle und Zwischenfälle in der zivilen Luftfahrt der Mensch dafür verantwortlich, dass es schief ging und geht. Das ist ja auch logisch: ein komplexes Umfeld kann nur durch Menschen, die im Team zusammenarbeiten, beherrscht werden. Und Menschen machen eben Fehler, auch im Team. Betrachtet man sich aber die Statistik der letzten vierzig Jahre, sieht man, dass die Unfälle in der zivilen Luftfahrt signifikant weniger wurden und werden, weil die agierenden Crews immer besser zusammenarbeiten, Backup Behaviour immer konsequenter nutzen. Denn genau das wird ihnen alle Jahre wieder in Schulungen vermittelt. In Hinblick auf die Sicherheit ist die Luftfahrt also immer erfolgreicher geworden. Klar geht es in eurem Arbeitsumfeld wahrscheinlich nicht unbedingt darum, zu fliegen. Aber glaubt mir, Erfolg ist Erfolg und in einem komplexen Umfeld sind es immer die gleichen Faktoren, die einen erfolgreich machen, auch wenn die Definition von Erfolg unter Umständen eine ganz andere ist. Nennt es Agile, nennt es Crew Ressource Management, von mir aus auch Horst oder Uschi… Gebt dem Kind euren ganz eigenen Namen. Orientiert euch an dem, was schon da ist, oder erfindet etwas Neues, das zu eurem Umfeld passt… Alles ganz egal! Aber werdet euch eures Humanvermögens bewusst, eures eigenen und dem eurer Mitarbeiter, Kollegen, Teammitglieder. Denn das ist der Schlüssel zum Erfolg.

Eure Constance

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Über den Wolken…

Aerodynamik oder Zauberei? Auf jeden Fall komplex!