Warum Leadership Followership braucht - Ein Beispiel aus dem Flugzeug

Ein Coach auf Abenteuerreise

Heute schreibe ich Euch aus dem schönen Prag, wo ich an diesem Wochenende angehende Flugbegleiter im Human Factors Bereich schulen darf. Ich liebe diese kleinen Ausflüge in meine alte Welt und finde, es ist an der Zeit auch Euch im Rahmen meines Blogs mal wieder in die Flugzeugwelt zu entführen.

Wenn selbst Götter machtlos sind

Als Coach und Berater habe ich momentan einen starken Fokus auf die Begleitung und Entwicklung von Führungskräften. Überhaupt scheint das Thema Leadership ein absolutes Fokusthema der schönen neuen Welt der New Work zu sein. Fakt ist jedoch, dass selbst Götter machtlos sind, wenn niemand an sie glaubt. Was aus meiner Sicht in der Welt außerhalb der High Risk Bereiche sträflich vernachlässigt wird, ist das Thema Followership. Dabei gibt es keinen guten Leadership ohne guten Followership und ebenso, wie man Menschen für das Thema Leadership sensibilisieren sollte, sollte man Menschen auch für das Thema Followership sensibilisieren. Die Luftfahrt ist an dieser Stelle deutlich weiter. -Sicher auch, weil Misserfolge in der Luftfahrt für gewöhnlich ziemlich absolut sind und nicht vertuscht oder schöngeredet werden können. Verunglückt ein Flugzeug ist das ein glasklarer Fakt, den kein Controlling der Welt mehr “schönrechnen” kann. Und bereits seit Ende der siebziger Jahre ist klar, dass der Mensch und das Team eine nicht zu unterschätzende Schlüsselrolle einnehmen, wenn es darum geht, die Dynamik und Komplexität, die es mit sich bringt, wenn man in ziemlich schweren Blechdosen ziemlich schnell um die Erde düst, zu managen. Somit blickt die Luftfahrt auf viele Jahre Erfahrung im Bereich des Human Factors Training zurück und versteht es nicht nur Leadership, sondern auch Followership zu schulen.

Die eigenen Wurzeln stets vor Augen

Wann immer ich eine Gruppe junger, angehender Flugbegleiter vor mir habe, muss ich daran denken, wie es war, als ich damals im 134. Flugbegleiterlehrgang der Condor saß. Es war aufregend, interessant, sehr anstrengend und manchmal sogar schockierend. In der Retrospektive muss ich allerdings sagen, dass es aber auch kein Hexenwerk war. Das Handwerk ist schnell gelernt, die Routine kehrt schnell ein. Man hat viele Check-Listen, die einem Sicherheit geben. Ja, es ist körperlich zuweilen sehr anstrengend und wenn Menschen mit einem geregelten Tagesablauf sagen, sie sind nach der Arbeit müde, ist das definitiv eine andere Form von müde, als die absolute körperliche Ausgelaugtheit nach einem anstrengenden Nachtflug in Kombination mit Jetlag. Aber auch das ist im Rahmen des Machbaren, sonst wäre ich sicher selbst nicht so viele Jahre geflogen. Es gibt jedoch einen Aspekt, der mir damals, mit Anfang zwanzig nicht bewusst war, der mir jedoch in den darauffolgenden Jahren immer deutlicher und klarer wurde: Um ein gutes Crewmitglied zu sein, bedeutet es zum einen, sich in die Hierarchie einzufügen, gleichzeitig aber auch ein unglaubliches Maß an Eigenverantwortung zu übernehmen. Denn jedes einzelne Crewmitglied übernimmt ganz persönlich Verantwortung für das größte Gut unserer Welt: Für Menschenleben! -Für die Leben der Menschen an Bord. Sich dieser großen Verantwortung bewusst zu sein und ihr im täglichen Tun gerecht zu werden, ist die eigentliche Herausforderung für diese zauberhaften jungen Menschen, mit denen ich heute den ganzen Tag im Lehrsaal und auf der Flugzeugattrappe verbringen durfte.

Als Trainer ist es gar nicht so einfach, diese doch recht abstrakte Verantwortung greifbar zu machen. Hierfür arbeite ich gerne mit konkreten Beispielen. An diesem Wochenende habe ich mich für eine junge, kanadische Flugbegleiterin entschieden, die vor vielen Jahren als einziges Crewmitglied den Absturz einer Maschine der Air Ontario überlebt hat.

Zurück in die Vergangenheit

Wir schreiben den 10. März 1989. Sonia Hartwick arbeitet seit zwei Jahren als Flugbegleiterin bei Air Ontario. Eine attraktive Frau, vielleicht Mitte zwanzig, mit blondem Haar, blauen Augen und einem strahlenden Lächeln. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Katherine Say, Kapitän John Morwood und dem Ersten Offizier Keith Mills soll das der letzte Tag eines mehrtägigen Einsatzes sein. Kapitän Morwood freut sich darauf, am nächsten Tag seinen Urlaub mit der Familie anzutreten und alle anderen freuen sich sicher auf zuhause. An diesem Tag soll es mit einer Fokker F28 von Thunder Bay nach Winnipeg mit einem kurzen Zwischenstopp in Dryden gehen. Eigentlich nichts Großes. In Dryden angekommen ist das Flugzeug bereits verspätet und die Verspätung scheint weiter anzuwachsen. - Ein Umstand, der für eine Besatzung immer eine gehörige Extraportion Stress bedeutet. Dem Flugplan hinterherzujagen ist keine Freude. Ein zusätzlicher Stressfaktor für die Piloten ist, dass man entschieden hat, die Maschine mit einer defekten Auxiliary Power Unit (APU), einer Art Hilfstriebwerk, das zum einen die initiale Energie liefert, die man braucht um die Triebwerke zu starten, zum anderen aber auch den Strom am Boden liefert, fliegen zu lassen. Eigentlich ist eine defekte APU kein Beinbruch und ich bin selbst schon oft mit einem solchen Defekt unterwegs gewesen. An Flughäfen gibt es Bodenstromaggregate, die die APU ersetzen. Also alles gut. Allerdings ist der Flughafen von Dryden so klein, dass er an diesem Tag keine Bodenstromaggregate zur Verfügung stellen kann. Um überhaupt wieder starten zu können, müssen die Piloten eines der beiden Triebwerke während der gesamten Bodenzeit laufen lassen. Sie müssen betanken und Boarden während das Triebwerk läuft. Heute wäre ein solches Vorgehen verboten, damals war es akzeptabel. Für die Piloten, besonders für den Kapitän, bedeutet das an diesem Tag eine große Menge Extrastress.

In der Kabine geben Sonia und Katherine ihr Möglichstes, um diesen Stress vor den Gästen zu verbergen und den Unmut der Gäste hinsichtlich der Verspätung zu kompensieren. Während der Flieger in Dryden abgefertigt wird, schlägt das Wetter plötzlich um und es beginnt zu schneien. Der Stress wird größer, denn die Verspätung droht weiter anzuwachsen. Ich weiß gar nicht, ob Sonia Familie hat, auf die sie sich freut, Kinder, die auf sie warten, aber ich weiß, wie sehr man sich an solchen Tagen einen pünktlichen Feierabend wünscht.

Sicher möchte auch Kapitän Morwood nachhause und entscheidet, sich zu beeilen, die Türen zu schließen, und in Richtung Startbahn zu rollen. Was Kapitän Morwood übersieht, ist, dass die veränderte Wettersituation dazu geführt hat, dass sich Eis auf beiden Tragflächen gebildet hat. Fahrlässig, könnte man meinen. Aber wer von Euch hat nicht schon einmal im Stress etwas übersehen? Vielleicht passt auch Kapitän Morwoods mentales Modell nicht dazu, dass es Eis geben würde. Er weiß, dass es für ihn in Dryden keine Möglichkeit gibt, zu enteisen. Zum Enteisen ist nämlich ein Ausschalten beider Triebwerke notwendig, die er auf Grund der defekten APU und des fehlenden Bodenstromaggregates nicht wieder hätte starten können. Es wären also alle erst einmal in Dryden geblieben, bis ein entsprechendes Aggregat eingeflogen worden wäre. Dem alten Motto folgend “Es kann nicht sein was nicht sein darf!” spielt ihm an diesem Tag vielleicht sogar seine Wahrnehmung einen Streich. Ein sehr bekanntes Phänomen.

Allerdings gibt es andere, deren Wahrnehmung funktioniert und die das Eis sehen. Ein Gast spricht Katherine wegen des Eises an. Diese beruhigt den Gast, weil sie annimmt, dass die Tragflächen sich selbst enteisen. -Sehr dünnes Eis des gefährlichen Halbwissens! Es sind lediglich die Spitzen der Tragflächen, die beheizt werden und somit auch enteist werden können. Da hat sie wohl etwas verwechselt!

Sonia weiß es besser und ist sehr besorgt wegen des Eises, entscheidet sich aber, den Kapitän nicht anzusprechen.

So nehmen die Dinge ihren Lauf. Kapitän Morwood leitet im festen Vertrauen darauf, dass alles OK ist und sicher auch mit einer Menge Zeitdruck den Start ein. Zunächst hebt die Maschine ab, verliert dann aber wieder an Höhe und stürzt in den angrenzenden Wald. An diesem Tag verlieren 24 Menschen ihr Leben. -Darunter Sonias Kollegin, ihr Kapitän und ihr Erster Offizier, mit denen sie sicher kurze Zeit davon noch gemeinsam gegessen und gelacht hat. Meine Crew war immer viel mehr als nur das Team, mit dem ich arbeite. Man ist sich nah, vertraut sich und ist aufeinander angewiesen. Heute habe ich Kollegen, die ich sehr mag und schätze. In Uniform hatte ich eine Familie, die mich ganz so wie eine echte Familie manchmal ziemlich genervt hat, die mir aber immer ausgesprochen nah war. Sie zu verlieren? -Ich möchte mir nicht vorstellen, an Sonias Stelle zu sein…

Und was bleibt ist die Frage nach dem “Warum”

Im Nachhinein wurde Sonia gefragt, warum sie nichts gesagt habe. Ihre Erklärung ist ebenso nachvollziehbar, wie traurig. Sonia beschreibt, dass sie Angst davor hatte, es könnte sich rumsprechen, dass sie den Piloten in ihre Arbeit reinrede, den Kapitän kritisiere. Immerhin sei sie doch eigentlich diejenige, die für Tee und Kaffee verantwortlich sei. Sonia hatte Angst, dass sie daraufhin im Kreise der Kollegen weniger beliebt oder angesehen sein könnte, vielleicht sogar schlechtere Flugpläne bekäme.

Ich habe mich mehr als einmal gefragt, ob Sonia den Gedanken hatte, dass ihre Kollegen und all die anderen Menschen noch leben würden, wenn sie mutiger gewesen wäre, wenn sie die Verantwortung übernommen hätte, den Kapitän angesprochen hätte. Was sind schon Flugpläne? Sonia war mehr als einmal in meinen Gedanken präsent, wenn ich in meiner schicken blauen Uniform durchs Flugzeug gelaufen bin. Sie hält mir bis heute vor Augen, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, eine gutes Teammitglied, ein guter Follower zu sein. -Auch weil ich ihre Ängste als junge Frau so gut verstehen kann. Auch ich wollte besonders in meinen ersten Jahren auf Reisen vor allem eines: dazugehören! Vielleicht habt Ihr ja auch schon einmal geschwiegen, geschwiegen aus Angst zum Außenseiter zu werden, nicht mehr gemocht zu werden. Menschlich nachvollziehbar. Aber ist es auch verantwortungsvoll?

Natürlich braucht es eine Kultur, die es uns ermöglicht, Verantwortung zu übernehmen. Es braucht Führung auf allen Ebenen, die Rahmenbedingung schafft, die es ermöglichen, den Mund aufzumachen, zu sprechen, kritisch sein zu dürfen. Daran arbeite ich mit Führungskräften in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Denn ebenso wie Kapitän Morwood an diesem Tag sein Team gebraucht hätte um eine bessere Entscheidung zu treffen, sind alle Führungskräfte, die in einem dynamischen und komplexen Umfeld agieren, auf ihr Team angewiesen, um gute Entscheidungen zu treffen. Damit Menschen jedoch diesen Raum, der ihnen geboten wird, annehmen, muss ich auch mit den Teams arbeiten dürfen, so wie ich heute und morgen mit den jungen Flugbegleitern arbeiten darf. Es wird immer mehr Gründe geben, besser zu schweigen. Aber wir befinden uns nun mal in einer Welt, die zunehmend Eigenverantwortung auf allen Ebenen einfordert und es ist nur fair, wenn wir Menschen auf diese Verantwortung vorbereiten, sie sensibilisieren und ein Stück weit an die Hand nehmen.

Die Gedanken an Sonia nehme ich morgen sicher wieder mit in meinen Lehrsaal und ich hoffe, dass auch meine Teilnehmer noch ein wenig über Sonia nachgedacht haben. Denn ich bin nicht in der Lage ihnen Verantwortung beizubringen. Ich liefere lediglich das Gedankenfutter, das es braucht, um sich selbst kritisch zu hinterfragen und so zu wachsen.

Genieß Euren Sonntag!

Eure Constance

Geschichten aus der Flugzeug-Mottenkiste

Über Verantwortung und Followership