Psychosen - Wenn die Seele die gelb-rote Karte zeigt

Psychosen – Das große Tabu?

Ich habe seit dem Amoklauf in Mannheim überlegt, ob ich mir für diesen Blog nicht lieber ein anderes Thema suchen sollte. Schon vor zwei Wochen, als ich mich mit dem Thema psychisches Trauma bzw. Traumatherapie beschäftigt habe, habe ich mir vorgenommen, im nächsten Artikel mit dem Thema Psychosen daran anzuknüpfen. Ich habe mich entschieden, mich trotz Mannheim mit dem Thema Psychosen zu beschäftigen. Nicht erst, seit ich mich in einer psychotherapeutischen Ausbildung befinde, frage ich mich wieder und wieder, warum psychische Erkrankungen ein gefühltes gesellschaftliches Tabu darstellen. Seit ich mich im Rahmen meiner Weiterbildung quasi professionell mit dem Thema psychischer Erkrankungen beschäftige, ist das Fragezeichen in meinem Kopf nur noch größer geworden. Ich bin erstaunt, wie viele von uns früher oder später an einem psychischen Krankheitsbild leiden und wie wenig darüber gesprochen wird.

Eine handfeste Psychose taucht ausgesprochen selten aus dem Nichts auf. Sie kündigt sich häufig an, und natürlich gibt es Frühwarnsymptome, über die sich in vielen Fällen gegensteuern lässt. Allerdings habe ich das Gefühl, dass diese Symptome einerseits ausgesprochen schambehaftet sind und Betroffene versuchen, die Situation auszusitzen, oder Betroffene wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen oder können. Psychotherapeutische Beratungs- und Behandlungsangebote sind in Deutschland, gemessen am Bedarf, ein rares Gut. Umso wichtiger ist es, dass wir diese Formen der Erkrankungen aus der Schmuddelecke holen und aufhören, Menschen zu stigmatisieren – mit völlig realitätsfernen Bildern von „Verrückten“ im Kopf, die man zeitlebens einsperren muss, weil sie gefährlich sind.

Etwa 3 von 100 Menschen erleben in ihrem Leben mindestens eine psychotische Episode. Diese tritt zum Beispiel im Rahmen von sogenannten affektiven Störungen auf, das heißt bei depressiven oder manischen Episoden oder deren Wechsel, den wir als bipolare Störung bezeichnen. Aber auch im Kontext einer Schizophrenie, an der etwa 1 Prozent der Weltbevölkerung leidet, oder im Zusammenhang mit Traumata und (posttraumatischen) Belastungsstörungen sowie durch den Konsum von Drogen und Alkohol oder im Kontext von Drogen- und Alkoholentzug tauchen psychotische Episoden oder Psychosen auf.

Viele Menschen erleben tatsächlich nur eine einzige psychotische Episode im Leben, während andere chronisch betroffen sind. Risikofaktoren wie genetische Veranlagung, erlittene Traumata und Drogenkonsum können das individuelle Risiko erhöhen.

Aber was ist denn eine Psychose überhaupt?

Man sagt, dass eine Psychose eine schwere psychische Störung ist, die das Denken sowie das Erleben und die Wahrnehmung der Realität beeinträchtigt. Im Kontext von Psychosen treten Wahnvorstellungen – also bizarre und unveränderbare Überzeugungen – und Wahrnehmungsstörungen wie optische oder akustische Halluzinationen (die oft benannten Stimmen oder weißen Mäuse) auf. Auch das Bewusstsein und die Selbstwahrnehmung können sich verändern.

Diese veränderte Selbstwahrnehmung äußert sich zum Beispiel über das Gefühl, dass meine Gedanken nicht mehr mir gehören: Sie werden mir zum Beispiel von außen eingegeben, jeder kann sie hören, oder sie werden aus mir herausgesaugt. Oder darüber, dass ich mich selbst fremd und sonderbar fühle oder sich meine Umwelt unwirklich und fremd anfühlt – insgesamt ein Zustand, der sicher große Angst macht.

Und woher kommt eine Psychose?

In der Literatur findet man die Aussage, dass Psychosen meist eine multifaktorielle Ursache haben. Das heißt, im Prinzip weiß man es nicht so ganz genau und geht von einer Kombination verschiedener Ursachen aus. Eine Ausnahme bilden hierbei organisch verursachte Psychosen, die zum Beispiel durch Infektionen und Entzündungen oder Vitamin- und Nährstoffmangel entstehen. Auch neurologische Erkrankungen wie Epilepsie, Demenz oder Hirnverletzungen können Psychosen auslösen – ebenso wie der Konsum oder Entzug von Drogen oder Alkohol.

Interessant ist, dass offensichtlich auch unsere Genetik eine Rolle beim Entstehen von Psychosen oder psychotischen Erkrankungen spielt. Schizophrenie hat eine deutliche genetische Komponente. Aber lange nicht bei jedem, der diese Disposition hat, bricht die Psychose auch aus.

Das führt uns zu den multifaktoriellen, „weichen“ Bedingungen: Einen deutlichen Einfluss darauf, ob es zu einer Psychose kommt oder eben nicht, hat, ob wir während der Kindheit traumatische Erlebnisse (z. B. Missbrauch, Vernachlässigung, extremer Stress) erfahren haben, aber auch im weiteren Leben (z. B. Krieg und Vertreibung). Zudem gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass Menschen mit Migrationshintergrund ein erhöhtes Risiko haben, eine Psychose zu entwickeln. Und zwar nicht, weil sie Migranten sind, sondern weil sie aufgrund ihres Migrationshintergrundes Diskriminierung und kulturellen Stress erfahren.

Gute Integration kann also vor Psychosen schützen – etwas, bei dem wir uns alle an die eigene Nase fassen können. Wie integrativ sind wir denn? Oder wann und wie neigen wir dazu, andere auszugrenzen? Denn auch soziale Isolation, Einsamkeit, Mobbing und fehlende soziale Unterstützung können psychotische Symptome begünstigen. Menschen, die in einer festen Beziehung leben und sozial eingebunden sind, haben zum Beispiel selbst bei einer so ernsthaften Erkrankung wie Schizophrenie eine deutlich günstigere Prognose als Alleinstehende.

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Am Ende scheint es in den meisten Fällen eine Kombination aus „weichen“ und „harten“ Faktoren zu sein, die das Entstehen einer Psychose fördern oder davor schützen. Habe ich eine genetische Disposition oder trage ich eines oder mehrere schwere Traumata mit mir herum, löst das nicht direkt eine Psychose aus. Kommt jedoch mehr und mehr Stress dazu oder konsumiere ich Drogen (vielleicht um den Stress zu betäuben), erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ich an einer Psychose erkranke. Irgendwann läuft das Fass eben über, und die Seele zeigt die gelb-rote Karte.

Was es braucht – nicht nur mit Blick auf potenzielle psychische Erkrankungen –, ist Integration und ehrliches, wertfreies Interesse aneinander, von dem uns niemand außer wir selbst abhalten kann. “Unterschätze nie die Macht eines Ja!” Dieses Zitat von Jacinda Ardern steht momentan als Wochenmotto auf meinem Schreibtisch. Sie hat recht. Warum häufig zu kritisch, so negativ? Es geht auch positiv, ressourcenorientiert. Warum verurteilen und ausgrenzen, wenn wir auch respektieren und unterstützen können? Integration hört nicht bei physischer Barrierefreiheit oder Regenbogenfahnen auf. Sie muss ebenso selbstverständlich auf der Ebene psychischer Erkrankungen stattfinden.

Ich werde jetzt weiterlernen. Passend zu diesem Artikel stehen Psychosen an diesem Wochenende auf meinem Lernplan. Denn im therapeutischen Kontext ist eine psychotische Erkrankung nicht gleich eine psychotische Erkrankung. Es gibt zum Beispiel eine Form der akuten, körperlich bedingten Psychose – das Delir –, die es unbedingt von anderen Formen zu unterscheiden gilt, weil hier akute Lebensgefahr besteht.

Und während ich so vor mich hin lerne, bin ich wieder und wieder zutiefst fasziniert von uns Menschen, unserem Körper – in Einheit mit unserer Seele. Denn unsere Seele zeigt nicht einfach so die gelb-rote Karte, sondern unterscheidet, ob das Leben in Gefahr ist, und gibt der Psychose in diesem Fall eine leicht andere Form. Ist das Leben in Gefahr, zeigen sich zum Beispiel Halluzinationen häufig eher in optischer Form. Ist das Leben nicht in Gefahr, liefert unser Organismus uns tendenziell eher akustische Halluzinationen. Verrückt, oder?

Habt einen zauberhaften Sonntag, genießt die Sonne und achtet auf euch und eure Liebsten.

Eure Constance

Wenn die Seele die gelb-rote Karte zeigt

Psychosen und psychotische Episoden

Warum wir alle ein bisschen Traumatherapeut*in sein sollten

- Oder das Zauberhafteste, das ich in den letzten beiden Wochen gehört habe!

„Wenn wir unser Gegenüber nicht repräsentativ für ein Problem sehen, das es zu lösen gilt, sondern als eine Erfahrung, die es zu machen gilt, legen wir die Basis.“ So oder so ähnlich hat sich die großartige Dr. Pat Ogden im Rahmen einer Weiterbildung, an der ich kürzlich teilgenommen habe, ausgedrückt. Was für ein Satz! Wie viel positive Energie und wie viel Weisheit. Sind Erfahrungen immer positiv? Nein, natürlich nicht. Aber sie sind immer hilfreich und lassen uns zu dem werden, der oder die wir sind.

Meine aktuelle Weiterbildung ist das „Advanced Master Program of the Treatment of Trauma“ am National Institute for the Clinical Application of Behavioral Medicine in den USA, an dem ich in den letzten beiden Wochen virtuell teilnehmen durfte. Dank der Zeitverschiebung gibt es Vorlesungen zur besten Sendezeit um 19:00 Uhr! Ja, es geht um Traumata, und um zu verstehen, wie man mit dieser von Dr. Ogden beschriebenen Haltung an Traumata arbeiten kann, ist es im ersten Schritt hilfreich, zunächst zu verstehen, was ein Trauma ist.

Trauma – Was ist das überhaupt?

Ein psychisches Trauma ist die Verletzung unserer Seele oder Psyche, die durch ein belastendes Ereignis hervorgerufen wurde. Ein wirklich weites Feld. Ein sehr bekanntes und sich drastisch auswirkendes Trauma ist die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), von der wir alle schon einmal im Kontext von Gewaltverbrechen oder Krieg gehört haben. Man geht davon aus, dass etwa die Hälfte aller Kriegsflüchtlinge an einer PTBS leidet. Bei etwa einem Drittel hat sich diese mutmaßlich chronifiziert und zu einer dauerhaften Persönlichkeitsveränderung geführt – eine Erkrankung, die man früher auch als KZ-Syndrom bezeichnet hat. Heute vielleicht das Afghanistan-, Syrien- oder Ukraine-Syndrom?

Bei einem Trauma führen belastende Erlebnisse dazu, dass das Nervensystem wie bei einer PTBS in völliger Überlastung läuft oder dass man das Erlebte abspaltet, um es aus der aktiven Erinnerung zu streichen. Hierbei kann es sein, dass Betroffene mehrere Persönlichkeiten entwickeln – eine dissoziative Identitätsstörung. Es kann auch vorkommen, dass der Körper nicht mehr wie gewohnt funktioniert, ohne dass es eine greifbare medizinische Diagnose dazu gibt. Diese Störungen können bis hin zu Lähmung oder Blindheit reichen. Es kann zu krampf- oder tranceartigen Anfällen kommen – und so weiter und so fort. Ein Trauma kann eine psychische Erkrankung hervorrufen, die sich massiv körperlich äußern kann – kann, muss aber nicht! Denn Fakt ist: Wir alle erleben im Laufe unseres Lebens viele größere und kleinere Traumata, und unser Organismus entwickelt Schritt für Schritt Strategien, um mit diesen Verletzungen umzugehen. Ganz so, wie euer Körper weiß, wie er sich um den tiefen Schnitt im Finger, den ihr euch beim Zwiebelschneiden zugezogen habt, kümmern muss. Vielleicht bleibt eine kleine Narbe, vielleicht auch nicht. Das ist unsere Resilienz, unsere psychische Abwehrkraft. Bei großen Verletzungen – wie bei einem Oberschenkelhalsbruch, einer massiven inneren Blutung oder einer Wunde, die sich infiziert hat – braucht der Organismus Unterstützung; kleinere Wunden heilt er selbst. Leider lassen sich diese seelischen Verwundungen nicht so gut erkennen wie die rein körperlichen.

Freeze – wenn der Körper einfach dichtmacht

Ein Hinweis auf eine Traumatisierung kann ein Zustand sein, den die moderne Neurowissenschaft als Freeze, also Einfrieren, bezeichnet – einen Zustand, den wir alle wahrscheinlich kennen. In der Schule stehen wir vorne an der Tafel, und alles, was wir einmal wussten, ist weg, und wir sind nicht in der Lage zu sprechen. Ein Blackout, das uns auch im beruflichen Kontext ereilen kann. Oder ihr kommt zu einem schweren Unfall dazu, seht schwer verletzte Menschen und seid nicht handlungsfähig. Der Schock hat euch einfrieren lassen. Oder ihr werdet angegriffen, und anstatt euch zu wehren, könnt ihr noch nicht einmal um Hilfe schreien. Euer gesamter Organismus, eure neuronalen Netzwerke, sind völlig überrollt und stellen erstmal jede Aktivität, jede Reaktionsfähigkeit ein.

Evolutionshistorisch machte das alles einmal Sinn. Die primäre Freeze-Reaktion diente dazu, sich vor der Flucht oder dem Kampf kurz zu orientieren – das kann man recht gut bei Rehen beobachten, die, sobald sie die Scheinwerfer erblicken, mitten auf der Straße stehen bleiben und erstmal ins Licht schauen. Im Idealfall sind wir nach dieser kurzen Lähmung, die – wie gesagt – zur Orientierung dient, wieder handlungsfähig und gehen entweder in eine Kampf- oder Fluchtreaktion. Erscheint unserem Organismus die subjektiv empfundene Gefahr so überwältigend, dass weder Kampf noch Flucht eine Option ist, entscheidet unser Organismus, es mit Einfrieren zu versuchen. Vielleicht fallen wir dann weniger auf, und der Jäger lässt von uns ab.

Schon die Erinnerung an ein erlittenes und noch nicht komplett verarbeitetes Trauma kann eine solche Reaktion hervorrufen – insbesondere auch in einem therapeutischen Setting. Aus diesem Grund sind Freeze-Reaktionen während einer Therapie nichts Außergewöhnliches. Die Herausforderung für Therapeutinnen: In diesem Zustand ist ein Mensch nur eingeschränkt kognitiv erreichbar und interaktionsfähig. Ein direktes therapeutisches Arbeiten ist also nicht möglich. Frustrierend für den/die Therapeutin?

Wie kommt man wieder raus aus dem Freeze?

An dieser Stelle setzte die bereits genannte Dr. Pat Ogden in einer Session zum Umgang mit Freeze im therapeutischen Kontext an. Denn die Basis dafür, Menschen Schritt für Schritt aus diesem Zustand der inneren und äußeren Lähmung herauszubegleiten, ist der Aufbau einer positiv belegten Beziehung. Klar könnte man meinen, ein erstarrter Klient stelle für den Therapeuten ein Problem dar. Begegne ich einem Klienten mit dieser Haltung, wird er das selbst im Zustand der Erstarrung intuitiv spüren und sich noch weiter in sich zurückziehen. Begegnen wir den Menschen offen, neugierig und positiv, wird er dies ebenfalls spüren, sich im besten Fall ein klein wenig sicherer fühlen und sich vielleicht Schritt für Schritt aus dem Schutzbunker seiner Seele herauswagen. In der systemischen Arbeit – egal ob Coaching oder Therapie – nennen wir das Pacing oder Begleiten. Dr. Ogden bezeichnet es als „Right-To-Right-Brain-Communication“, also die oft unbewusste Kommunikation zwischen unseren rechten Hirnhälften, die die Basis für zwischenmenschliche Beziehungen darstellt. Diese Art der Kommunikation beginnt mit meiner Einstellung, meiner Haltung gegenüber der Welt, meinen Mitmenschen und mir selbst.

Im Verlauf der Vorlesung wurde auch darauf eingegangen, wie wichtig es nicht nur für Therapeut*innen ist, mit der rechten Hirnhälfte auf Menschen zu reagieren, die starr vor Verunsicherung oder Angst sind. Traumata haben viele Gesichter, und jeder von uns trägt unzählige größere oder kleinere Narben – manchmal auch offene seelische Wunden, die für andere unsichtbar bleiben. Warum also nicht achtsam und neugierig reagieren, wenn Menschen sich anders verhalten, als wir es erwarten oder wünschen? In jedem von uns steckt ein kleiner psychologischer Ersthelfer. Alles, was es braucht, ist anstelle von Druck und Ungeduld, mit Neugier und Offenheit auf andere zuzugehen. Egal, ob als Lehrer, Pflegekraft, Mediziner, als Führungskraft, Kolleg*innen oder Nachbar*innen – lasst uns als Menschen offen, empathisch und neugierig begegnen. Das Problem ist aus meiner Sicht nicht die Anwesenheit von Wut, Frust oder Hilflosigkeit, sondern die Abwesenheit von Neugier und Liebe.

„Wenn wir unser Gegenüber nicht repräsentativ für ein Problem sehen, das es zu lösen gilt, sondern als eine Erfahrung, die es zu machen gilt, legen wir die Basis.“

Heute ist Wahltag in Deutschland. So viel wurde im Vorfeld über diese Wahl geschrieben, so viel wurde diskutiert. Das Leben um uns herum scheint in diesen Tagen einigermaßen turbulent zu sein. Ich erlebe viel Angst, Verunsicherung, alte Traumata, die aufgerissen werden, und neue, die hinzukommen. Ich spüre sogar mein eigenes transgenerationales Trauma (ja, auch das gibt es!).

Mein Wunsch wäre, dass sich sowohl wir als Gesellschaft als auch unsere (demokratischen) Politiker*innen mit Neugier der jeweils anderen Position und mit Offenheit für andere Argumentationen begegnen und so gemeinsam einen Weg finden, der uns wieder enger und verständnisvoller zusammenbringt.

In diesem Sinne: Geht wählen! Der Spruch ist alt und abgedroschen, aber vielleicht noch nie so aktuell wie heute: Wer in einer Demokratie schläft, droht in einer Diktatur wieder aufzuwachen.

Eure Constance

PS:

Im Kontext von Freeze-Reaktionen gab es auch etwas, das nach Ansicht aller Dozent*innen unbedingt zu unterlassen ist: Anfassen! Oft haben wir recht schnell das Gefühl, andere berühren zu wollen, um sie zu beruhigen. Ohne die eindeutige Erlaubnis der Betroffenen ist das immer eine denkbar schlechte Idee. Insbesondere im medizinischen Kontext haben Ogden & Co. von vielen beispielhaften Situationen berichtet, in denen Menschen gegen ihren Willen berührt wurden (mit bester und freundlichster Absicht). Aufgrund ihrer Erstarrung konnten sich die Betroffenen nicht äußern und wehren und haben diese Situation als weitere Ohnmachtssituation gespeichert. „Right-Brain-To-Right-Brain-Communication“ braucht keine körperlichen Berührungen!

Nicht jede Narbe, nicht jede Wunde ist sichtbar

Trauma: Wenn die Seele nicht mehr weiter weiß.

Präzisierende Sprachmuster: Das Meta-Modell und die Kunst Menschen in Bewegung zu halten

Integration und Präzision: Zwei Seiten einer Medaille

In meinem letzten Artikel habe ich euch das sogenannte Milton-Modell oder die integrativen Kommunikationsmuster vorgestellt. Diese helfen dabei, Menschen in Bewegung zu bringen, indem man sie dort abholt, wo sie sich gerade befinden. Beim Milton-Modell geht es darum, Sprache möglichst weich zu zeichnen, damit das Gesagte für möglichst viele Menschen anschlussfähig ist.

Als Coach nutze ich das Milton-Modell, um Vertrauen aufzubauen und um meine Coachees zu „pacen“, das heißt, um eine positive, vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Diese Beziehung ist die Basis, um schließlich gemeinsam arbeiten zu können. Ähnlich können auch Führungskräfte das Milton-Modell nutzen: um Vertrauen und Anschlussfähigkeit aufzubauen.

In meiner Rolle als Coach muss ich, um eine Entwicklung voranzutreiben – ähnlich wie eine Führungskraft – jedoch irgendwann proaktiver gestalten. Im Coaching nennt sich das tatsächlich „Leading“, also die Führung übernehmen, nicht inhaltlich, aber den Prozess betreffend. Ein Coach, der sich ausschließlich auf Pacing fokussiert, ist wenig wirksam – ähnlich wie eine Führungskraft, die ausschließlich weichzeichnet, um das Vertrauen zu fördern. Eine der Methoden, die ich als Coach gerne nutze, um in Führung zu gehen, eignet sich auch ganz wunderbar für Führungskräfte und all jene, die es einmal werden wollen, um das zu schaffen, was jeder Mensch sucht: Klarheit.

Das Meta-Modell der Sprache

Das Meta-Modell wurde als eines der Kernmodelle im Neurolinguistischen Programmieren (NLP) bereits in den 1970er-Jahren von den Herren Bandler und Grinder entwickelt. Es ist eine Art Werkzeug, das hilft, unklare oder verzerrte Sprachmuster zu erkennen und zu präzisieren, um eine tiefere und genauere Kommunikation zu ermöglichen. Ziel des Meta-Modells ist es, ungenaue und vage Sprache zu hinterfragen und so unbewusste Denkmuster sichtbar zu machen und einschränkende Glaubenssätze zu erkennen.

Im Rahmen des Modells gibt es drei Hauptprozesse: Tilgung, Generalisierung und Verzerrung. Wir alle nutzen diese drei kleinen Teufelchen der Kommunikation permanent – manchmal bewusst, meistens jedoch unbewusst. An sich ist das auch völlig fein, würde es im menschlichen Miteinander dadurch nicht immer wieder zu Missverständnissen kommen, die nicht selten in Konflikte münden. Mithilfe präzisierender Fragen deckt das Meta-Modell diese Ungenauigkeiten in der Sprache auf. Wie genau das funktioniert, möchte ich euch mithilfe einiger Beispiele aufzeigen.

Lasst uns mit der Tilgung beginnen. Hier ein paar handelsübliche Tilgungen, wie wir sie alle nutzen, und die dazugehörigen Fragen, um diese Tilgungen aufzudecken:

  • „Ich bin verwirrt!“ – Worüber?

  • „Die Leute fühlen sich unter Druck gesetzt!“ – Wer genau ist mit „die Leute“ gemeint?

  • „Ich bin bei diesem Projekt gescheitert.“ – Worin genau bist du im Rahmen des Projekts gescheitert?

Natürlich habe ich auch einige Verzerrungen und Möglichkeiten, diese aufzudecken, dabei:

  • „Er macht mich wütend!“ – Wie / in welcher Weise macht er dich wütend?

  • „Ich habe kein Studium. Hier werde ich nie befördert!“ – Wieso bedeutet ein fehlendes Studium, dass du nicht befördert wirst?

  • „Die anderen fühlen sich nicht wertgeschätzt!“ – Woher weißt du das?

Und last but not least ein paar Verallgemeinerungen:

  • „Alle sagen, dass früher alles besser war!“ – Gibt es jemanden, der das nicht sagt?

  • „Dieses Projekt wird niemals fertig!“ – Woher weißt du das?

  • „Ich sollte alle Mails täglich beantworten!“ – Was passiert, wenn du das nicht tust?

Insbesondere für mich als Coach ist es interessant, dass wir diese Tilgungen, Verzerrungen und Verallgemeinerungen nicht nur in der Kommunikation mit anderen nutzen, sondern auch in unserem inneren Dialog – also in der Kommunikation mit uns selbst. Zum Teil mit gravierenden Auswirkungen. Nicht nur, dass wir uns manchmal selbst nicht richtig verstehen. Hinzu kommt, dass niemand so wundervoll Druck auf uns ausüben kann wie wir selbst.

  • „Ich müsste mich auf der Arbeit noch mehr in meinem Team engagieren!“

  • „Ich muss meinen Haushalt besser in den Griff bekommen!“

  • „Ich sollte unbedingt wieder mehr Sport machen!“

Hört euch gerne selbst einmal genauer zu und fragt euch dann – ganz im Stil des Meta-Modells –, wer das sagt und was passiert, wenn ihr das nicht tut. So könnt ihr auch ganz ohne Coach-Begleitung Denkmuster, Glaubenssätze und innere Blockaden selbst aufdecken. Vielleicht wird es euch an der ein oder anderen Stelle ziemlich verblüffen, wie sich eure Gefühlslage verändert, während ihr euch zu des Pudels Kern vorarbeitet.

Das Meta-Modell der Sprache in der Business-Welt

Neben der Anwendung im Coaching, in der Therapie und in der Beratung ist das Meta-Modell auch im beruflichen Kontext ein echtes Geschenk. Im Rahmen von Verhandlungen hilft es, präziser zu verstehen und punktgenau zu hinterfragen. Mit Blick auf Führung und Teamwork schafft das Meta-Modell Klarheit – in Bezug auf Ziele, Erwartungen und das gemeinsame Verständnis einer ggf. komplexen Situation. Insbesondere während Veränderungsprozessen unterstützt das Meta-Modell Führungskräfte dabei, ihre Teams in Bewegung zu halten – und vor allem in eine gemeinsame Richtung zu bringen. Und mit Blick auf potenzielle Konflikte ist das Meta-Modell ein Geschenk um Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.

Allerdings ist die Voraussetzung dafür, das Meta-Modell erfolgreich zu nutzen, dass es euch im Vorfeld gelungen ist, eine positiv belegte, vertrauensvolle Beziehung zu etablieren. Probiert die präzisierenden Meta-Fragen gerne mal bei Menschen aus, mit denen ihr keine positive und vertrauensvolle Beziehung pflegt – hier werden diese Fragen wie pures TNT auf euer Miteinander wirken. Also immer beide Seiten der Medaille nutzen und wohl orchestriert den Wechsel zwischen Pacing und Leading zelebrieren!

Vor eineinhalb Jahren hatte ich das große Glück und die große Ehre, einige Tage lang vom großen Richard Bandler selbst zu lernen. Er war damals schon deutlich über 70 Jahre alt und hat sich für ein Seminar auf den weiten Weg von Florida nach Mainz gemacht. Es war faszinierend zu sehen, wie er immer wieder zwischen Pacing und Leading wechselte und welche Effekte das in den unterschiedlichen Demonstrationen auf seine jeweiligen Coachees hatte. Die Macht der Sprache und die Kraft der Kommunikation faszinieren mich von jeher. Richard Bandler dabei zu erleben, wie er mit Sprache spielt und sie unglaublich zielgerichtet einsetzt, um Menschen auf deren Weg zu bringen, hat mich tief beeindruckt.

Vielleicht habt ihr ja auch Lust bekommen, bewusst ein wenig mit der Sprache zu spielen – zu präzisieren, weichzuzeichnen, um zu integrieren, und danach wieder in die Präzision zu gehen. Ihr werdet erstaunt sein, welche Türen bewusst genutzte Sprache zu öffnen in der Lage ist.

Habt einen schönen, entspannten Sonntag! Ich hoffe für euch, die Sonne strahlt heute ähnlich hell wie für mich. Ich finde, es riecht langsam nach Frühling…

Eure Constance

Bandler & ich

… und die Macht von Pacing & Leading