Liebe Luftfahrt,
es ist jetzt fast genau 21 Jahre her, dass ich mich für dich entschieden habe! Zwei Jahre sollten es sein. Aber mein Gott, hatte ich Spaß mit dir, ich konnte nicht gehen, denn eigentlich war immer nur Fliegen schöner! Du hast mir Zeit gegeben, um mich zu orientieren, Raum um zu wachsen und mir den Weg aufgezeigt, den ich immer weiter gehen wollte. Dieser Weg hatte seinen Ursprung während meiner Grundschulung. Das war eine wirklich aufregende Zeit. Ich musste mir meinen ersten Lippenstift kaufen und kam mir trotz meiner 1,84m verdammt klein vor, mit Anfang zwanzig, zwischen all diesen coolen Ladies! Wir haben so viel gelernt, mit dem ich niemals gerechnet hätte: Feuer löschen, Wiederbelebungsmaßnahmen, Verhalten bei Flugzeugentführungen, schwimmen mit Rettungsweste im Wellenbad… Das war eine verrückte Reise, gemeinsam mit meinem 134. Flugbegleiter Lehrgang! Das spannendste für mich waren aber zwei Tage, von denen ich im Vorfeld keine Ahnung hatte, was sie bedeuten sollten. Im Stundenplan stand Crew Ressource Management Training und ich, die ich mich weiterhin eher klein, unsicher und halbwegs überfordert gefühlt habe, durfte lernen, wie wichtig ich bin. Denn um erfolgreich zu sein, braucht man in der Luftfahrt ein Team, das gut zusammenarbeitet und in dem jeder Beachtung und Wertschätzung erfährt, weil jeder gleich wichtig für den Erfolg ist. Außerdem habe ich gelernt, dass es ganz normal ist, Angst zu haben, Stress und Herzrasen zu spüren, dass man alles das zulassen darf um dann eine Strategie zu finden, wieder ruhiger zu werden. Und dann wurde mir noch meine große Angst vor Fehlern genommen, da Fehler normal sind. Jeder Mensch macht Fehler und zukünftig war ich sogar dazu aufgerufen, meine Fehler proaktiv mitzuteilen, weil man daraus lernen wollte. Das hat alles so viel Sinn ergeben! Am Ende dieser beiden Tage dachte ich, dass die ganze Arbeitswelt so funktioniert, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass man anders auf lange Frist erfolgreich sein könnte. Ich wurde älter und lernte, dass dieses “gemeinsam und als Team erfolgreich sein” keineswegs normale Unternehmenskultur ist. Liebe Luftfahrt, vielen Dank, dass du den unschätzbaren Wert deiner einzelnen Crew Members schon Anfang der Achtziger Jahre erkannt hast und entschieden hast, dass das, was man heut Soft Skills nennt, wichtig ist, so wichtig, dass deine Crews jährliche Schulungen darin bekommen.
Die Idee hinter Crew Ressource Management hat mich nicht mehr losgelassen und einige Jahre später wurde ich selbst CRM-Trainer und meine Trainerin von damals wurde nicht nur meine Chefin, sondern vor allem meine Mentorin. Ich durfte weiterwachsen und mich entwickeln und irgendwann kam, was kommen musste: ich musste über den Tellerrand meiner geliebten Flugzeuge hinausschauen, um diesen unglaublichen Erfolgsfaktor Team, wie er in der Luftfahrt allgegenwärtig ist, in die Welt hinaus zu tragen. Das war wie ein innerer Imperativ! Und weißt du was, liebe Luftfahrt, es ist total verrückt! Da draußen in der großen, weiten Welt boomt gerade die Idee der Agilität! Der neuste heiße Scheiß! Und was ist da das Wichtigste? -Der Mensch, der das Team zum Star macht, weil man verstanden hat, dass man in einem komplexen und dynamischen Umfeld nicht anders erfolgreich sein kann. Wie unsere Kapitäne und Purser, sind sich auch Führungskräfte mit agilem Mindset bewusst darüber, dass ihr Team ihre wertvollste Ressource ist. Das nennt man dort Servant Leadership!
Tja, so habe ich schon im letzten Jahr damit angefangen, dir fremd zu gehen, immer mal wieder. Ich konnte nicht anders. Du hast mir so viel mitgegeben, dass ich das einfach in die Welt hinaustragen musste. Und dort draußen, in der Welt, bin ich immer weitergewachsen. Ich habe so viel gelernt und mich rasant weiterentwickelt.
Hätte ich auf meinem letzten Flug vor gut zwei Wochen gewusst, dass dies mein allerletzter Flug gewesen sein sollte, hätte ich diesen Tag sicher etwas bewusster wahrgenommen. Vielleicht hätte ich auch ein etwas erhabeneres Foto von mir unterm Leitwerk machen lassen. Stattdessen war es wie immer und so ist unser letztes gemeinsames Foto auch irgendwie authentisch: völlig unglamourös in der Mittagspause neben dem Putzeimer und ganz viel Spaß dabei. Danke für diese gemeinsame Reise! Danach haben sich die Ereignisse bei mir überschlagen. Manchmal muss man die Chancen, die sich einem bieten, einfach ergreifen. Ich hoffe du verstehst das. Du hast mir so viel Raum zum Wachsen gegeben und mich auf den Weg gebracht, auf dem ich jetzt weitergehen werde. Allerdings sind mir diese wunderschönen alten Schuhe mit diesen zauberhaften Flügeln dabei zu klein geworden. Ich bekomme jetzt neue Schuhe, die mich weiter durchs Leben tragen werden. Aber ganz egal wie weit mich diese Schuhe tragen werden, du bleibst in meinem Herzen, denn man sollte eben auch nie vergessen, wo man herkommt, egal wie hoch man fliegt!
Liebe Kollegen in der Flugzeugkabine,
als dieses Virus angefangen hat, immer weiter um sich zu greifen und wir alle vorübergehend zu Fußgängern wurde, dachte ich zunächst, ich würde die Flugzeuge vermissen. Aber es waren nicht die Flugzeuge, die mir gefehlt haben. Wirklich vermisst habe ich euch. Verdammt, was haben wir gemeinsam erlebt?! Gemeinsam haben wir uns zu mentalen und körperlichen Höchstleistungen getragen, zu denen ich alleine niemals in der Lage gewesen wäre. Wir haben uns gemeinsam durch alles gekämpft: durch lange Nächte ohne Schlaf und totale körperliche Ermüdung, durch Situationen, die mir unglaublich viel Angst gemacht haben, die bedrohlich waren. Wir haben uns durch Momente der totalen Hilflosigkeit gehangelt, gemeinsam! Egal was war, wir haben es gemeinsam geregelt. Noch viel präsenter als die dunklen Momente sind die unendlich viele skurrilen Situationen. Wie oft haben wir gemeinsam gelacht und was haben wir alles gesehen und erlebt. Die Welt hat uns gehört und die Partys waren legendär! So sind wir immer wieder nach Frankfurt zurückgekommen, haben zum Abschied gelacht und uns in die Arme genommen, um uns auf die nächste gemeinsame Reise zu freuen. Dieses Mal kann ich euch zum Abschied nicht umarmen, was mich wirklich traurig macht. Aber mein erster Flug als Passagier ist schon gebucht, dann vielleicht ohne Maske und vielleicht darf ich mich ja während einer langen Nacht ein bisschen zu euch in die Küche setzen und vielleicht darf ich auch einmal Toilettenpapier nachfüllen…
Vielen Dank für die letzten 21 Jahre. Die Flüge mit euch waren jedes Mal verrückt, unser Zusammenhalt war für gewöhnlich einzigartig und in meinen Schulungen hatte ich manchmal das Gefühl, mehr von euch lernen zu dürfen, als ich euch beibringen konnte. Vergesst niemals euren individuellen Wert. Würde es um Kaffee und Tee gehen, würden da Getränkeautomaten stehen. Ihr schützt und rettet Menschen und ihr haltet den Laden am Laufen. Ihr seid das Herz der Luftfahrt.
Liebe Luftfahrt-Manager,
was soll ich euch in dieser turbulenten Zeit wünschen? Corona schüttelt eine ganz Brache ganz schön durch und Existenzängste, sich anhäufende Schuldenberge und die Ungewissheit darüber, wann es endlich wieder richtig losgehen kann, legen die Stirn sicher in tiefe Falten und sorgen für die ein oder andere schlaflose Nacht. Ich wünsche euch vor allem die innere Kraft, die es benötigt, um diese Sorgen und den daraus resultierenden immensen Druck nicht ungefiltert weiterzugeben. Wenn es darum geht, den Laden wieder zum Laufen zu bringen, werdet ihr auf eure Leute vertrauen müssen, im Flieger, wie auch in den Büros. Sie werden eure wertvollste Ressource sein und sie werden 150 Prozent geben müssen um erfolgreich und sicher agieren zu können. Aber für 150 Prozent Leistung braucht der Mensch vor allem eines: das Gefühl von Sicherheit. Ich würde mir sehr wünschen, dass ihr versucht Ängste zu nehmen, anstatt sie zu befeuern, denn am Ende geht es um die Flugsicherheit. Egal wie hoch der wirtschaftliche Druck auch ist, die Luftfahrt bleibt ein High Risk Environment, in dem ein Erfolgsfaktor auch immer bedeutet, dass alle gesund und munter von A nach B kommen. Auch hierfür tragt ihr eine große Verantwortung. -Vielleicht ist das sogar die größte Verantwortung, die man überhaupt tragen kann.
Liebe Piloten,
verdammt, ich werde euch vermissen. Ihr seid so anders als wir in der Kabine, was auch gut so ist. Ist euer Auftrag doch ein anderer als unserer, auch wenn uns ein geneinsames Ziel stets eint. Wäre ich Pilot, würde ich mir immer wieder vor Augen führen, wie gut ich bin und was ich alles kann, um mir danach bewusst darüber zu werden, wo meine Grenzen sind und dass ich nicht nur auf meine eigenen Ressourcen vertrauen kann, sondern auch auf die meiner Kollegen, im Cockpit, wie auch in der Kabine. Den Ersten Offizieren wünsche ich den Mut, Stopp zu sagen und Verantwortung zu übernehmen, wann immer es nötig ist und den Kapitänen wünsche ich, dass der immer rasanter ansteigende wirtschaftlich Druck möglichst wenig Einfluss auf eure Entscheidungsfindungsprozesse hat, wann immer es um die Sicherheit der euch anvertrauten Passagiere und Kollegen geht. Das hört sich so einfach an, bedarf aber breiter Schultern und verdammt viel Rückgrat. Dafür habt ihr meinen ganz besonderen Respekt und auch als Passagier werde ich zukünftig mit dem gleichen Vertrauen in ein Flugzeug steigen, wie ich es bislang als Teil eurer Crew getan habe.
Und last but not least: liebe Passagiere,
schon sehr bald werde ich einer von euch sein und da frage ich mich natürlich, welche Art Passagier ich sein werde oder sein möchte… Eines steht fest, ihr habt 21 Jahre lang für verdammt viel Farbe in meinem Leben gesorgt. Es gibt Momente, in denen ich mir sicher bin, dass mir nichts Menschliches mehr fremd ist. Gemeinsam in die Enge dieser Röhre, die von außen wie ein Flugzeug aussieht, gesperrt, kamt ihr häufig gar nicht umhin, eure Gefühle ungefiltert mit mir zu teilen: Freude, Glück, Unsicherheit, Angst, Panik, Stress, Unzufriedenheit, Trauer, Wut und sogar Aggression… Dank euch durfte ich lernen, mit der kompletten Bandbreite der menschlichen Gefühlswelt agieren zu können. Klar waren mir dabei die “schönen” Emotionen lieber, aber die andere Seite gehört eben auch dazu und dank euch habe ich keine Angst mehr vor diesen Emotionen. Ihr habt so viel mit mir geteilt, manchmal hat mir das die Schamesröte ins Gesicht getrieben, meist empfand ich es jedoch als großen Vertrauensbeweis und Privileg. Manche eurer Geschichten werden für immer Teil meiner Erinnerung bleiben. Eine dieser Geschichten, die mich nicht mehr loslassen, trug sich auf einer schönen Karibikinsel zu. Nach dem Boarding war da eine Dame, deren Verhalten so sonderbar und nicht einschätzbar war, dass wir uns gar nicht sicher waren, ob wir diese Dame mit über das große Wasser nehmen sollten. Ich sprach sie an, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was mit ihr los war. Sie zeigte auf ihre Handtasche, die sie im Arm hielt, wie einen wertvollen Schatz und fing an zu weinen. In der Handtasche befand sich die Asche ihrer während einer Rucksackreise ermordeten Tochter, die sie so nachhause holen wollte. Ich musste mitweinen. Das war nicht professionell, aber es war unvermeidbar. Wir alle hätten gerne mehr für sie getan. Alles was uns blieb, war ihr einen Platz ganz für sich allein zu suchen, um sie und ihre Tochter sicher nachhause zu bringen. Ich habe mit euch geweint, ich habe mit euch gelacht, manchmal habe ich mit euch gefeiert und gelegentlich musste ich euch auch sehr deutlich eure Grenze aufzeigen. Das war alles bunt und schön. Danke dafür! Ich hoffe ihr werdet das Leben meiner Kollegen zukünftig ebenso so bunt gestalten.
Zum Abschied
Ich weiß genau, was ich zurücklasse und mein Trennungsschmerz ist enorm. Jedoch ist dieser Abschied unvermeidbar. Ich kann nicht anders als zu gehen. Manchmal bietet das Leben einem eine Chance, die man nicht vorbeiziehen lassen darf. Auf diesen Abschied folgt für mich ein aufregender Neuanfang. Mein Leben wird sich total verändern und ich fühle mich ein wenig wie damals, mit Anfang zwanzig, als ich meine ersten Schritte in der Luftfahrt gewagt habe. Alles ist etwas unsicher und unbekannt, aber auch spannend und neu und dieses verrückte Gefühl, dass einem plötzlich wieder die ganze Welt offensteht, weil da noch so viel mehr ist, ist ein wahrer Jungbrunnen. Meine Falten Cremes habe ich jedenfalls eingemottet und alles steht auf Neuanfang! Wenn ihr möchtet, nehme ich euch in den nächsten Wochen an dieser Stelle gerne mit auf meine Reise und werde darüber berichten, wie ich Change-Management mit mir selbst betreibe!
Eure Constance