Kalter Krieg

Wie Stanislaw Petrow einfach so einen Atomkrieg verhinderte...

Wie? Ihr kennt Stanislaw Petrow nicht? Und das obwohl er anno 1983 quasi im Alleingang einen Atomkrieg verhinderte! Ihr solltet Euch unbedingt fünf Minuten nehmen und mit mir auf Zeitreise gehen. Denn von diesem heimlichen Helden der Geschichte können wir so einiges lernen!

Warum Dynamik und Komplexität nur zu managen sind, wenn alle Akteure Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen

Während wir Coaches, Change Agents und HRler nicht müde werden, zu predigen, dass unsere immer dynamischer und komplexer werdende Welt vor allem eines braucht; Menschen die eigenverantwortlich handeln, Entscheidungen treffen und so unsere (Arbeits-) Welt proaktiv mitgestalten, stellt sich mir manches Mal die Frage, wie lange es wohl dauert, bis wir Menschen so weit sind, dies dann auch vollumfänglich zu tun. Ich träume von lernenden Organisationen, von einer Kultur der psychologischen Sicherheit und an manchen Tagen komme ich mir vor, wie der gute alte Sisyphos: Zwei Schritte vor und drei zurück… Dabei gibt es sie und es gab sie schon immer, diese Menschen, die unauffällig vor sich hinarbeiten und just in diesem Moment, in dem sie wirklich gebraucht werden, reißen sie sich das weiße Shirt oder die weiße Bluse vom Leib und sind für eine kurze Zeit Wonder Women oder Superman, ehe sie sich wieder in die Unauffälligkeit zurückziehen.

Einen solchen Superman möchte ich Euch heute vorstellen. Denn wer glaubt, die Welt hätte während der Kubakrise an der Grenze zum Atomkrieg gestanden, der hat keine Ahnung, was in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1983 passiert ist.

Lasst uns gemeinsam auf Zeitreise gehen

Spätsommer 1983: Ich wünschte, ich könnte wirklich von damals erzählen, aber ich war noch im Kindergarten und meine Erinnerung ist halbwegs verschwommen. Mein kleiner Bruder war noch nicht geboren und es war noch vor Tschernobyl. Deshalb bin ich mir sicher, dass ich zu dieser Zeit häufig mit meinem Papa im Wald war, um Steinpilze zu sammeln. Nach Tschernobyl war das ja erstmal nicht mehr möglich. Neben Pilze suchen und Drachen steigen lassen habe ich den Kindergarten wirklich geliebt. Tante Eva war toll! Nach dem Kindergarten war ich oft mit meiner Oma im Garten. In regelmäßigen Abständen donnerten US-Kampfflieger über uns, die so laut waren, dass sie mir jedes Mal Angst machten. Meine Oma beruhigte mich immer und erklärte mir, dass die Amerikaner uns vor den Russen beschützten und wir dankbar sein müssen, dass sie hier sind. Oma war Kriegsflüchtling und hatte leider offensichtlich mehr als nur eine Idee davon, zu was die russische Armee im Zweiten Weltkrieg fähig war. Kindheit im Kalten Krieg! Ich denke dieser Tage immer wieder an meine Oma und an ihre große Angst. -Und daran, was es bedeutet, Flüchtling zu sein.

Vielleicht war ich auch am 25. September mit Oma im Garten oder mit Papa Pilze sammeln. Vielleicht donnerten auch an diesem Tag Kampfflieger über uns und ich zuckte in dem Moment, in dem sie knallend die Schallmauer durchbrachen, zusammen. Ich weiß es nicht. Allerdings weiß ich, dass ich auch an diesem Abend zu Bett ging, mein Kindergebet sprach, in dem ich darum bat, auch am nächsten Morgen wieder vom Herrn Jesus geweckt zu werden und schließlich einschlief. -Wie jeden Abend. Wie groß das Wunder war, dass meine Welt am 26. September noch immer die gleiche war, das wussten weder meine Oma, meine Mama, mein allwissender Papa noch ich selbst. Während wir alle friedlich schliefen, zog sich im Raketenabwehrzentrum in Moskau der diensthabende Offizier Stanislaw Petrow für einen kurzen Moment das Superman-Shirt über und rettete klammheimlich die Welt.

Was war passiert? Um 00:15 Ortszeit meldete ein Alarm den Start einer US-Amerikanischen Interkontinentalrakete. Dem diensthabenden Offizier blieb nur ein geringes Zeitfenster zur Beurteilung der Lage. Petrow bewahrte die Nerven und kam zur Entscheidung, dass es sich um einen Fehlalarm in Folge eines Computerfehlers handelte. Noch während er am Telefon war, um diese Einschätzung weiterzugeben, meldete das System den Start einer zweiten, dritten, vierten und fünften Rakete…

Gemäß der damals geltenden Logik des Kalten Krieges “Wer als erstes schießt, stirbt als zweites!” hatte die Sowjetunion etwa 30 Minuten Zeit, den alles vernichtenden Gegenschlag zu initiieren. Doch Petrow behielt erneut die Nerven und kam erneut zu der Entscheidung, dass es sich um einen Computerfehler handeln müsse. Eine endlose halbe Stunde später wusste schließlich auch Petrow, dass er mit seiner Einschätzung richtig lag. Die vernichtende Detonation blieb aus.

Es war in der Tat ein Fehlalarm, hervorgerufen durch eine außergewöhnliche Konstellation von Satellitensystemen und der Sonne direkt über einer Militärbasis in den USA, die von den sowjetischen Abwehrsystemen als Raketenstarts interpretiert wurde.

Nicht auszudenken, wäre Petrow zu einer anderen Einschätzung gekommen, die aus sowjetischer Perspektive durchaus naheliegend gewesen wäre. Nur drei Wochen zuvor wurde ein südkoreanisches Passagierflugzeug über der russischen Insel Sachalin abgeschossen. Eine Vergeltungsmaßnahme? Zusätzlich sollten in naher Zukunft US-Mittelstreckenraketen in Europa stationiert werden. Der Kalte Krieg war eiskalt. Aber Petrow behielt die Nerven, übernahm Verantwortung und hat die Welt gerettet, als die hochpotente Technik versagte.

Danach zog Petrow das Helden-Shirt wieder aus und wurde unsichtbar. Er beendete seinen Armeedienst und verbrachte seinen Ruhestand in bescheidenen Verhältnissen in seiner Plattenbauwohnung in der russischen Stadt Frjasino, wo er 2017 im Alter von 77 Jahren verstarb. Kein Friedensnobelpreis! Bestenfalls eine Randnotiz der neueren Geschichte. Anlässlich einer Veranstaltung in Baden-Baden im Jahr 2012 wurde er gefragt, ob er ein Held sei. Petrow verneinte das. Er habe einfach nur seinen Job richtig gemacht. Als der Moderator nachhakte und anmerkte, dass Petrow immerhin die Welt vor einem dritten Weltkrieg bewahrt habe, entgegnete Petrow, dass das doch nichts Besonderes gewesen sei.

Danke Stanislaw Petrow, dass Sie ihren Job einfach nur richtig gemacht haben. Sie haben mir meine Kindheit, Jugend und vielleicht sogar mein Leben gerettet. Ich schreibe diesen Blog, weil Sie den Mut hatten, zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen. Nein, das ist vielleicht nichts Besonderes, aber es ist groß!

Der Mensch als Schlüssel zu Erfolg unserer Systeme

Unabhängig davon, dass Stanislaw Petrow (ich hoffe, ich erwähne diesen Namen so oft, dass er im Kopf bleibt) gefühlt mein Leben ermöglicht hat, damals in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1983, bedeutet er auch für mich als Coach und Human Factors Trainer unendlich viel. Für mich ist er der Beweis für alles, was ich tue. Ich glaube daran, dass unsere Zukunft nicht nur trotz, sondern vor allem auch wegen der um sich greifenden Technisierung menschlich ist. Technik kann mit der Dynamik und Komplexität, mit der Unberechenbarkeit unserer Zeit nicht annähernd so kompetent umgehen, wie der Mensch. Selbst mit dem Wissen, dass Menschen Fehler machen und immer machen werden, weiß ich, dass der Mensch alleine der Schlüssel zu Erfolg unserer Systeme ist. Dazu muss er jedoch eigenverantwortlich agieren, Entscheidungen treffen und proaktiv die Dinge in die Hand nehmen. -Seinen Job richtig machen, wie es Petrow ausdrückte. Dass der Mensch selbst unter extremsten Bedingungen dazu in der Lage ist, dass er auch unter größtem Stress kognitiv und analytisch vorgehen kann, hat Stanislaw Petrow vorbildlich, still, leise und bescheiden bewiesen. Was die Welt braucht, um mehr Stanislaw Petrows hervorzubringen? Organisationen und Gesellschaften, die Menschen Raum und Sicherheit geben; Raum sich zu entfalten und die (psychologische) Sicherheit, die es braucht, um angstfrei Verantwortung zu übernehmen. Denn nur so können wir alle unseren Job richtig machen.

Zurück in die Zukunft

Und so klettere ich auch in dieser Woche wieder in meinen DeLorean und reise zurück in die Zukunft, um festzustellen, dass 1983 gefühlt sehr präsent ist. Kalter-Heißer Krieg reloaded? Alleine schon deshalb braucht es unendlich viele Stanislaw Petrows. Es gibt also eine Menge zu tun für Coaches wie mich.

Genießt das Wochenende.

Eure Constance

PS: Sisyphos war übrigens sein Leben lang damit beschäftigt, seinen Stein den Berg hinauf zu rollen, weil er sich bewusst dazu entschieden hat. Er wurde gefragt, ob er lieber sein Leben lang den Stein bergauf rollen wolle, oder den Menschen Frieden und Vernunft beibringen wolle… Er hat sich für den Stein entschieden! -Ich mich für die Menschen! Ich frage mich, ob mein Kollege seine Entscheidung jemals bereut hat.

Sisyphos und ich

Ich bin oben angekommen und habe trotzdem noch einen endlosen Weg vor mir! Sisyphosarbeit! - Und ich liebe sie.