Eigenverantwortung

Denn die sicherste Airline ist die, die nicht fliegt! -Sicherheit vs. Produktivität

Ende einer Trilogie…

In meinen letzten beiden Artikeln habe ich über den Absturz einer Maschine der Air Ontario im kanadischen Dryden berichtet. Klar beschäftigt mich die Frage nach der Schuld. Immerhin sind Menschen gestorben, Menschen mit Träumen, Familien, Plänen. Ich habe die Ereignisse aus Sicht der einzigen überlebenden Flugbegleiterin und des verstorbenen Kapitäns berichtet. Beide haben ihr Bestes gegeben und dabei Fehler gemacht, Fehler, die menschlich für jeden nachvollziehbar sind, die uns vielleicht auch passiert wären, wären wir an ihrer Stelle gewesen. So hat jeder Schuld auf sich geladen, aber wie schwer wiegt diese Schuld wirklich? Die Crew agierte während der Ereignisse innerhalb der unternehmenskulturellen Möglichkeiten und Normen von Air Ontario und am Ende bleibt die Frage, ob nicht vielleicht das Management schuld ist, weil es keine angemessene Sicherheitskultur pflegte, die diesen Unfall vielleicht verhindert hätte? Zu diesem Ergebnis kamen jedenfalls die Unfallermittler. Es gab viele Faktoren, die zur Katastrophe führten. Aber am Ende fehlte es vor allem an einer gemeinsamen Sicherheitskultur bei Air Ontario, die es der Flugbegleiterin ermöglicht hätte zu sprechen, den Kapitän befähigt hätte stopp zu sagen. Vielleicht hätte der Flieger in einer soliden Sicherheitskultur noch nicht einmal den Flughafen von Thunder Bay verlassen. Aber lasst uns ein drittes Mal aus einer dritten Perspektive schauen was passiert ist.

Chronologie einer Katastrophe

Was führte am 10. März 1989 zum Tod von 24 Menschen? Auf den ersten Blick war es die Entscheidung des Kapitäns, nicht zu enteisen. Schuld eindeutig geklärt! Aber was führte zu dieser Entscheidung? Der Stress und Druck unter dem der Kapitän war? Der Flieger war ohnehin schon zu spät unterwegs und alles schien sich gegen den Kapitän zu verschwören. Vielleicht war er so gestresst, dass er das Eis auf den Tragflächen nicht wahrgenommen hat. Sonia, die junge Flugbegleiterin, hat das Eis jedenfalls gesehen, sich aber nicht getraut, den Kapitän darauf anzusprechen. So gesehen trägt auch sie Schuld. Hätte der Kapitän weniger gestresst gewirkt, wäre es Sonia vielleicht leichter gefallen, ihn anzusprechen.

Man kann es drehen und wenden wie man will, die Schuld ist in dieser komplexen Gemengelage nicht eindeutig zuzuordnen. Eine der Fragen, die mich beschäftigt, ist woher dieser Stress kam, der den Kapitän offensichtlich den Überblick verlieren ließ. Dazu müssen wir uns kurz die Schuhe des Managements von Air Ontario anziehen.

Sicherheit vs. Produktivität - Das alte Managementdilemma

Air Ontario war Ende der achtziger Jahre eine kleine, regionale Airline, die vor allem Zubringerflüge für Air Canada durchführte. Die kleine Airline war am Wachsen und führte gerade die Fokker F28 als neues, modernes Flugzeugmuster ein. Alles das geschah unter gnadenlosen Wettbewerbsdruck, der zu dieser Zeit unter anderem durch die kommerzielle Deregulierung der Luftfahrt hervorgerufen wurde. Im Prinzip stand den meisten Airlines das Wasser bis zum Hals und es ging darum, sich gegen die Mitbewerber durchzusetzen. Unter anderem bedeutete das für Air Ontario, dass die neuen Flieger um jeden Preis in der Luft sein mussten. -So auch am Morgen des 10. März. Die Fokker mit der Kennung C-FONF stand noch in Thunder Bay, als festgestellt wurde, dass die Auxiliar Power Unit (APU), eine Art Hilfstriebwerk, defekt war. An sich ist das kein allzu großes Problem. Die APU wird benötig, um auch am Boden Strom zu haben und liefert die initiale Energie zum Starten der Triebwerke. Sie kann jedoch auch durch ein Bodenstromaggregat ersetzt werden. So entschied Air Ontario, dass der Flieger mit Defekt auf die Reise geht. Derartige Entscheidungen werden bis heute getroffen. Ich weiß nicht, wie oft ich in meiner aktiven Zeit mit defekter APU unterwegs war.

Als die Crew bereits an Bord war, erfuhr Air Ontario, dass Air Canada noch 20 weitere Gäste für den Flug von Thunder Bay über Dryden nach Winnipeg buchen wollte. Mehr Gäste bedeutete mehr Geld und wenn die Gäste auch noch vom wichtigsten Kunden eingebucht werden, sagt man doch nicht nein! Mit dieser, aus Sicht des Managements absolut nachvollziehbaren Entscheidung, nahm die Katastrophe ihren Lauf. Für den Kapitän bedeutete dies, dass er noch vor dem Start den Flieger zum Teil enttanken musste. Ursprünglich wurde so viel Kerosin getankt, dass es bis nach Winnipeg ausgereicht hätte und die Crew in Dryden nicht nachtanken musste. Mit zwanzig Gästen mehr war der Flieger nun zu schwer. Der Kapitän wollte lieber Gäste ausladen. Das Management entschied jedoch, dass enttankt wird. Mehr Gäste, mehr Geld und außerdem kamen diese ja auch direkt von Air Canada. Außerdem waren die Plätze ja frei!

So ging es mit Verspätung Richtung Dryden. Die Gäste hatten Angst, dass sie ihre Anschlussflüge verpassten und der Kapitän war gestresst und zusätzlich sicher auch wütend. Die Wut und der Stress wurde mehr, als klar war, dass es in Dryden kein Bodenstromaggregat gab. Für ihn bedeutete das, dass er eines der beiden Triebwerke permanent laufen lassen musste. - Beim Ein- und Aussteigen der Gäste und auch beim Betanken. Besonders dieses sogenannte Hot Refueling, also das Tanken mit laufenden Triebwerken, stellt ein besonderes Sicherheitsrisiko dar. Der Druck auf den Kapitän muss immens gewesen sein. Er wurde beobachtet, wie er sehr wütend mit Air Ontario telefonierte. Aber Air Ontario war weit weg und er musste sich vor Ort in Dryden ziemlich allein gefühlt haben. Vielleicht hat er das Eis auf den Tragflächen nicht gesehen, vielleicht hat sein Unterbewusstsein das Eis auch einfach ausgeblendet, wusste es doch, dass ein Enteisen mit einem laufenden Triebwerk nicht möglich gewesen wäre. Nach dem Enteisen hätte man den Flieger nicht mehr starten können…

Sicherheitskultur - manchmal eine Mission Impossible

Nun kann man also sagen, das Management war schuld! Aber wie schwer wiegt diese Schuld? Das Management hat zunächst den primären Job des Managements, nämlich wirtschaftlich erfolgreich zu sein, gemacht. Wer will ihnen einen Vorwurf machen. Technische Zusammenhänge zwischen der APU, dem Enteisen und den Bodenstromaggregaten, der Kerosinmenge und der Aerodynamik sind nun wirklich nicht das Thema des Managements. -Ebenso, wie Excel-Tabellen mit Bilanzen nicht die Expertise von Piloten und Flugbegleitern ist. Aus diesem Grund braucht es einen Austausch zwischen beiden Seiten, einen Kompromiss.

Es liegt in der Natur der Dinge, dass ein jeder vor allem seinen eigenen Problemraum im Fokus hat. Hinsichtlich der Luftfahrt hatte und habe ich meinen Fokus auf Sicherheit, musste jedoch akzeptieren, dass die sicherste Airline die ist, die nicht fliegt ist. Und da eine Insolvenz als absolute Sicherheitsmaßnahme auch irgendwie ungünstig ist, geht es darum, bestmögliche Kompromisse einzugehen. Dieses bewusste eingehen eines Kompromisses nennt man Sicherheitskultur. Wie ausgeprägt diese ist, muss jede Airline für sich selbst festlegen. Eine Gradwanderung ist es allemal. In meiner früheren Sicherheitskultur war es undenkbar, dass ein schlafendes Kind zur Landung nicht angeschnallt wird, oder dass Notausgänge zur Landung mit Handgepäck zugestellt wurden. Sehr regelmäßig haben sich meine Gäste darüber zum Teil recht heftig beschwert. Airline XY sei viel besser und familienfreundlicher. Habe man da das Kind doch einfach schlafen lassen… Ja, Sicherheit ist nicht nur teuer, sondern zuweilen auch wenig kundenfreundlich. Aber ist ein Unfall wie der von Air Ontario eine Alternative? Und ja, sagt gerne, dass ist lange her! Aber dann schaut Euch das Marktumfeld von Airlines Ende 2022 an! Der Druck auf Management und Besatzung ist riesig. -Und eine funktionierende Sicherheitskultur ist gerade im Moment umso wichtiger.

Und wie geht Sicherheitskultur

Eigentlich geht Sicherheitskultur ganz einfach: Jeder Einzelne übernimmt die Verantwortung, Probleme und Missstände anzusprechen. Wie bei Kulturen so üblich muss auch die Sicherheitskultur von allen Akteuren getragen werden. Am Ende des Tages geht es um Kommunikation: Um Zuhören und um das Vertrauen auch kritisch sprechen zu dürfen. So lande ich auch beim Thema Sicherheitskultur wieder bei meinem Hauptthema: Psychologische Sicherheit. Das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen braucht es auf allen Ebenen, damit es zu einem ehrlichen Austausch kommt, der die tatsächlichen Probleme ehrlich wiedergibt. Nein, das Management muss sich nicht mit technischen Aspekten der Fliegerei auskennen. Es muss sich aber bewusst darüber sein, dass jede ihrer Entscheidungen Auswirkungen hat, deren tatsächlich Auswirkungen aus Managementperspektive oft nicht allumfassend in Betracht gezogen werden können. Derartige Entscheidungen müssen von denjenigen getroffen werden, die das tatsächliche Geschehen überblicken können. Dabei muss das Management darauf vertrauen, dass diese Entscheidungen nach bestem Wissen und in bestmöglicher Abwägung aller Fakten getroffen wird. Ja, diese Dezentralisierung von Entscheidungsfindungsprozessen sind das Herzstück moderner Organisationen, nicht nur in der Luftfahrt, und brauchen unendlich viel Vertrauen.

Über den Tellerrand hinaus…

Inzwischen habe ich meine zweite berufliche Heimat in der Bankenwelt gefunden und bin erstaunt das alte Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Produktivität auch hier wiederzufinden. Es sind die fast identischen Diskussionen und auch hier, in meiner neuen Welt, sind es Eigenverantwortung, Kommunikation und Austausch, die zu einer lebendigen und transparenten Sicherheits- oder Risikokultur führen. In einer komplexen und dynamischen Welt braucht es eben immer beides um erfolgreich zu sein: Sicherheit und Risiko.

Damit wäre ich nun mit meiner Trilogie rund um Air Ontario am Ende. Den Schuldigen habe ich nicht gefunden. Aber was ist schon Schuld?

Habt einen schönen Sonntag.

Eure Constance

PS: Und ja, lieber Manager, wenn Du nun sagst, dass Du dieses Vertrauen, von dem ich geschrieben habe, unmöglich aufbringen kannst, weil Du doch all die Verantwortung für Sein oder Nicht-Sein trägst, dann verstehe ich Dich. Dann kannst Du nicht anders empfinden, weil es Dein unternehmenskulturelles Umfeld momentan nicht hergibt. Aber an Kultur lässt sich arbeiten. Ich verspreche Dir, dass Du diese Bedenken in einer Kultur der psychologischen Sicherheit nicht mehr so stark empfinden wirst. - Und tatsächliche Kultur machen wir alle, auch Du. Deshalb sei mir an dieser Stelle ein Buchtipp gestattet: “Die angstfreie Organisation” von Amy C. Edmondson, Harvard-Professorin und im letzten Jahr seitens der Thinkers50 Gilde zur wichtigsten Vordenkerin in der Wirtschaft ausgewählt.

Über den wolken…

… sollte das Risiko wohl kalkuliert sein!

Warum Leadership Followership braucht - Ein Beispiel aus dem Flugzeug

Ein Coach auf Abenteuerreise

Heute schreibe ich Euch aus dem schönen Prag, wo ich an diesem Wochenende angehende Flugbegleiter im Human Factors Bereich schulen darf. Ich liebe diese kleinen Ausflüge in meine alte Welt und finde, es ist an der Zeit auch Euch im Rahmen meines Blogs mal wieder in die Flugzeugwelt zu entführen.

Wenn selbst Götter machtlos sind

Als Coach und Berater habe ich momentan einen starken Fokus auf die Begleitung und Entwicklung von Führungskräften. Überhaupt scheint das Thema Leadership ein absolutes Fokusthema der schönen neuen Welt der New Work zu sein. Fakt ist jedoch, dass selbst Götter machtlos sind, wenn niemand an sie glaubt. Was aus meiner Sicht in der Welt außerhalb der High Risk Bereiche sträflich vernachlässigt wird, ist das Thema Followership. Dabei gibt es keinen guten Leadership ohne guten Followership und ebenso, wie man Menschen für das Thema Leadership sensibilisieren sollte, sollte man Menschen auch für das Thema Followership sensibilisieren. Die Luftfahrt ist an dieser Stelle deutlich weiter. -Sicher auch, weil Misserfolge in der Luftfahrt für gewöhnlich ziemlich absolut sind und nicht vertuscht oder schöngeredet werden können. Verunglückt ein Flugzeug ist das ein glasklarer Fakt, den kein Controlling der Welt mehr “schönrechnen” kann. Und bereits seit Ende der siebziger Jahre ist klar, dass der Mensch und das Team eine nicht zu unterschätzende Schlüsselrolle einnehmen, wenn es darum geht, die Dynamik und Komplexität, die es mit sich bringt, wenn man in ziemlich schweren Blechdosen ziemlich schnell um die Erde düst, zu managen. Somit blickt die Luftfahrt auf viele Jahre Erfahrung im Bereich des Human Factors Training zurück und versteht es nicht nur Leadership, sondern auch Followership zu schulen.

Die eigenen Wurzeln stets vor Augen

Wann immer ich eine Gruppe junger, angehender Flugbegleiter vor mir habe, muss ich daran denken, wie es war, als ich damals im 134. Flugbegleiterlehrgang der Condor saß. Es war aufregend, interessant, sehr anstrengend und manchmal sogar schockierend. In der Retrospektive muss ich allerdings sagen, dass es aber auch kein Hexenwerk war. Das Handwerk ist schnell gelernt, die Routine kehrt schnell ein. Man hat viele Check-Listen, die einem Sicherheit geben. Ja, es ist körperlich zuweilen sehr anstrengend und wenn Menschen mit einem geregelten Tagesablauf sagen, sie sind nach der Arbeit müde, ist das definitiv eine andere Form von müde, als die absolute körperliche Ausgelaugtheit nach einem anstrengenden Nachtflug in Kombination mit Jetlag. Aber auch das ist im Rahmen des Machbaren, sonst wäre ich sicher selbst nicht so viele Jahre geflogen. Es gibt jedoch einen Aspekt, der mir damals, mit Anfang zwanzig nicht bewusst war, der mir jedoch in den darauffolgenden Jahren immer deutlicher und klarer wurde: Um ein gutes Crewmitglied zu sein, bedeutet es zum einen, sich in die Hierarchie einzufügen, gleichzeitig aber auch ein unglaubliches Maß an Eigenverantwortung zu übernehmen. Denn jedes einzelne Crewmitglied übernimmt ganz persönlich Verantwortung für das größte Gut unserer Welt: Für Menschenleben! -Für die Leben der Menschen an Bord. Sich dieser großen Verantwortung bewusst zu sein und ihr im täglichen Tun gerecht zu werden, ist die eigentliche Herausforderung für diese zauberhaften jungen Menschen, mit denen ich heute den ganzen Tag im Lehrsaal und auf der Flugzeugattrappe verbringen durfte.

Als Trainer ist es gar nicht so einfach, diese doch recht abstrakte Verantwortung greifbar zu machen. Hierfür arbeite ich gerne mit konkreten Beispielen. An diesem Wochenende habe ich mich für eine junge, kanadische Flugbegleiterin entschieden, die vor vielen Jahren als einziges Crewmitglied den Absturz einer Maschine der Air Ontario überlebt hat.

Zurück in die Vergangenheit

Wir schreiben den 10. März 1989. Sonia Hartwick arbeitet seit zwei Jahren als Flugbegleiterin bei Air Ontario. Eine attraktive Frau, vielleicht Mitte zwanzig, mit blondem Haar, blauen Augen und einem strahlenden Lächeln. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Katherine Say, Kapitän John Morwood und dem Ersten Offizier Keith Mills soll das der letzte Tag eines mehrtägigen Einsatzes sein. Kapitän Morwood freut sich darauf, am nächsten Tag seinen Urlaub mit der Familie anzutreten und alle anderen freuen sich sicher auf zuhause. An diesem Tag soll es mit einer Fokker F28 von Thunder Bay nach Winnipeg mit einem kurzen Zwischenstopp in Dryden gehen. Eigentlich nichts Großes. In Dryden angekommen ist das Flugzeug bereits verspätet und die Verspätung scheint weiter anzuwachsen. - Ein Umstand, der für eine Besatzung immer eine gehörige Extraportion Stress bedeutet. Dem Flugplan hinterherzujagen ist keine Freude. Ein zusätzlicher Stressfaktor für die Piloten ist, dass man entschieden hat, die Maschine mit einer defekten Auxiliary Power Unit (APU), einer Art Hilfstriebwerk, das zum einen die initiale Energie liefert, die man braucht um die Triebwerke zu starten, zum anderen aber auch den Strom am Boden liefert, fliegen zu lassen. Eigentlich ist eine defekte APU kein Beinbruch und ich bin selbst schon oft mit einem solchen Defekt unterwegs gewesen. An Flughäfen gibt es Bodenstromaggregate, die die APU ersetzen. Also alles gut. Allerdings ist der Flughafen von Dryden so klein, dass er an diesem Tag keine Bodenstromaggregate zur Verfügung stellen kann. Um überhaupt wieder starten zu können, müssen die Piloten eines der beiden Triebwerke während der gesamten Bodenzeit laufen lassen. Sie müssen betanken und Boarden während das Triebwerk läuft. Heute wäre ein solches Vorgehen verboten, damals war es akzeptabel. Für die Piloten, besonders für den Kapitän, bedeutet das an diesem Tag eine große Menge Extrastress.

In der Kabine geben Sonia und Katherine ihr Möglichstes, um diesen Stress vor den Gästen zu verbergen und den Unmut der Gäste hinsichtlich der Verspätung zu kompensieren. Während der Flieger in Dryden abgefertigt wird, schlägt das Wetter plötzlich um und es beginnt zu schneien. Der Stress wird größer, denn die Verspätung droht weiter anzuwachsen. Ich weiß gar nicht, ob Sonia Familie hat, auf die sie sich freut, Kinder, die auf sie warten, aber ich weiß, wie sehr man sich an solchen Tagen einen pünktlichen Feierabend wünscht.

Sicher möchte auch Kapitän Morwood nachhause und entscheidet, sich zu beeilen, die Türen zu schließen, und in Richtung Startbahn zu rollen. Was Kapitän Morwood übersieht, ist, dass die veränderte Wettersituation dazu geführt hat, dass sich Eis auf beiden Tragflächen gebildet hat. Fahrlässig, könnte man meinen. Aber wer von Euch hat nicht schon einmal im Stress etwas übersehen? Vielleicht passt auch Kapitän Morwoods mentales Modell nicht dazu, dass es Eis geben würde. Er weiß, dass es für ihn in Dryden keine Möglichkeit gibt, zu enteisen. Zum Enteisen ist nämlich ein Ausschalten beider Triebwerke notwendig, die er auf Grund der defekten APU und des fehlenden Bodenstromaggregates nicht wieder hätte starten können. Es wären also alle erst einmal in Dryden geblieben, bis ein entsprechendes Aggregat eingeflogen worden wäre. Dem alten Motto folgend “Es kann nicht sein was nicht sein darf!” spielt ihm an diesem Tag vielleicht sogar seine Wahrnehmung einen Streich. Ein sehr bekanntes Phänomen.

Allerdings gibt es andere, deren Wahrnehmung funktioniert und die das Eis sehen. Ein Gast spricht Katherine wegen des Eises an. Diese beruhigt den Gast, weil sie annimmt, dass die Tragflächen sich selbst enteisen. -Sehr dünnes Eis des gefährlichen Halbwissens! Es sind lediglich die Spitzen der Tragflächen, die beheizt werden und somit auch enteist werden können. Da hat sie wohl etwas verwechselt!

Sonia weiß es besser und ist sehr besorgt wegen des Eises, entscheidet sich aber, den Kapitän nicht anzusprechen.

So nehmen die Dinge ihren Lauf. Kapitän Morwood leitet im festen Vertrauen darauf, dass alles OK ist und sicher auch mit einer Menge Zeitdruck den Start ein. Zunächst hebt die Maschine ab, verliert dann aber wieder an Höhe und stürzt in den angrenzenden Wald. An diesem Tag verlieren 24 Menschen ihr Leben. -Darunter Sonias Kollegin, ihr Kapitän und ihr Erster Offizier, mit denen sie sicher kurze Zeit davon noch gemeinsam gegessen und gelacht hat. Meine Crew war immer viel mehr als nur das Team, mit dem ich arbeite. Man ist sich nah, vertraut sich und ist aufeinander angewiesen. Heute habe ich Kollegen, die ich sehr mag und schätze. In Uniform hatte ich eine Familie, die mich ganz so wie eine echte Familie manchmal ziemlich genervt hat, die mir aber immer ausgesprochen nah war. Sie zu verlieren? -Ich möchte mir nicht vorstellen, an Sonias Stelle zu sein…

Und was bleibt ist die Frage nach dem “Warum”

Im Nachhinein wurde Sonia gefragt, warum sie nichts gesagt habe. Ihre Erklärung ist ebenso nachvollziehbar, wie traurig. Sonia beschreibt, dass sie Angst davor hatte, es könnte sich rumsprechen, dass sie den Piloten in ihre Arbeit reinrede, den Kapitän kritisiere. Immerhin sei sie doch eigentlich diejenige, die für Tee und Kaffee verantwortlich sei. Sonia hatte Angst, dass sie daraufhin im Kreise der Kollegen weniger beliebt oder angesehen sein könnte, vielleicht sogar schlechtere Flugpläne bekäme.

Ich habe mich mehr als einmal gefragt, ob Sonia den Gedanken hatte, dass ihre Kollegen und all die anderen Menschen noch leben würden, wenn sie mutiger gewesen wäre, wenn sie die Verantwortung übernommen hätte, den Kapitän angesprochen hätte. Was sind schon Flugpläne? Sonia war mehr als einmal in meinen Gedanken präsent, wenn ich in meiner schicken blauen Uniform durchs Flugzeug gelaufen bin. Sie hält mir bis heute vor Augen, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, eine gutes Teammitglied, ein guter Follower zu sein. -Auch weil ich ihre Ängste als junge Frau so gut verstehen kann. Auch ich wollte besonders in meinen ersten Jahren auf Reisen vor allem eines: dazugehören! Vielleicht habt Ihr ja auch schon einmal geschwiegen, geschwiegen aus Angst zum Außenseiter zu werden, nicht mehr gemocht zu werden. Menschlich nachvollziehbar. Aber ist es auch verantwortungsvoll?

Natürlich braucht es eine Kultur, die es uns ermöglicht, Verantwortung zu übernehmen. Es braucht Führung auf allen Ebenen, die Rahmenbedingung schafft, die es ermöglichen, den Mund aufzumachen, zu sprechen, kritisch sein zu dürfen. Daran arbeite ich mit Führungskräften in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Denn ebenso wie Kapitän Morwood an diesem Tag sein Team gebraucht hätte um eine bessere Entscheidung zu treffen, sind alle Führungskräfte, die in einem dynamischen und komplexen Umfeld agieren, auf ihr Team angewiesen, um gute Entscheidungen zu treffen. Damit Menschen jedoch diesen Raum, der ihnen geboten wird, annehmen, muss ich auch mit den Teams arbeiten dürfen, so wie ich heute und morgen mit den jungen Flugbegleitern arbeiten darf. Es wird immer mehr Gründe geben, besser zu schweigen. Aber wir befinden uns nun mal in einer Welt, die zunehmend Eigenverantwortung auf allen Ebenen einfordert und es ist nur fair, wenn wir Menschen auf diese Verantwortung vorbereiten, sie sensibilisieren und ein Stück weit an die Hand nehmen.

Die Gedanken an Sonia nehme ich morgen sicher wieder mit in meinen Lehrsaal und ich hoffe, dass auch meine Teilnehmer noch ein wenig über Sonia nachgedacht haben. Denn ich bin nicht in der Lage ihnen Verantwortung beizubringen. Ich liefere lediglich das Gedankenfutter, das es braucht, um sich selbst kritisch zu hinterfragen und so zu wachsen.

Genieß Euren Sonntag!

Eure Constance

Geschichten aus der Flugzeug-Mottenkiste

Über Verantwortung und Followership

Wie Stanislaw Petrow einfach so einen Atomkrieg verhinderte...

Wie? Ihr kennt Stanislaw Petrow nicht? Und das obwohl er anno 1983 quasi im Alleingang einen Atomkrieg verhinderte! Ihr solltet Euch unbedingt fünf Minuten nehmen und mit mir auf Zeitreise gehen. Denn von diesem heimlichen Helden der Geschichte können wir so einiges lernen!

Warum Dynamik und Komplexität nur zu managen sind, wenn alle Akteure Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen

Während wir Coaches, Change Agents und HRler nicht müde werden, zu predigen, dass unsere immer dynamischer und komplexer werdende Welt vor allem eines braucht; Menschen die eigenverantwortlich handeln, Entscheidungen treffen und so unsere (Arbeits-) Welt proaktiv mitgestalten, stellt sich mir manches Mal die Frage, wie lange es wohl dauert, bis wir Menschen so weit sind, dies dann auch vollumfänglich zu tun. Ich träume von lernenden Organisationen, von einer Kultur der psychologischen Sicherheit und an manchen Tagen komme ich mir vor, wie der gute alte Sisyphos: Zwei Schritte vor und drei zurück… Dabei gibt es sie und es gab sie schon immer, diese Menschen, die unauffällig vor sich hinarbeiten und just in diesem Moment, in dem sie wirklich gebraucht werden, reißen sie sich das weiße Shirt oder die weiße Bluse vom Leib und sind für eine kurze Zeit Wonder Women oder Superman, ehe sie sich wieder in die Unauffälligkeit zurückziehen.

Einen solchen Superman möchte ich Euch heute vorstellen. Denn wer glaubt, die Welt hätte während der Kubakrise an der Grenze zum Atomkrieg gestanden, der hat keine Ahnung, was in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1983 passiert ist.

Lasst uns gemeinsam auf Zeitreise gehen

Spätsommer 1983: Ich wünschte, ich könnte wirklich von damals erzählen, aber ich war noch im Kindergarten und meine Erinnerung ist halbwegs verschwommen. Mein kleiner Bruder war noch nicht geboren und es war noch vor Tschernobyl. Deshalb bin ich mir sicher, dass ich zu dieser Zeit häufig mit meinem Papa im Wald war, um Steinpilze zu sammeln. Nach Tschernobyl war das ja erstmal nicht mehr möglich. Neben Pilze suchen und Drachen steigen lassen habe ich den Kindergarten wirklich geliebt. Tante Eva war toll! Nach dem Kindergarten war ich oft mit meiner Oma im Garten. In regelmäßigen Abständen donnerten US-Kampfflieger über uns, die so laut waren, dass sie mir jedes Mal Angst machten. Meine Oma beruhigte mich immer und erklärte mir, dass die Amerikaner uns vor den Russen beschützten und wir dankbar sein müssen, dass sie hier sind. Oma war Kriegsflüchtling und hatte leider offensichtlich mehr als nur eine Idee davon, zu was die russische Armee im Zweiten Weltkrieg fähig war. Kindheit im Kalten Krieg! Ich denke dieser Tage immer wieder an meine Oma und an ihre große Angst. -Und daran, was es bedeutet, Flüchtling zu sein.

Vielleicht war ich auch am 25. September mit Oma im Garten oder mit Papa Pilze sammeln. Vielleicht donnerten auch an diesem Tag Kampfflieger über uns und ich zuckte in dem Moment, in dem sie knallend die Schallmauer durchbrachen, zusammen. Ich weiß es nicht. Allerdings weiß ich, dass ich auch an diesem Abend zu Bett ging, mein Kindergebet sprach, in dem ich darum bat, auch am nächsten Morgen wieder vom Herrn Jesus geweckt zu werden und schließlich einschlief. -Wie jeden Abend. Wie groß das Wunder war, dass meine Welt am 26. September noch immer die gleiche war, das wussten weder meine Oma, meine Mama, mein allwissender Papa noch ich selbst. Während wir alle friedlich schliefen, zog sich im Raketenabwehrzentrum in Moskau der diensthabende Offizier Stanislaw Petrow für einen kurzen Moment das Superman-Shirt über und rettete klammheimlich die Welt.

Was war passiert? Um 00:15 Ortszeit meldete ein Alarm den Start einer US-Amerikanischen Interkontinentalrakete. Dem diensthabenden Offizier blieb nur ein geringes Zeitfenster zur Beurteilung der Lage. Petrow bewahrte die Nerven und kam zur Entscheidung, dass es sich um einen Fehlalarm in Folge eines Computerfehlers handelte. Noch während er am Telefon war, um diese Einschätzung weiterzugeben, meldete das System den Start einer zweiten, dritten, vierten und fünften Rakete…

Gemäß der damals geltenden Logik des Kalten Krieges “Wer als erstes schießt, stirbt als zweites!” hatte die Sowjetunion etwa 30 Minuten Zeit, den alles vernichtenden Gegenschlag zu initiieren. Doch Petrow behielt erneut die Nerven und kam erneut zu der Entscheidung, dass es sich um einen Computerfehler handeln müsse. Eine endlose halbe Stunde später wusste schließlich auch Petrow, dass er mit seiner Einschätzung richtig lag. Die vernichtende Detonation blieb aus.

Es war in der Tat ein Fehlalarm, hervorgerufen durch eine außergewöhnliche Konstellation von Satellitensystemen und der Sonne direkt über einer Militärbasis in den USA, die von den sowjetischen Abwehrsystemen als Raketenstarts interpretiert wurde.

Nicht auszudenken, wäre Petrow zu einer anderen Einschätzung gekommen, die aus sowjetischer Perspektive durchaus naheliegend gewesen wäre. Nur drei Wochen zuvor wurde ein südkoreanisches Passagierflugzeug über der russischen Insel Sachalin abgeschossen. Eine Vergeltungsmaßnahme? Zusätzlich sollten in naher Zukunft US-Mittelstreckenraketen in Europa stationiert werden. Der Kalte Krieg war eiskalt. Aber Petrow behielt die Nerven, übernahm Verantwortung und hat die Welt gerettet, als die hochpotente Technik versagte.

Danach zog Petrow das Helden-Shirt wieder aus und wurde unsichtbar. Er beendete seinen Armeedienst und verbrachte seinen Ruhestand in bescheidenen Verhältnissen in seiner Plattenbauwohnung in der russischen Stadt Frjasino, wo er 2017 im Alter von 77 Jahren verstarb. Kein Friedensnobelpreis! Bestenfalls eine Randnotiz der neueren Geschichte. Anlässlich einer Veranstaltung in Baden-Baden im Jahr 2012 wurde er gefragt, ob er ein Held sei. Petrow verneinte das. Er habe einfach nur seinen Job richtig gemacht. Als der Moderator nachhakte und anmerkte, dass Petrow immerhin die Welt vor einem dritten Weltkrieg bewahrt habe, entgegnete Petrow, dass das doch nichts Besonderes gewesen sei.

Danke Stanislaw Petrow, dass Sie ihren Job einfach nur richtig gemacht haben. Sie haben mir meine Kindheit, Jugend und vielleicht sogar mein Leben gerettet. Ich schreibe diesen Blog, weil Sie den Mut hatten, zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen. Nein, das ist vielleicht nichts Besonderes, aber es ist groß!

Der Mensch als Schlüssel zu Erfolg unserer Systeme

Unabhängig davon, dass Stanislaw Petrow (ich hoffe, ich erwähne diesen Namen so oft, dass er im Kopf bleibt) gefühlt mein Leben ermöglicht hat, damals in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1983, bedeutet er auch für mich als Coach und Human Factors Trainer unendlich viel. Für mich ist er der Beweis für alles, was ich tue. Ich glaube daran, dass unsere Zukunft nicht nur trotz, sondern vor allem auch wegen der um sich greifenden Technisierung menschlich ist. Technik kann mit der Dynamik und Komplexität, mit der Unberechenbarkeit unserer Zeit nicht annähernd so kompetent umgehen, wie der Mensch. Selbst mit dem Wissen, dass Menschen Fehler machen und immer machen werden, weiß ich, dass der Mensch alleine der Schlüssel zu Erfolg unserer Systeme ist. Dazu muss er jedoch eigenverantwortlich agieren, Entscheidungen treffen und proaktiv die Dinge in die Hand nehmen. -Seinen Job richtig machen, wie es Petrow ausdrückte. Dass der Mensch selbst unter extremsten Bedingungen dazu in der Lage ist, dass er auch unter größtem Stress kognitiv und analytisch vorgehen kann, hat Stanislaw Petrow vorbildlich, still, leise und bescheiden bewiesen. Was die Welt braucht, um mehr Stanislaw Petrows hervorzubringen? Organisationen und Gesellschaften, die Menschen Raum und Sicherheit geben; Raum sich zu entfalten und die (psychologische) Sicherheit, die es braucht, um angstfrei Verantwortung zu übernehmen. Denn nur so können wir alle unseren Job richtig machen.

Zurück in die Zukunft

Und so klettere ich auch in dieser Woche wieder in meinen DeLorean und reise zurück in die Zukunft, um festzustellen, dass 1983 gefühlt sehr präsent ist. Kalter-Heißer Krieg reloaded? Alleine schon deshalb braucht es unendlich viele Stanislaw Petrows. Es gibt also eine Menge zu tun für Coaches wie mich.

Genießt das Wochenende.

Eure Constance

PS: Sisyphos war übrigens sein Leben lang damit beschäftigt, seinen Stein den Berg hinauf zu rollen, weil er sich bewusst dazu entschieden hat. Er wurde gefragt, ob er lieber sein Leben lang den Stein bergauf rollen wolle, oder den Menschen Frieden und Vernunft beibringen wolle… Er hat sich für den Stein entschieden! -Ich mich für die Menschen! Ich frage mich, ob mein Kollege seine Entscheidung jemals bereut hat.

Sisyphos und ich

Ich bin oben angekommen und habe trotzdem noch einen endlosen Weg vor mir! Sisyphosarbeit! - Und ich liebe sie.