Daniel Kahneman

Let's make some noise! Oder schlafende Hunde besser nicht aufwecken? - Entscheidungsfindungsprozesse mit Hintergrundrauschen

Happy New Year…

Darf man sich ja noch wünschen, oder? Ich hoffe ihr seid gut ins neue Jahr gekommen. Ich für meinen Teil bis sehr gespannt, was dieses Jahr 2022 mit sich bringt. Ein paar Ideen habe ich, aber am Ende kommt ja doch immer alles anders, als man denkt. Zumindest der Anfang war für mich recht entspannt, was aber ganz sicher nicht so bleiben wird.

Ich liege gerade mit Kurt, unserem neusten Familienmitglied auf der Couch und die sonst gerne auch mal recht quirlige kleine Französische Bulldogge döst friedlich vor sich hin. Schlafende Hunde soll man nicht aufwecken, schießt mir in den Kopf und ich verhalte mich ganz ruhig, um in Ruhe weiterschreiben zu können.

Schlafende Hunde soll man nicht aufwecken… So oder so ähnlich höre ich es gerne auch mal im Job, wenn ich mich in den Organisationseinheiten, die ich begleite, dazu aufmache, allen Mist, Staub und Dreck, der sich naturgemäß so ansammelt, an die Oberfläche zu spülen. Ist es sinnvoll, hierbei proaktiv oder reaktiv zu sein? Ich komme aus der Luftfahrt und habe mehr als deutlich gelernt, dass eine reaktive Haltung verdammt blutig enden kann. Zwischen den Jahren bin ich über ein Thema gestolpert, das ich ganz sicher proaktiv bei meinen Kunden ansprechen werde. Ebenso proaktive möchte ich meine Gedanken dazu auch mit euch teilen. - Und vielleicht einen schlafenden Hund wecken!

Das Märchen der richtigen Entscheidung

Ich habe schon häufiger über Entscheidungsfindungsprozesse geschrieben, stellen sie doch den Kern unseres Schaltens und Waltens auf Erden dar. Wir wachen morgens auf und treffen bereits die erste Entscheidung: direkt raus aus den Federn oder nochmal 10 Minuten auf Snooze? Schon an dieser Stelle durchlaufen wir alle einen individuellen Prozess mit unterschiedlichen Ergebnissen. Was ist richtig? Was ist falsch? -Beides, wenn es eben passt! Kaffee oder Tee? Frühstück oder gleich los? Und natürlich: was ziehe ich an?

So hangeln wir uns durch den Tag, jeder für sich und doch alle gemeinsam. Was uns sicher eint ist, dass jeder von uns immer bestmöglich entscheiden möchte, bzw. keiner von uns absichtlich eine falsche Entscheidung trifft.

Im Job geht es direkt weiter. Eine Entscheidung jagt die nächste. Besonders spannend wird es, wenn die Entscheidungen, die wir im Job treffen Folgen haben. Natürlich entscheiden wir auch hier nach bestem Wissen und Gewissen und trotzdem jeder von uns ein bisschen anders. Nehmen wir zum Beispiel einen Richter, der sich an Recht und Gesetz hält und seine Urteile natürlich bestmöglich trifft. Eigentlich müssten folglich alle Richter in Fällen mit exakt gleicher Sachlage auch immer gleich entscheiden. Tun sie aber nicht! Natürlich liegt das an der subjektiven Beurteilung der Fakten. So ist der eine Richter milder als der andere. Den einen empört zum Beispiel Betrug ganz besonders, der andere ist genau hier weniger scharf in seinem Urteil. Auf diese Weise entsteht selbst in unserem Rechtssystem eine gewisse Zufälligkeit. Und es gibt noch mehr Umstände die die Zufälligkeit noch viel zufälliger werden lassen. Studien aus den USA belegen, dass sogar Temperaturschwankungen Einfluss auf Gerichtsurteile haben, oder ob die örtliche Football-Mannschaft am Wochenende verloren hat, der Angeklagte Geburtstag hat, oder um den wievielten Fall des Tages es sich handelt. Total unberechenbar, oder?

Diese unberechenbare Abweichung bezeichnet der der Wirtschaftspsychologe Daniel Kahneman in seinem neusten Buch, das er gemeinsam mit den Herren Sibony und Sunstein geschrieben hat, als Noise.

Noise oder Bias

Nun wird der ein oder andere von euch sich völlig zurecht denken: diese Abweichung zur Norm kenne ich schon. Das habe ich bisher Bias genannt. Warum braucht es dafür ein neues Wort? Ganz einfach: weil es sich um zwei unterschiedliche Paar Schuhe handelt. Ich erkläre es kurz.

Wir stellen uns vor, eine gesamte Personalabteilung sei der Meinung, dass Frauen weniger geeignet wären eine Führungsposition einzunehmen! Das ist natürlich nur rein hypothetisch und total konstruiert! Aber stellen wir uns das einfach mal vor. So würde es zu einer einheitlichen Abweichung in der Beurteilung der Eignung von Frauen kommen. Das wäre dann ein unschöner, aber doch sehr berechenbarer Bias.

Stellen wir uns nun vor, dass es in ein und derselben Personalabteilung Kollegen gibt, die Frauen als weniger geeignet für Führungspositionen sehen, andere, die glauben, Frauen, seien generell besser geeignet, und natürlich gibt es auch die eine Hardlinerin, die glaubt es braucht generell mehr Frauen in der Chefetage, Qualifikation erstmal zweitrangig. Auch hier gibt es eine Abweichung von der Norm oder dem Ideal, allerdings eine komplett unberechenbare Abweichung, welche die drei W eisen aus den USA als Noise bezeichnen.

Sowohl Bias als auch Noise führen zu falschen Entscheidungen. Während das eine berechenbar ist, ist das andere total unberechenbar, weil es auf individuellen kognitiven Fehlleistungen beruht.

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Diese Frage stellte sich dereinst Paul Watzlawick, als er seine Theorie des radikalen Kontruktivismus beschreibt. Watzlawick legt sehr eindeutig dar, dass wir Menschen uns unsere Wirklichkeit selbst konstruieren, passend zu unseren Erfahrungen, unserem Wertesystem, unseren Vorlieben und so weiter. Hier bringt jeder sein ganz eigenes Päckchen mit, was toll ist! Macht uns das doch ganz einzigartig. Gleichzeitig ruft genau das Noise hervor, da es dazu führt, dass wir ein und denselben Sachverhalt unterschiedlich einordnen oder beurteilen. Hierzu gab es Studien bei Versicherungen, die belegen, dass unterschiedliche Sachbearbeiter den gleichen Umstand unterschiedlich bewerten. Die Abweichung liegt laut den Erkenntnissen Kahnemans bei über 50 Prozent. Das ist eine Menge! Besonders wenn es wie bei Versicherungen, oder Banken ums Geld geht, ganz zu schweigen, davon, wenn Justitia ins Spiel kommt!

Noise in Organisationen

Wie bei all diesen neuen Erkenntnissen aus den Federn der Wirtschaftspsychologen und Beratern, stellt sich die Gretchen-Frage, was Organisationen nun damit anfangen sollen. Als Coach würde ich mir im ersten Schritt mal anschauen, wie es denn um Noise, dieses Hintergrundrauschen, in der jeweiligen Organisation (-seinheit) bestellt ist. Wie? Ganz einfach! Ich konstruiere einen Sachverhalt, den es zu beurteilen gilt und gebe diesen unterschiedlichen Mitarbeitern und schaue mir am wie sie entscheiden, bzw. wie groß die Streuung der Ergebnisse ist.

Im zweiten Schritt geht es darum, die allgemeine Aufmerksamkeit auf das Thema Noise zu lenken. Hier muss ich quasi den schlafenden Hund der kognitiven Diversität innerhalb meiner Organisation wecken!

Und dann? Dann ist es erstmal wichtig zu betonen, dass diese Unterschiedlichkeit keineswegs schlecht ist. Im Gegenteil! Es geht nämlich aus meiner Sicht nicht darum, ein Noise-freies System zu konstruieren. Das wäre das Ende von Innovation und Kreativität. Auch darf es keineswegs passieren, dass individuelle Ermessensspielräume genommen werden. In einem dynamischen und komplexen Umfeld würde dies das relative sichere Ende der Organisation bedeuten.

Also, was tun? Selbstverständlich das, was wir VUKA-Priester und Coaches Tag ein Tag aus von unserer hohen Kanzel aus predigen: analytisch das Team als Ressource auch im Rahmen von Entscheidungsfindungsprozessen nutzen und Transparenz schaffen. Aber gerne mal eins nach dem anderen:

  1. Zunächst muss jeder einzelne Mitarbeiter verstehen, dass es bei Entscheidungen nicht um den Ausdruck von Persönlichkeit, sondern von Genauigkeit geht. Dazu ist es hilfreich, die Mitarbeiter dabei zu unterstützen, sich hinsichtlich ihrer ganz persönlichen Einflussfaktoren zu reflektieren.

  2. Während des Prozesses der Entscheidungsfindung ist es sinnvoll, eine Art Metaebene einzunehmen, von der aus man seinen individuellen Fall nicht als isolierten Einzelfall sieht, sondern versucht sich im Rahmen der Entscheidung auf eine Referenz ähnlich gelagerter Problemfälle zu beziehen.

  3. Auch ist es immer hilfreich, sich Beratung oder Unterstützung zu holen. Vielleicht lässt sich die eine, große Entscheidung in mehrere Teilentscheidungen zerlegen, die von unterschiedlichen Menschen getroffen werden können. Laut Kahneman und Konsorten ein ausgesprochen zielführendes Vorgehen.

  4. Warum nicht das Team nutzen, um andere Perspektiven einzubeziehen?! Aber bitte so, dass erst jeder für sich eine bestmögliche Entscheidung trifft und dann darüber gesprochen wird. Wird erst diskutiert, ist es den einzelnen Teammitgliedern nicht mehr möglich, ihre Entscheidung ganz unabhängig zu treffen. Eine Diskussion im Vorfeld würde diese verfälschen. Am dieser Stell muss ich gestehen, dass ich nicht zu hundert Prozent mit Kahneman übereinstimmen kann. Ich weiß natürlich was er meint. Diese Art der Voreingenommenheit möglichst zu verhindern um ein halbwegs objektives Bild der Situation zu bekommen, sollte Thema sein. Allerdings merke ich immer wieder an mir selbst, wie wichtig diese Diskussionen für meinen eigenen Horizont sind. Allerdings sollten diese faktenbasierend und nicht basierend auf Meinungen stattfinden.

  5. Ferner ist es laut Kahneman ausgesprochen hilfreich, Menschen nicht mit zu vielen Informationen zu überfrachten. Weniger ist mehr und hilft den Fokus zu halten. -Nicht einfach, betrachtet man den teilweise inflationären Informationsfluss in Organisationen.

  6. Abschließend schreibt Kahneman, dass Intuition durchaus am Ende des Prozesses eine Rolle spielen darf, da Entscheider das belohnende Gefühl brauchen, ihrer Intuition vertrauen zu können. Niemals darf Intuition jedoch am Anfang des Prozesses stehen. Stattdessen ist es wichtig, analytisch und faktenbasierend in den Prozess einzusteigen. Der intuitive Teil darf dann nach der analytischen Betrachtung aller Dimensionen mit einem gewissen zeitlichen Abstand folgen.

Natürlich kann man auch mit Hilfe von Algorithmen versuchen Noise in einer Organisation zu reduzieren, allerdings ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass diese Algorithmen dann rassistisch, sexistisch oder anderweitig diskriminierend sind. Das erscheint mir persönlich wenig hilfreich! Also eben doch die schlafenden Hunde wecken und über Noise reden, Menschen, Teams, Organisationen dazu anregen sich selbst hinsichtlich ihrer Entscheidungsfindungsprozesse zu reflektieren und sich darüber bewusst sein, dass es diese eine objektiv richtige Entscheidung zumeist nicht gibt.

Ich wünsche euch einen wunderschönen Sonntag. Ich werde wohl in aller Stille mit dem Hund in den Schnee gehen, der schon seit Freitag ganz lautlos fällt.

Eure Constance

Schlafenden Hunde sollte man nicht aufwecken!

Trotzdem ist es manchmal sinvoll, anständig Krach zu machen…

Die Vorzüge der ewig missverstandenen Intuition und warum man im Business mit Wassermelone erfolgreicher ist, als mit Schokolade

Daniel Kahneman, großer Denker und Nobelpreisträger

Der US-amerikanisch-israelische Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat im Jahr 2011 mit seinem Buch “Schnelles Denken, langsames Denken” einen für die Wirtschaft im allgemeinen und für die Welt der sagenumwobenen “New Work” einen aus meiner Sicht wirklich großen Wurf gelandet. Der Harvard Professor Steven Pinker bezeichnet Kahneman als den wichtigsten Psychologen der Gegenwart und der Economist hat Kahneman im Jahr 2015 unter die zehn weltweit einflussreichsten Ökonomen gewählt. Woher all der Ruhm? Gemeinsam mit seinem Kollegen Amos Tversky legte Kahneman die Grundlagen der Verhaltensökonomie. Sein Forschungsfeld war es, das menschliche Urteilsvermögen im Rahmen wirtschaftlicher Entscheidungsfindungsprozessen realistischer (und menschlicher) darzustellen, als es traditionelle Kosten-Nutzen-Modelle tun. Wir können es drehen und wenden, wie es uns beliebt, was bleibt ist, dass der Mensch eben so intuitiv wie reflektiert ist und auch genau so entscheidet. Kahneman bezeichnet das als zwei Systeme, die dem Mensch inne wohnen, ihn beeinflussen und beide Vorzüge und Nachteile haben.

Schnelles Denken, langsames Denken - zwei Systeme, ein Mensch

Daniel Kahneman hat im Rahmen seiner Forschung herausgearbeitet, dass es in unseren Gehirnen zwei grundlegend unterschiedliche Weisen zu denken gibt. Diese stellt er anhand von zwei Systemen dar, die selbstverständlich als Metapher zu verstehen sind, unsere Arten zu denken jedoch sehr anschaulich machen:

  • System 1: schnell, automatisch, immer aktiv, stereotypisierend, emotional, intuitiv, unbewusst, nicht besonders intelligent

  • System 2: langsam, logisch, anstrengend, selten aktiv, berechnend, bewusst, klug, wenig effektiv

Kahneman beschreibt in seinem Buch eine Reihe von Experimenten, die die Unterschiede beider Denkprozesse herausstellen und zeigt eindrucksvoll auf, wie beide Systeme oft zu verschiedenen Schlussfolgerungen kommen. Ja ja, der kleine Widerspruch in uns, mit dem schon Faust in Gestalt seiner zwei Seelen zu kämpfen hatte. Dieses Problem scheint so alt wie die Menschheit selbst. Die Frage ist immer, welche Seele am Ende gewinnt!

System 1 hat in Kahnemans Struktur die Aufgabe uns das Leben zu retten. Es entscheidet permanent, ob wir vor etwas fliehen möchten, kämpfen müssen, oder ob wir etwas lieben. Hierfür sammelt System 1 unendlich viele Bilder und Erfahrungen vom Normalfall und schlägt bei jeder Abweichung von der abgespeicherten Normalität, oder bei allem, was auf eine Gefahr hindeuten könnte, Alarm. System 1 ist hierbei vor allem eins: sehr fleißig. Es arbeitet permanent und mühelos. Es erkennt Situationen, liest Emotionen und verarbeitet Sinneseindrücke. Das Problem ist, dass es sich hierbei gerne und einfach täuschen lässt. Im Prinzip reicht hierfür eine 3D-Brille. Hinzu kommen aber noch allerlei Wahrnehmungs- und Interpretationsfallen, die einfach allgegenwärtig sind.

Zum Glück hat die Evolution uns noch mit System 2 ausgestattet. System 2 ist extrem gut darin, Dinge zu ordnen. - Wie zum Beispiel all die Bilder und Eindrücke, die System 1 unentwegt erzeugt. System 2 schafft es, System 1 zur Ordnung zu rufen, sich zu fragen, ob das denn nun real sei, oder alles nur durch eine 3D-Brille vorgespielt wird. Es kennt sogar einige dieser zahllosen Wahrnehmungs- und Interpretationsfallen. Außerdem ist System 2 eine Art Gewissen und soziale Notbremse. Es sorgt dafür, dass wir auch die blöden Nachbarn grüßen, weil wir bei der nächsten Paketannahme vielleicht auf sie angewiesen sind. Es verhindert, dass wir die Schokolade essen, weil wir uns gerade in Mitten einer Beerdigungszeremonie befinden und das unangebracht wäre. Dieses System 2 ist einfach großartig und man fragt sich, warum es nicht einfach alle unsere Entscheidungen trifft.

Das faule Superhirn

System 2 ist leider sehr langsam, arbeitet ineffizient und benötigt dabei auch noch eine Menge Energie in Form von Glukose! Hinzu kommt, dass in unserer Realität immer viele Dinge gleichzeitig passieren und System 2 ist absolut kein Multitasker. Tja, und wann immer System 2 schwächelt, spring das super fleißige System 1 ein.

Über Fehlurteile und dumme Entscheidungen

Eine der häufigsten Gründe für dumme Entscheidungen oder Fehlurteile ist, dass System 2 gerade nicht vollumfänglich verfügbar ist, weil es entweder beschäftigt, müde oder hungrig ist. Die einfachste Möglichkeit, System 2 mal im Selbstversuch Schritt für Schritt auszuschalten, ist übrigens, ihm Alkohol zu geben. Während es sich dann schrittweise verabschiedet, können wir wahrnehmen, wie System 1 langsam übernimmt. Es ist natürlich der Meinung, dass noch ein weiteres Getränk zu verschmerzen ist, es lässt Gefühle ungefiltert raus, findet sich selbst dabei einfach nur mega toll und im schlimmsten Fall ist es natürlich der Meinung, dass es sowohl tanzen, als auch Auto fahren kann. Natürlich müssen schlechte Entscheidungen nicht zwangsläufig etwas mit Drogenkonsum zu tun haben. System 2 ist nicht nur nicht in der Lage, zwei Dinge gleichzeitig zu erledigen, sondern es ist auch damit überfordert, sie zu lange am Stück oder zur falschen Uhrzeit zu tun. Nachts möchte es nämlich schlafen, außerdem arbeitet es nicht gerne lange am Stück und teilt sich deshalb seine Pausen selbstständig ein. Aus diesem Grund gibt es zum Beispiel für Flugzeugbesatzungen vorgeschriebene maximale Dienstzeiten, Ruhezeit und ein verpflichtendes Fatigue Risk Training. Ich möchte nicht, dass mein Kapitän bei einer böigen Landung nur noch über System 1 verfügt.

Und jetzt?

Die große Frage ist jetzt natürlich, wie man damit umgehen kann. System 1 ist schnell, flink, allgegenwärtig und wir können uns nicht gegen seine Aktivität wehren? Dass so hinzunehmen, wäre wohl zu einfach. Schon der große Kant hat das besser gewusst: “Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen”. Sich entscheiden, zu denken, Dinge proaktiv hinterfragen, abwägen und die Perspektive wechseln führt unweigerlich zu einer besseren Entscheidung, weil dadurch automatisch System 2 hinzugeschaltet wird. Hierauf setzen viele analytische Entscheidungsfindungsmodelle. (Solltet ihr ein solches kennenlernen möchten, findet ihr hier den Link)

Doch es gibt noch weitere gute Möglichkeiten, seine zwei Systeme zu managen. System 1 ist nicht nur der Ursprung vieler Dinge, die wir vermeintlich falsch machen, sondern auch sehr vieler Dinge, die wir außergewöhnlich richtig machen. In unserer komplexen Arbeitswelt können wir gar nicht alles über System 2 laufen lassen. Das fleißige System 1 kann ein wertvoller Verbündeter sein, wenn es darum geht, Komplexität zu managen, wenn System 2 überlastet ist. Dazu müssen wir es aber trainieren und schulen. Je mehr unserer alltäglichen und standardisierten Aufgaben System 1 übernimmt, desto besser können wir System 2 schonen. So ist es dann dienstbereit, wenn es wirklich drauf ankommt. Dazu können Organisationen zum Beispiel Abläufe standardisieren, Check Listen erstellen und ihre Mitarbeiter die Standards so ausführlich üben lassen, bis diese in Fleisch und Blut, bzw. in System 1 übergegangen sind. So hat System 2 genügen Kapazität, um sich um Non-Standards zu kümmern und hier bewusst und bestmöglich zu entscheiden. In der Luftfahrt hat sich dieses Vorgehen bis ins kleinste Detail durchgesetzt, um Flugzeugbesatzungen in Notfällen handlungsfähig zu halten. -Das operative Konzept der Routine! So nannte es Kahneman selbst.

Es gibt noch mehr, was Organisationen tun können, um das System 2 ihrer Belegschaft bestmöglich in Stellung zu bringen: Thema Work-Life-Balance! Wir haben gelernt, dass System 2 nicht besonders ausdauernd ist, regelmäßig Pausen und Glukose benötig und ausreichend und am liebsten auch nachts schlafen möchte. Ein besonders produktiver Mitarbeiter ist nicht der, der täglich zehn Stunden am Schreibtisch sitzt. Dieser verzettelt sich nur, weil System 2 wahrscheinlich einen Großteil der Zeit nicht mit am Werk ist. Es gibt inzwischen sogar Studien, die darlegen, dass Mitarbeiter, mit welchen per se eine kürzere tägliche Arbeitszeit vereinbart wurde, nicht nur während der Arbeitszeit effizienter sind, sondern auch insgesamt produktiver. New Work eben! Natürlich gibt es Bereiche, da ist das mit der New Work nicht so leicht umzusetzen. Ich bin ein Kind der Luftfahrtindustrie. Da muss, ähnlich wie in vielen anderen High Risk Environments, nachts gearbeitet werden, oder auch mal 16 Stunden am Stück. Hierbei ist es wichtig, dass durch eine entsprechende Pausenregelung, durch Freizeitmodelle und maximale Dienstzeiten der bestmögliche Ausgleich geschaffen wird. Die Luftfahrt ist hier vor allem durch gesetzliche Vorgaben recht gut aufgestellt. Für Krankenhäuser, Kernkraftwerke, etc. würde ich mir ähnliches wünschen, weil an deren Entscheidungen, ggf. unser aller Leben hängen kann.

Das Team als entscheidender Schutzfaktor

Aber selbst die besten Standards und die beste Pausenregelung können nicht verhindern, dass uns System 2 doch einmal den Dienst versagt. Deshalb arbeite ich als Human Factors oder Crew Ressource Management Trainer. Denn unser bestes Schutzschild ist Backup Behavior! So heißt das, wenn man ein Team in wichtige Entscheidungen mit einbezieht, aktive die Perspektiver der Kollegen einfordert, bzw. seine Perspektive proaktiv mitteilt und Kollegen als Backup betrachtet. Natürlich wünschen wir uns alle diese Warnglocke im Kopf, die uns davor warnt, dass sich System 1 gerade einmal wieder verselbstständigt und anfängt Blödsinn zu machen. Diese Warnglocke gibt es aber nicht. Von der Evolution nicht vorgesehen! Wie oft schreit die laute klare Stimme der Intuition viel viel lauter als das zarte Stimmchen der Vernunft? In diesen Situationen wollten wir die Warnglocke ohnehin nicht hören. Hier ist es wie mit einem Spaziergang in vermieten Gelände: Das Mienenfeld lässt sich eben einfacher erkennen, wenn andere darin spazieren gehen. Unsere Warnglocken sind unsere Kollegen und Teammitglieder, die die Möglichkeit haben, unser System 1 zur Raison zu bringen, da sie uns von außen beobachten können. Eine Perspektive die mit Gold nicht aufzuwiegen ist. Natürlich muss die Organisationskultur ein solches Verhalten fördern, bzw. einfordern, vom Top-Management bis hin zum Praktikanten. Mitglieder solcher Organisationen (Führungskräfte wie Mitarbeiter) sehen die Stärken ihrer Kollegen nicht als Bedrohung, sondern als Kompensierung ihrer eigenen Schwächen. Vor allem aber sind sie sich ihrer eigene Schwächen (und ihrer Systeme 1) bewusst. Deshalb bin ich dankbar, wenn der Kollege sich traut, mein Handeln zu hinterfragen. Wir alle haben diese zwei Systeme im Kopf, aber gemeinsam schaffen wir es, bestmögliche Entscheidungen zu treffen. Also seid milde mit eurer Intuition. Sie ist fleißig, will euch beschützen und immer ihr bestes geben. Sie meint es unglaublich gut mit uns, aber manchmal müssen wir eben auf sie aufpassen. Und das geht im Team viel besser und einfacher als allein.

Zu guter Letzt

Noch ein spannender Fact zum Abschluss: Im Januar 2016 erschienen im Rahmen des Harvard Business Reviews die Ergebnisse einer Studie aus dem Vorjahr, die beschreibt, dass in diesem Jahr Mitarbeiter aller Hierarchieebenen etwa 50 Prozent mehr Arbeitszeit damit verbracht haben, mit anderen im Team zusammen zu arbeiten, als noch im Jahr 1995. Tendenz steigend. Warum, sollte klar sein: unsere Welt und somit auch unser Arbeitsumfeld wird immer komplexer und ein einziges System 2 schafft das nicht mehr alleine. Es benötigt noch ein paar andere Systeme 2, um die verschiedenen Aufgaben zu erledigen, dabei kreativ und innovativ zu sein und natürlich, um auf alle diese hyperaktiven Systeme 1 aufzupassen.

So, mein System 2 möchte nicht mehr mitarbeiten. Es ist müde, ihm reicht es. System 1 schreit gleichzeitig laut nach Schokolade und Sofa. Ich bin echt froh, dass System 2 wenigstens noch fit genug ist, um mit letzter Kraft zu intervenieren. Es gibt Wassermelone und Yoga!

Eure Constance

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System 1 vs. System 2

Weil Schokolade toll ist, Wassermelone manchmal aber klüger