Gesellschaft

Veränderungsstress und das Missverständnis der Zeit

Abschiedsstress und Zeitmangel

Puh, das war eine Woche… Ich gebe zu, dass ich mich zwischenzeitlich tatsächlich gefragt habe, ob meine Ankündigung, euch auf meine Veränderungsreise mitzunehmen, klug war. Bis gestern hatte ich keinen Schimmer, was ich erzählen sollte. Nachdem ich letzte Woche meinen Rückzug aus der Luftfahrt angekündigt und auch schon einmal Abschied genommen hatte, hat mich das Feedback schlicht und ergreifend überrollt. So waren die letzten Tage geprägt vom Abschiednehmen. Es sind Tränen geflossen, aber gleichzeitig wurde ich von einer unglaublich wohlwollenden, warmen Welle durch meine Tage getragen. Sowohl als Trainer, als auch als Purser habe ich immer mein Bestes gegeben und auch immer gehofft, dass ich dabei in der Lage war, meine Kollegen und Teilnehmer zu erreichen. Wirklich sicher war ich mir dabei nie. Umso mehr habe ich mich jetzt über das Feedback gefreut und komme nicht umhin zu denken, dass wir uns alle noch regelmäßiger Rückmeldung geben sollten. - Aber das nur am Rande!

Wie ihr euch verstellen könnt, hatte ich ganz schön viel zu tun. Es gab und gibt noch einiges zu regeln und so bin ich durch meine Tage gehetzt, permanent mit dem Gefühl, keine Zeit zu haben. So auch gestern: nachhause gekommen, schnell noch den Adventskalender für mein Patenkind gepackt, einen schnellen Kaffee und dann wieder der obligatorische Blick auf die Uhr! -Sch***, in einer guten halben Stunde ist schon Yoga! Ich möchte an dieser Stelle sagen, dass ich mein Yoga liebe und auch ausgesprochen diszipliniert zur Tat schreite. Gestern ging das nicht. Plötzlich war da so eine innere Stimme, die mich dazu gezwungen hat, meine Yoga-Stunde zu schwänzen und mir ein Bad einzulassen! Während ich schließlich halbwegs schockiert von meiner Disziplinlosigkeit in der Badewanne lag, hatte ich endlich das, was mir die ganze Woche gefehlt hat: ich hatte endlich NICHTS zu tun!

Während ich also meine Gedanken ordnete, kam ich zu der Erkenntnis, dass eine Sache, die mich immer wieder davon abgehalten hat zu wachsen, mich weiterzuentwickeln und dabei besser, zufriedener und glücklich zu werden, mein fehlendes Verständnis für das Konzept der Zeit war. Wir Menschen sind wirklich verrückt: einerseits liest man überall, dass das Hier und Jetzt unser wertvollster Schatz ist, andererseits leben wir unser Leben, als würde es mit absoluter Sicherheit noch viele Jahrzehnte weitergehen, und zwar genau so, wie es gerade ist… Veränderung nicht vorgesehen!

Das erste große Missverständnis

Aber mal von vorne: mein erstes großes Missverständnis der Zeit ist, dass ich permanent glaube, zu wenig davon zu haben, obwohl da doch ausreichend Zeit ist. Ich müsste sie mir eben nur proaktiv nehmen, so wie gestern. Als Trainer bin ich mir sicher, dass ich damit nicht allein bin. Ich arbeite gerne mit praktischen Lernzielübungen und natürlich habe ich diese eine liebste Übung, in deren Vorbereitung ich mehrfach darauf aufmerksam mache, dass Zeit keine Rolle spielt. Es gibt keine Deadline! Es dauert so lange wie es eben dauert! Und zack, nach spätestens fünfzehn Minuten höre ich in so ziemlich jeder Gruppe, dass es an der Zeit sei, sich mal ein wenig zu beeilen! So hetzt der Mensch durch sein Leben, erlebt die wunderbarsten Momente, die viel zu oft im Nichts verpuffen, weil er sich keine Zeit nimmt, sie zu reflektieren, zu verstehen und sie bewusst wahrzunehmen. Genau das steht uns auch im Job und in Hinblick auf unsere eigene Entwicklung im Weg. Wir begeben uns in unser Hamsterrad, dass wir all zu oft mit Bravour meistern. Aber wirklich befriedigend ist das nicht, denn während diese Rennerei zum Selbstläufer wird, vergessen wir zum einen, wohin wir denn eigentlich möchten und zweitens verlieren wir den Blick auf unser Potenzial und unsere Fähigkeiten. In den letzten Wochen habe ich immer wieder viel Bewunderung für meinen Mut, diesen großen Schritt nun zu gehen, geerntet. Ja, klar gehört da auch Mut dazu. Aber ehrlich gesagt kam ich mir gar nicht so mutig vor, wie das auf Außenstehende wirkt. Ich hatte einfach im Frühjahr und im Sommer sehr viel Zeit, um darüber nachzudenken was mir wichtig ist, wo ich im Leben hinmöchte und vor allem, was ich kann und was ich gegebenenfalls noch lernen muss. Im vollen Bewusstsein meiner Ziele und Ressourcen hat sich diese mutige Entscheidung einfach nur wie der nächste konsequente Schritt angefühlt.

Und die Moral von der Geschicht’: Wer schnell vorankommen möchte, muss zwischendurch auch mal anhalten und schauen, wo er hinrennt. Die Zeit dafür ist vorhanden, man muss sie sich nur nehmen!

Das zweite große Missverständnis

“Und so wie es war, soll es nie wieder sein. So wie es ist, darf es nicht bleiben. Wie es dann wird, kann vielleicht nur der bucklige Winter entscheiden…”

Gisbert zu Knyphausen, Seltsames Licht

Denke ich an mein zweites großes Missverständnis der Zeit, denke ich immer auch an dieses Zitat aus einem Lied des großartigen Gisbert zu Knyphausen (unbezahlte Schleichwerbung!). Nichts bleibt so wie es ist oder war und die Welt dreht sich immer weiter. In Krisensituationen greifen wir auf derartige Gedanken nur zu gerne zurück, lassen sie uns doch auf bessere Zeiten hoffen. Was wir jedoch nur ungerne auf dem Schirm haben, ist dass der Zahn der Zeit, der Lauf der Welt, das Rad des Lebens nicht nur in schwierigen Situationen greifen, sondern auch in allen positivsten Phasen. Dass Glück ausgesprochen vergänglich ist, haben wir alle sicher schon einmal schmerzlich erfahren dürfen. Aber auch Zufriedenheit ist ausgesprochen fragil und verschwindet, wenn wir nicht aufpassen.

Das vielleicht schwierigste an meiner Entscheidung war, dass ich happy mit meiner Situation war. Ich hatte einen Job, den ich sehr geliebt habe (und auch noch weitere vier Wochen lieben werde), tolle Kollegen, ich fühlte mich respektiert und akzeptiert und zudem hatte ich Spaß an dem was ich tue. Aus einer derart komfortablen Position heraus einen Veränderungsprozess anzustoßen, der alles auf den Kopf stellen wird, scheint auf den ein oder anderen geradezu töricht zu wirken, begibt der Mensch sich doch nur höchst ungern und auch nur wenn es unbedingt sein muss, auf unsicheres Terrain…

Meine Eltern sind schon eine ganze Weile tot und natürlich kam aus der ein oder anderen Richtung die Frage, was die beiden denn wohl zu meiner Entscheidung sagen würden. Die Antwort ist recht eindeutig: mein alter Herr hätte mich total darin bestärkt, das zu tun, was ich jetzt tue und meine Mutter hätte mich sicher darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht so klug ist, einen sicheren Job, den ich gerne mache, für einen unbekannten Job und einen zu dem noch zeitlich begrenzten Vertrag aufzugeben… Da man einen mütterlichen Rat niemals einfach so in den Wind schlagen sollte, habe ich im Rahmen meines Entscheidungsfindungsprozesses natürlich auch diese Aspekte versucht so analytisch wie möglich zu beleuchten, wobei ich mir eingestehen musste, dass dieses Sicherheitsbedürfnis natürlich etwas ausgesprochen Emotionales ist. Denn auf welche Fakten fußen denn die potentiellen Aussagen meiner Mutter? Darauf, dass alles so bleibt, wie es ist! -Mein Arbeitsumfeld, meine Persönlichkeit, die ganze Welt! Tja, und so kam ich unweigerlich wieder auf Gisbert zurück: so wie es ist, kann es nicht bleiben. Alles ist in einem stetigen Wandel begriffen und wenn ich an die Zukunft denke, darf ich nicht davon ausgehen, dass sie so sein wird, wie die Gegenwart. Die Dinge werden sich verändern und wenn ich auch dann noch glücklich und zufrieden sein möchte, muss ich mich eben auch verändern. In welche Richtung ich gehen möchte, hat mir mein innerer Kompass bereits während des ersten Lockdowns aufgezeigt. Danke Corona! Aber jetzt ist’s gut! Du darfst wieder verschwinden!

Ich fasse mal zusammen: Zukunft heißt Zukunft, weil es Zukunft ist und nicht das Gleiche wie heute, nur in zwei Jahren!

Der Blick in die Glaskugel

Wenn ich jetzt den Blick in die Glaskugel meiner eigenen Zukunft wage, sehe ich da ein Unternehmen, dass sich vor kurzer Zeit selbst gefragt hat, wo es denn steht und wo es hinmöchte. Dieses Unternehmen hatte offensichtlich den Mut inne zu halten und nachzudenken. Es hat sich Zeit genommen, obwohl es ihm wirtschaftlich gut ging und eigentlich, so wie bei mir, keine Notwendigkeit bestand, die Dinge, die gut laufen, zu ändern. Allerdings hat dieses Unternehmen verstanden, dass die Welt sich immer weiter verändern wird und man nur erfolgreich und glücklich bleiben kann, wenn man sich neu aufstellt, um die Mitarbeiter in eine Position zu bringen, ihr Potenzial optimal nutzen zu können. Ich würde sagen das passt doch wie Arsch auf Eimer, oder was sagt ihr?

Denn eigentlich war ich gar nicht mutig…

Glaubt jetzt tatsächlich noch irgendjemand, dass ich wirklich so mutig war oder bin? Oder habe ich einfach nur einen verdammt analytischen Entscheidungsfindungsprozess durchgemacht, der unter anderem dazu geführt hat, meine Perspektive auf dieses Konzept der Zeit neu zu durchdenken? Ich weiß es nicht. Ich marschiere einfach nur weiter in eine Zukunft, die wir alle nicht sicher kennen und dabei versuche ich immer wieder innezuhalten, mir Zeit zu nehmen, auch wenn ich mir mal wieder einbilde, keine zu haben, um mich zu fragen, wo ich stehe und wo ich hinrennen möchte. Was in zwei Jahren, wenn mein Vertrag auslaufen wird, sein wird, kann mir ohnehin niemand sagen. Was ich aber sicher weiß, ist dass ich auch dann noch über alle diese Ressourcen verfügen werde, mit denen ich heut schon recht gut durchs Leben komme. Im Zweifelsfall werden es eher noch mehr werden, weil ich ein kluges Köpfchen mit schneller Auffassungsgabe bin! Sorry Mama, Papa hat recht! Was soll denn schon schief gehen?

Eure Constance

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Tik Tak Tik Tak…

Zeit: in Stein gemeißelt und am Ende doch relativ

Abschiedsbriefe einer Stewardess

Liebe Luftfahrt,

es ist jetzt fast genau 21 Jahre her, dass ich mich für dich entschieden habe! Zwei Jahre sollten es sein. Aber mein Gott, hatte ich Spaß mit dir, ich konnte nicht gehen, denn eigentlich war immer nur Fliegen schöner! Du hast mir Zeit gegeben, um mich zu orientieren, Raum um zu wachsen und mir den Weg aufgezeigt, den ich immer weiter gehen wollte. Dieser Weg hatte seinen Ursprung während meiner Grundschulung. Das war eine wirklich aufregende Zeit. Ich musste mir meinen ersten Lippenstift kaufen und kam mir trotz meiner 1,84m verdammt klein vor, mit Anfang zwanzig, zwischen all diesen coolen Ladies! Wir haben so viel gelernt, mit dem ich niemals gerechnet hätte: Feuer löschen, Wiederbelebungsmaßnahmen, Verhalten bei Flugzeugentführungen, schwimmen mit Rettungsweste im Wellenbad… Das war eine verrückte Reise, gemeinsam mit meinem 134. Flugbegleiter Lehrgang! Das spannendste für mich waren aber zwei Tage, von denen ich im Vorfeld keine Ahnung hatte, was sie bedeuten sollten. Im Stundenplan stand Crew Ressource Management Training und ich, die ich mich weiterhin eher klein, unsicher und halbwegs überfordert gefühlt habe, durfte lernen, wie wichtig ich bin. Denn um erfolgreich zu sein, braucht man in der Luftfahrt ein Team, das gut zusammenarbeitet und in dem jeder Beachtung und Wertschätzung erfährt, weil jeder gleich wichtig für den Erfolg ist. Außerdem habe ich gelernt, dass es ganz normal ist, Angst zu haben, Stress und Herzrasen zu spüren, dass man alles das zulassen darf um dann eine Strategie zu finden, wieder ruhiger zu werden. Und dann wurde mir noch meine große Angst vor Fehlern genommen, da Fehler normal sind. Jeder Mensch macht Fehler und zukünftig war ich sogar dazu aufgerufen, meine Fehler proaktiv mitzuteilen, weil man daraus lernen wollte. Das hat alles so viel Sinn ergeben! Am Ende dieser beiden Tage dachte ich, dass die ganze Arbeitswelt so funktioniert, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass man anders auf lange Frist erfolgreich sein könnte. Ich wurde älter und lernte, dass dieses “gemeinsam und als Team erfolgreich sein” keineswegs normale Unternehmenskultur ist. Liebe Luftfahrt, vielen Dank, dass du den unschätzbaren Wert deiner einzelnen Crew Members schon Anfang der Achtziger Jahre erkannt hast und entschieden hast, dass das, was man heut Soft Skills nennt, wichtig ist, so wichtig, dass deine Crews jährliche Schulungen darin bekommen.

Die Idee hinter Crew Ressource Management hat mich nicht mehr losgelassen und einige Jahre später wurde ich selbst CRM-Trainer und meine Trainerin von damals wurde nicht nur meine Chefin, sondern vor allem meine Mentorin. Ich durfte weiterwachsen und mich entwickeln und irgendwann kam, was kommen musste: ich musste über den Tellerrand meiner geliebten Flugzeuge hinausschauen, um diesen unglaublichen Erfolgsfaktor Team, wie er in der Luftfahrt allgegenwärtig ist, in die Welt hinaus zu tragen. Das war wie ein innerer Imperativ! Und weißt du was, liebe Luftfahrt, es ist total verrückt! Da draußen in der großen, weiten Welt boomt gerade die Idee der Agilität! Der neuste heiße Scheiß! Und was ist da das Wichtigste? -Der Mensch, der das Team zum Star macht, weil man verstanden hat, dass man in einem komplexen und dynamischen Umfeld nicht anders erfolgreich sein kann. Wie unsere Kapitäne und Purser, sind sich auch Führungskräfte mit agilem Mindset bewusst darüber, dass ihr Team ihre wertvollste Ressource ist. Das nennt man dort Servant Leadership!

Tja, so habe ich schon im letzten Jahr damit angefangen, dir fremd zu gehen, immer mal wieder. Ich konnte nicht anders. Du hast mir so viel mitgegeben, dass ich das einfach in die Welt hinaustragen musste. Und dort draußen, in der Welt, bin ich immer weitergewachsen. Ich habe so viel gelernt und mich rasant weiterentwickelt.

Hätte ich auf meinem letzten Flug vor gut zwei Wochen gewusst, dass dies mein allerletzter Flug gewesen sein sollte, hätte ich diesen Tag sicher etwas bewusster wahrgenommen. Vielleicht hätte ich auch ein etwas erhabeneres Foto von mir unterm Leitwerk machen lassen. Stattdessen war es wie immer und so ist unser letztes gemeinsames Foto auch irgendwie authentisch: völlig unglamourös in der Mittagspause neben dem Putzeimer und ganz viel Spaß dabei. Danke für diese gemeinsame Reise! Danach haben sich die Ereignisse bei mir überschlagen. Manchmal muss man die Chancen, die sich einem bieten, einfach ergreifen. Ich hoffe du verstehst das. Du hast mir so viel Raum zum Wachsen gegeben und mich auf den Weg gebracht, auf dem ich jetzt weitergehen werde. Allerdings sind mir diese wunderschönen alten Schuhe mit diesen zauberhaften Flügeln dabei zu klein geworden. Ich bekomme jetzt neue Schuhe, die mich weiter durchs Leben tragen werden. Aber ganz egal wie weit mich diese Schuhe tragen werden, du bleibst in meinem Herzen, denn man sollte eben auch nie vergessen, wo man herkommt, egal wie hoch man fliegt!

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Mein Gott, hatten wir Spaß

Mittagspause neben dem Putzeimer…

Liebe Kollegen in der Flugzeugkabine,

als dieses Virus angefangen hat, immer weiter um sich zu greifen und wir alle vorübergehend zu Fußgängern wurde, dachte ich zunächst, ich würde die Flugzeuge vermissen. Aber es waren nicht die Flugzeuge, die mir gefehlt haben. Wirklich vermisst habe ich euch. Verdammt, was haben wir gemeinsam erlebt?! Gemeinsam haben wir uns zu mentalen und körperlichen Höchstleistungen getragen, zu denen ich alleine niemals in der Lage gewesen wäre. Wir haben uns gemeinsam durch alles gekämpft: durch lange Nächte ohne Schlaf und totale körperliche Ermüdung, durch Situationen, die mir unglaublich viel Angst gemacht haben, die bedrohlich waren. Wir haben uns durch Momente der totalen Hilflosigkeit gehangelt, gemeinsam! Egal was war, wir haben es gemeinsam geregelt. Noch viel präsenter als die dunklen Momente sind die unendlich viele skurrilen Situationen. Wie oft haben wir gemeinsam gelacht und was haben wir alles gesehen und erlebt. Die Welt hat uns gehört und die Partys waren legendär! So sind wir immer wieder nach Frankfurt zurückgekommen, haben zum Abschied gelacht und uns in die Arme genommen, um uns auf die nächste gemeinsame Reise zu freuen. Dieses Mal kann ich euch zum Abschied nicht umarmen, was mich wirklich traurig macht. Aber mein erster Flug als Passagier ist schon gebucht, dann vielleicht ohne Maske und vielleicht darf ich mich ja während einer langen Nacht ein bisschen zu euch in die Küche setzen und vielleicht darf ich auch einmal Toilettenpapier nachfüllen…

Vielen Dank für die letzten 21 Jahre. Die Flüge mit euch waren jedes Mal verrückt, unser Zusammenhalt war für gewöhnlich einzigartig und in meinen Schulungen hatte ich manchmal das Gefühl, mehr von euch lernen zu dürfen, als ich euch beibringen konnte. Vergesst niemals euren individuellen Wert. Würde es um Kaffee und Tee gehen, würden da Getränkeautomaten stehen. Ihr schützt und rettet Menschen und ihr haltet den Laden am Laufen. Ihr seid das Herz der Luftfahrt.

Liebe Luftfahrt-Manager,

was soll ich euch in dieser turbulenten Zeit wünschen? Corona schüttelt eine ganz Brache ganz schön durch und Existenzängste, sich anhäufende Schuldenberge und die Ungewissheit darüber, wann es endlich wieder richtig losgehen kann, legen die Stirn sicher in tiefe Falten und sorgen für die ein oder andere schlaflose Nacht. Ich wünsche euch vor allem die innere Kraft, die es benötigt, um diese Sorgen und den daraus resultierenden immensen Druck nicht ungefiltert weiterzugeben. Wenn es darum geht, den Laden wieder zum Laufen zu bringen, werdet ihr auf eure Leute vertrauen müssen, im Flieger, wie auch in den Büros. Sie werden eure wertvollste Ressource sein und sie werden 150 Prozent geben müssen um erfolgreich und sicher agieren zu können. Aber für 150 Prozent Leistung braucht der Mensch vor allem eines: das Gefühl von Sicherheit. Ich würde mir sehr wünschen, dass ihr versucht Ängste zu nehmen, anstatt sie zu befeuern, denn am Ende geht es um die Flugsicherheit. Egal wie hoch der wirtschaftliche Druck auch ist, die Luftfahrt bleibt ein High Risk Environment, in dem ein Erfolgsfaktor auch immer bedeutet, dass alle gesund und munter von A nach B kommen. Auch hierfür tragt ihr eine große Verantwortung. -Vielleicht ist das sogar die größte Verantwortung, die man überhaupt tragen kann.

Liebe Piloten,

verdammt, ich werde euch vermissen. Ihr seid so anders als wir in der Kabine, was auch gut so ist. Ist euer Auftrag doch ein anderer als unserer, auch wenn uns ein geneinsames Ziel stets eint. Wäre ich Pilot, würde ich mir immer wieder vor Augen führen, wie gut ich bin und was ich alles kann, um mir danach bewusst darüber zu werden, wo meine Grenzen sind und dass ich nicht nur auf meine eigenen Ressourcen vertrauen kann, sondern auch auf die meiner Kollegen, im Cockpit, wie auch in der Kabine. Den Ersten Offizieren wünsche ich den Mut, Stopp zu sagen und Verantwortung zu übernehmen, wann immer es nötig ist und den Kapitänen wünsche ich, dass der immer rasanter ansteigende wirtschaftlich Druck möglichst wenig Einfluss auf eure Entscheidungsfindungsprozesse hat, wann immer es um die Sicherheit der euch anvertrauten Passagiere und Kollegen geht. Das hört sich so einfach an, bedarf aber breiter Schultern und verdammt viel Rückgrat. Dafür habt ihr meinen ganz besonderen Respekt und auch als Passagier werde ich zukünftig mit dem gleichen Vertrauen in ein Flugzeug steigen, wie ich es bislang als Teil eurer Crew getan habe.

Und last but not least: liebe Passagiere,

schon sehr bald werde ich einer von euch sein und da frage ich mich natürlich, welche Art Passagier ich sein werde oder sein möchte… Eines steht fest, ihr habt 21 Jahre lang für verdammt viel Farbe in meinem Leben gesorgt. Es gibt Momente, in denen ich mir sicher bin, dass mir nichts Menschliches mehr fremd ist. Gemeinsam in die Enge dieser Röhre, die von außen wie ein Flugzeug aussieht, gesperrt, kamt ihr häufig gar nicht umhin, eure Gefühle ungefiltert mit mir zu teilen: Freude, Glück, Unsicherheit, Angst, Panik, Stress, Unzufriedenheit, Trauer, Wut und sogar Aggression… Dank euch durfte ich lernen, mit der kompletten Bandbreite der menschlichen Gefühlswelt agieren zu können. Klar waren mir dabei die “schönen” Emotionen lieber, aber die andere Seite gehört eben auch dazu und dank euch habe ich keine Angst mehr vor diesen Emotionen. Ihr habt so viel mit mir geteilt, manchmal hat mir das die Schamesröte ins Gesicht getrieben, meist empfand ich es jedoch als großen Vertrauensbeweis und Privileg. Manche eurer Geschichten werden für immer Teil meiner Erinnerung bleiben. Eine dieser Geschichten, die mich nicht mehr loslassen, trug sich auf einer schönen Karibikinsel zu. Nach dem Boarding war da eine Dame, deren Verhalten so sonderbar und nicht einschätzbar war, dass wir uns gar nicht sicher waren, ob wir diese Dame mit über das große Wasser nehmen sollten. Ich sprach sie an, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was mit ihr los war. Sie zeigte auf ihre Handtasche, die sie im Arm hielt, wie einen wertvollen Schatz und fing an zu weinen. In der Handtasche befand sich die Asche ihrer während einer Rucksackreise ermordeten Tochter, die sie so nachhause holen wollte. Ich musste mitweinen. Das war nicht professionell, aber es war unvermeidbar. Wir alle hätten gerne mehr für sie getan. Alles was uns blieb, war ihr einen Platz ganz für sich allein zu suchen, um sie und ihre Tochter sicher nachhause zu bringen. Ich habe mit euch geweint, ich habe mit euch gelacht, manchmal habe ich mit euch gefeiert und gelegentlich musste ich euch auch sehr deutlich eure Grenze aufzeigen. Das war alles bunt und schön. Danke dafür! Ich hoffe ihr werdet das Leben meiner Kollegen zukünftig ebenso so bunt gestalten.

Zum Abschied

Ich weiß genau, was ich zurücklasse und mein Trennungsschmerz ist enorm. Jedoch ist dieser Abschied unvermeidbar. Ich kann nicht anders als zu gehen. Manchmal bietet das Leben einem eine Chance, die man nicht vorbeiziehen lassen darf. Auf diesen Abschied folgt für mich ein aufregender Neuanfang. Mein Leben wird sich total verändern und ich fühle mich ein wenig wie damals, mit Anfang zwanzig, als ich meine ersten Schritte in der Luftfahrt gewagt habe. Alles ist etwas unsicher und unbekannt, aber auch spannend und neu und dieses verrückte Gefühl, dass einem plötzlich wieder die ganze Welt offensteht, weil da noch so viel mehr ist, ist ein wahrer Jungbrunnen. Meine Falten Cremes habe ich jedenfalls eingemottet und alles steht auf Neuanfang! Wenn ihr möchtet, nehme ich euch in den nächsten Wochen an dieser Stelle gerne mit auf meine Reise und werde darüber berichten, wie ich Change-Management mit mir selbst betreibe!

Eure Constance

Stets lächelnde Lebensretter - warum Kapitäne eine Mannschaft brauchen

Wenn ein Flugzeug vom Himmel fällt

San Francisco am 06. Juli 2013 um 11:27 Uhr Ortszeit: Die Boeing B777 der Asiana Airlines knallt mit 307 Menschen an Bord mit ihrem Heck gegen eine Quai-Mauer. Ein Teil des Flugzeuges reißt ab. Das, was übrig bleibt, dreht sich um sich selbst, stellt sich im 40 Grad Winkel auf und knallt auf den staubigen Boden. Hier der Link zu einer Videosequenz, die dieses Unglück dokumentiert. Es grenzt an ein Wunder, dass bei diesem Unfall lediglich drei Menschen ihr Leben verloren haben.

Selbstverständlich wurde im Nachhinein sehr ausführlich ermittelt und irgendwann stand fest, dass die Unfallursache im Bereich des menschlichen Versagens zu finden war. Eine fatale Aneinanderreihung von Pilotenfehlern führte letzten Endes zum Tod von drei jungen Menschen. Warum es zu diesen Fehlern kam, wurde natürlich auch hinterfragt und selbstverständlich gab es viele Ursachen: die Piloten waren müde, die Ausbildung war zwar den gesetzlichen Vorschriften entsprechend, passte aber nicht zu den Bedürfnissen der agierenden Piloten. Die Piloten vertrauten der ausgefeilten Technik ihres modernen Fliegers fast blind, einer der Piloten hatte Angst davor, um Hilfe zu bitten und es herrschte ein recht starkes hierarchisches Gefälle zwischen ihnen. Jeder im Cockpit war mit seinen Unsicherheiten allein und der Kapitän hat sich selbst zum Einzelkämpfer auserkoren, der unbedingt zeigen wollte, was er kann. Wer alles das noch nie an sich selbst beobachtet hat, der werfe bitte den ersten Stein. Fehler passieren, jedem. Aber in einem High Risk Environment wie der Luftfahrt sind die Folgen so fatal, dass diese Fehler eben ganz besonders ausführlich beleuchtet werden und man immer wieder hinterfragt, wie man diesen Fehlern auch systemisch begegnen kann.

Katastrophen bieten Raum für Helden

Kurz nach der Bruchlandung ging die Maschine in Flammen auf. Das warf eine weitere Frage auf: Wie ist es gelungen, dass fast alle Menschen überlebt haben. Es wurde rekonstruiert, dass die drei Toten während des Crashs aus dem Flugzeug geschleudert wurden, weil sie wahrscheinlich nicht richtig angeschnallt waren. Bei einer jungen Frau ist man sich sicher, bei den beiden anderen liegt die Vermutung aufgrund vieler Indizien sehr nah. Das heißt, allen Menschen, die richtig angeschnallt waren, war es möglich, das Flugzeug zu verlassen, noch ehe das Feuer sich ausgebreitet hat. Darunter waren auch 181 zum Teil schwer Verletzte, von denen einige nicht in der Lage waren zu laufen oder in den Trümmern eingeklemmt waren.

Man könnte meinen, der Kapitän hat schnell verstanden, in welcher Situation sein Flieger samt Passagieren und Crew war, und hat deshalb eine sehr schnelle Evakuierung angeordnet. Interessanterweise war sogar das Gegenteil der Fall. Die Chefflugbegleiterin ging direkt nachdem das Flugzeug zur Ruhe kam ins Cockpit und fragte den Kapitän, ob sie evakuieren soll. Dieser bat sie noch zu warten. In dieser Zeit hat ein weiterer Flugbegleiter ein Feuer außerhalb des Flugzeuges wahrgenommen und damit nahm die Heldengeschichte dieser Katastrophe ihren Lauf, während die Piloten offenbar noch ganz starr vor Schreck waren: Der Flugbegleiter, der auf Höhe der zweiten Flugzeugtüren saß, nahm das Heft des Handelns in die eigene Hand, koordinierte die Kollegen, die direkt beim ihm saßen und leitete die Evakuierung eigenständig ein. Die Chefflugbegleiterin, die eben noch von ihrem Kapitän angewiesen wurde, noch nicht zu evakuieren, hat infolge auch an ihren Türen die Evakuierung eingeleitet und so nahm die Geschichte ihren Lauf. Mehr als die Hälfte der Kabinenbesatzung waren entweder eingeklemmt, oder so schwer verletzt, dass sie ihre Kollegen nicht unterstützen konnten. So retteten fünf Flugbegleiter, Stewards und Stewardessen, im Volksmund auch Saftschubsen genannt, mehr als 300 Menschenleben. Zum Teil haben sie verletzte Passagiere aus dem Wrack herausgetragen, so lange, bis sie aufgrund des aufziehenden Qualms selbst nicht mehr atmen konnten. Helden, oder?

Macht und Ermächtigung

Defacto könnte man sagen, dieser eine Flugbegleiter hat sich über alle hierarchischen Strukturen hinweggesetzt, die Befehlsgewalt des Kommandanten untergraben und die Chefflugbegleiterin hat bereitwillig mitgemacht! Jetzt kommt das wirklich verrückte: in der Luftfahrt ermuntern wir unsere Crew-Mitglieder genau das zu tun. Das System des Crew Ressource Managements, das ich euch letzte Woche in seinen Grundzügen vorgestellt habe, ermächtigt jedes einzelne Crew-Mitglied, niemals blind hinterher zu laufen. Guter Followership in der Luftfahrt bedeutet, dass jeder jederzeit hellwach und kritisch ist und seinen eigenen Verstand nutzt. Jede Führungskraft, ob im Cockpit oder in der Kabine, ist sich im Klaren darüber, dass die Luftfahrt so komplex ist, dass auch sie Fehler machen. Aus diesem Grund ermächtigen sie ihre Teammitglieder dazu, jederzeit Stopp sagen zu können. So dürfen auch Co-Piloten ihrem Kapitän den Flieger “abnehmen”, wenn sie das Gefühl haben, dass es ansonsten zu einem fatalen Fehler kommen kann und auch die Kollegen in der Kabine sind dazu aufgerufen, kritisch zu sein, ihre Meinung zu äußern und auch in der Hierarchie nach oben Feedback zu geben. Die Basis der Sicherheitskultur in der Luftfahrt ist, dass Führungskräfte ihre Macht auch dazu nutzen, ihre Teams zu ermächtigen, ihnen den Raum geben, um ihr gesamtes Potenzial zu nutzen, weil es keine andere Möglichkeit gibt um in einem komplexen und dynamischen Umfeld sicher und erfolgreich zu agieren.

Denn das Team ist der Star - Confession of a Trolley Dolly

Ich plaudere mal ein wenig aus dem Nähkästchen. In über zwanzig Jahren in der Luftfahrt erlebt man so einiges und in all dieser Zeit bekommt man auch ein gewisses Gefühl dafür, wie man in seiner Rolle als Kabinenbesatzung wahrgenommen wird. Eine Szene, die ich schon tausende Male erlebt habe, ist dass ich nach dem Flug an der Tür stehe, um mich von meinen Gästen zu verabschieden. Viele bedanken sich ganz herzlich für den Flug und den Service. Einig laufen allerdings lächelnd und fröhlich auf mich zu um zu sagen “sagen Sie dem Kapitän vielen Dank für den Flug…” und dann verschwinden sie in der Gangway. Natürlich meint das keiner meiner Gäste böse. Es ist ihre Art, auszudrücken, dass sie froh sind, gut gelandet zu sein. Ich muss jedoch gestehen, dass mich diese Situation gelegentlich zum Schmunzeln bringt. Da lässt jemand seinen Dank für den Flug einem Menschen ausrichten, den er kein einziges Mal zu Gesicht bekommen hat, weil man glaubt, dass dieser eine übermächtige Heilige es verantwortet hat, dass man sicher angekommen ist… Mal abgesehen davon, dass die Kollegen in der Kabine ihre Gäste während des Fluges im Rahmen der Möglichkeiten, die ihre jeweilige Airline ihnen bietet, mit Service beglücken, sind es nicht die Kapitäne, die das Feuer löschen, falls mal wieder jemand seine brennende Zigarette auf der Toilette “vergisst”. Es sind auch nicht die Kapitäne, die den Defibrillator bedienen, falls ein Gast wiederbelebt werden muss. Es ist übrigens auch nicht der herbeigerufene Notarzt! Schwierig im Flieger! Wenn ein Gast aus welchen Gründen auch immer die Beherrschung verliert, sind es die Flugbegleiter, die diese Situation so regeln, dass die anderen Gäste möglichst nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Es ist nicht die herbeigerufene Polizei! Auch wenn der Handy-Akku explodiert, kann man sich auf seine Flugbegleiter verlassen und falls die Chlortabletten, die ein Gast zur Poolreinigung im Handgepäck hat, anfangen giftige Dämpfe zu bilden, sind es ebenfalls die Flugbegleiter, die wissen was zu tun ist, um Chlorgasvergiftungen zu vermeiden… Piloten wissen das und sind sich über den Wert ihrer Kabinenkollegen bewusst. In der öffentlichen Wahrnehmung findet das alles jedoch (zum Glück) nicht statt, weil all diese Situationen glücklicherweise sehr selten sind. Allerdings wurde der Asiana Crash wenigsten in Südkorea sehr wohl wahrgenommen, was dazu führte, dass Flugbegleiter eine deutliche Aufwertung in der öffentlichen Wahrnehmung Südkoreas erfahren haben. Der Luftfahrtpsychologe H. C. Foushee hat einmal folgendes gesagt: “A flying mission is always a team task.” Da jeder Fehler machen kann, egal wo er in die Hierarchie steht, ist jedes einzelne Teammitglied gleich wertvoll, allerdings zeigt sich dieser Wert manchmal erst, wenn es im Vorfeld zu fatalen Fehlern kommt.

Quo vadis, Stewardess?

Nun erlebe ich die Luftfahrt seit über zwanzig Jahren hautnah mit und ich muss sagen, die Dinge verändern sich rasant und nicht erst durch Corona. Der Luftfahrtpsychologe James Reason hat kürzlich erklärt, dass er der Meinung sei, dass die Luftfahrt ihr höchstes Level an Sicherheit bereits vor einigen Jahren erreicht habe. Klar sei Fliegen auch weiterhin sicher, aber das wirklich hohe Sicherheitsniveau, dass sich die Luftfahrt über Jahrzehnte hart erarbeitet habe, sei inzwischen wieder rückläufig. Er begründet diese These damit, dass die Wettbewerbssituation in der Luftfahrt angefacht durch das, was der Volksmund Billig-Airlines nennt, derart gnadenlos geworden ist, dass eine gesamte Branche dazu gezwungen ist, jeden Cent zweimal umzudrehen und sich auf diesen unwürdigen und gefährlichen Kampf einzulassen. Aus diesem Grund wird auch bei ihrem Kabinenpersonal gespart. Eine große, seriöse Airline mit hohem Sicherheitsniveau und angemessenen Arbeitsbedingungen macht es im Schatten von Corona vor: Da werden vermeintlich teure Töchter abgewickelt und eine neue kostenbewusstere Tochter aus dem Boden gestampft. Die Mitarbeiter der nun geschlossenen Töchter habe selbstverständlich die tolle Möglichkeit, bei der neuen Tochter anzufangen, natürlich für deutlich weniger Gehalt und zu “neuen” Bedingungen. Die Alternative ist natürlich Arbeitslosigkeit, weil sich selbstverständlich viele andere junge Menschen finden, die die angebotenen Verträge gerne annehmen. So läuft das in der freien Markwirtschaft. Allerdings hat das auch Folgen für die Sicherheit. Am 19. März 2019 musste ein Airbus A320 der Laudamotion in London den Start abbrechen. Das passiert selten und wenn man es miterlebt, ist das recht spektakulär, laut und auch etwas erschreckend. Es ist aber nicht lebensgefährlich und die Kabinenbesatzung sollte in einer solchen Situation auch auf keinen Fall selbstständig evakuieren. Die junge Chefflugbegleiterin hat aber trotzdem direkt nach dem Stillstand der Maschine reflexartig und eigenständig die Evakuierung eingeleitet. Da eines der Treibwerke noch lief, hat sie die evakuierten Gäste, für die sie verantwortlich war, in wirkliche und greifbare Gefahr gebracht. Die britischen Unfallermittler waren “not amused”, stellten aber fest, dass man den Vorwurf nicht in erster Linie dieser jungen Frau machen konnte, da sie von ihrem Arbeitgeber in eine Situation gebracht wurde, die sie niemals hätte meistern können. Totale Überforderung! Zum einen hatte die junge Frau nur wenig Erfahrung als Flugbegleiterin, wahrscheinlich zu wenig Erfahrung, um die Verantwortung als Chefflugbegleiterin zu übernehmen. Zum anderen hatte das wenige Training, dass sie erhalten hat, klare Defizite. Das System “Geiz-ist-geil” war schlichtweg der Hauptgrund dafür, dass dieses arme Mädchen, auf dem infolge erstmal gehörig rumgehackt wurde, niemals eine faire Chance hatte, ihren Job gut zu machen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Zum Glück verstanden die Piloten recht schnell, was vor sich ging und schalteten das noch laufenden Triebwerk ab. Nicht auszumalen, wäre ein Passagier in das noch laufende Triebwerk geraten… Unverantwortlich den Gästen gegenüber und unendlich gemein, niederträchtig und verantwortungslos meiner jungen Kollegin gegenüber. Eine Airline hat gegenüber ihren Mitarbeiten ihre Verantwortung und ihre Fürsorgepflicht wahrzunehmen!

Schuld ist natürlich immer der andere

Selbstverständlich führen solche Situationen mal wieder zu allgemeinem Airline-Bashing! -Verschmutzen die Umwelt und kümmern sich dabei noch nicht mal angemessen um ihre Mitarbeiter, bilden sie nicht richtig aus und riskieren die Gesundheit ihrer Passagiere! Natürlich ist es ein No-Go, was die ein oder andere Airline so treibt, auf Kosten ihrer Mitarbeiter, ihrer Gäste, der Sicherheit. Ein unverschämtes und verantwortungsloses Verhalten! Was ich jedoch wirklich unverschämt und verantwortungslos finde, ist, dass die Qualität einer Airline in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend vor allem anhand ihres Service definiert wird, selbst wenn diese gefeierte Dienstleistungsbereitschaft auf Kosten der Sicherheit geht. Beispiel gefällig: “Die Airline XY ist viel besser, weil die Stewardessen da viel netter sind. Da muss ich mein Kind nicht zur Landung wecken, um es anzuschnallen! Ich werde mich über Sie beschweren.” Kurze Erinnerung: Beim Crash der Asiana sind nur die Gäste gestorben, die nicht angeschnallt waren. Die ein oder andere Stewardess denkt sich in einer solchen Situation sicher so etwas wie: “Und mir ist Ihr Kind und dessen Gesundheit so wichtig, dass ich mich dafür sogar mit Ihnen streite. Mir könnte es auch einfach egal sein und ich könnte weitergehen. Das würde meinen Tag viel netter und einfacher machen. Aber ich bin mir meiner Verantwortung für meine Gäste bewusst.” Dabei lächelt die Stewardess freundlich, weil sie den Unmut der gestressten Mutter natürlich versteht, erklärt ihr die Situation nochmal ganz freundlich und hilft ihr, das Kind vorsichtig, sicher anzuschnallen, möglichst ohne es aufzuwecken. Wobei das am Ende des Tages eigentlich egal ist, weil man dann doch am liebsten den billigsten Flug bucht…

Liebe Verbraucher, auch ihr habt Verantwortung. Im Prinzip habt ihr es sogar in der Hand. Ihr habt mit Geiz-ist-geil angefangen, ihr könnt damit aufhören und vor allem könnt ihr euch entscheiden, wie ihr Flugbeleiter wahrnehmt: Servicepersonal, dass einen gängelt oder Menschen, die Verantwortung für das Wohlergehen anderer Menschen übernehmen. Wer sicher von A nach B möchte, tut gut daran, zu verstehen, dass Flugbegleiter dafür absolut systemrelevant sind, so wie es das Pflegepersonal für die Intensivstationen ist. Ein Flugzeug mit Piloten allein ist, wenn es um Menschenleben geht, so hilfreich wie eine Intensivstation mit vielen Betten und Ärzten, aber ohne Pflegepersonal.

Krankenschwestern, Stewardessen - stets sanft lächelnde Lebensretter die einfach da sind, als gegeben hingenommen werden, im Verborgenen wirksam werden, ihre gefeierten Piloten und Ärzte unterstützen, damit man im Team gemeinsam Leben rettet. Jeder leistet seinen Beitrag, seinen systemrelevanten Beitrag. Für diesen Beitrag hat man Respekt verdient und eine Bezahlung, die diesen Respekt widerspiegelt und vor allem hat man eine Ausbildung verdient, die einen in angemessener Art und Weise auf seinen verantwortungsvollen Berufsalltag vorbereitet

Liebe Verbraucher, hört auf über die Geister zu schimpfen, die ihr selbst herbeigerufen habt! Wenn ihr diese Geister nicht mögt, ruft euch neue, bessere Geister herbei. Marktwirtschaft bedeutet nämlich auch, dass der Markt die Wirtschaft macht und der Markt sind wir! - Wow, ich sollte eine Revolution anzetteln!

Eure Constance

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Cabin under Preassure

Flugbegleiter in Zeiten von Billigfliegern - zwischen Verantwortung und wirtschaftlichem Druck