Toxisch positiv! - Wie es wirklich zu viel des Guten werden kann

Good vibes only! -Denn Glück ist eine Sache der Einstellung.

Kennt ihr das: Euer Kanal ist voll. Am liebsten würdet ihr laut schreien und eines dieser Sonnenkinder kontert mit einem fröhlichen “Das ist doch alles gar nicht so schlimm! Denk einfach positiv und alles wird gut!”. - Danke fürs Gespräch. Ich bin weiß Gott niemand dessen Glas chronisch halb leer ist. Es gibt sogar Menschen, die der Meinung sind, dass das Gegenteil der Fall sei. Jedoch merke ich auch deutlich, dass Menschen, die immer nur fröhlich und aus meiner Sicht fast schon aufdringlich positiv durchs Leben gehen in mir Widerstand hervorrufen. Und nein, Neid ist es nicht. Ich bin tippi-toppi zufrieden mit meinem Leben. ich bin glücklich und lass mich regelmäßig zu der Aussage hinreißen, dass, wenn ich einen Wunsch frei hätte, es der wäre, dass es einfach so weitergehen sollte. Mein innerer Widerstand ist mehr der einer unwillkürlichen Reaktanz-Reaktion, die immer dann auftritt, wenn das menschlich Unterbewusstsein nach Ausgleich und Ausgewogenheit schreit. Es kann doch nicht sein, dass die Dinge derart eindimensional sind!

Aus meiner Sicht sind alle Emotionen wichtig für das Menschsein. Sie alle, auch die sogenannten negativen, haben wichtige Aufgaben. Ich erinnere an meinen Blog zum Thema Angst. Angst ist eine der wichtigsten menschlichen Errungenschaften, da sie radikal Überleben sichert, uns schützt und uns in die Zukunft blicken lässt. Die Trauer möchte uns vor ungewünschten Veränderungen bewahren. Unsere Wut schenkt uns Kraft und Durchsetzungsvermögen. Menschsein hat einfach eine riesengroße Bandbreite, die von der Evolution nicht nur gewollt ist, sondern darauf angelegt wurde, unser Überleben zu sichern. Klar fühlen Angst, Unsicherheit, Trauer und Co. sich nicht gut an. Haben möchte ich diese Emotionen nicht, würde ich gefragt werden. Deshalb ist es nur verständlich, wenn wir Menschen dazu neigen, diese Gefühle wegzudrücken. Das bedeutet aber nicht, dass diese Gefühle auch weg sind. Im schlimmsten Fall kommen sie zu einem späteren, manchmal sogar zu einem viel späteren Zeitpunkt, wieder an die Oberfläche und hinterlassen dann nicht selten eine ziemliche Zerstörung. Inzwischen gibt es diverse Studien, die belegen, dass sich negative Gefühle verstärken, wenn sie unterdrückt werden. Diese nicht enden wollende Leier der Glücksratgeber, die gebetsmühlenartig konstatieren, dass nur der zufrieden sein kann, der stets positiv denkt, ist schlicht und ergreifend falsch. Die US-amerikanische Psychologin Laura Campbell-Sills fand im Rahmen einer großen Studie heraus, dass negative Gefühle sich nicht nur im Unterbewussten verstärken, wenn sie unterdrückt werden. Zusätzlich stresst diese Unterdrückung sogar unsere körperliche Abwehr und wirkt sich dementsprechend nicht nur auf die psychische, sondern auch ganz konkret auf die physische Gesundheit aus. Permanent positives Denken in Kombination mit der Unterdrückung vermeintlich negativer Gefühle schwächt unsere Immunabwehr.

Ab wann wird positives Denken zum Problem?

Die Psychologin Muriel Burmeister beschrieb unlängst in einem Interview auf NTV, dass eine konstant positive Einstellung zusätzlich zu den körperlichen Auswirkungen dann zu einem konkreten Problem wird, wenn wir uns dadurch über einen längeren Zeitraum etwas vormachen. Sie beschreibt zum Beispiel, dass, wenn es im Job zu Absagen käme und wir uns diese Tatsache immer wieder positiv “re-framen”, die Gefahr bestünde, dass wir unser Entwicklungspotenzial nicht voll nutzten. Einsicht und konkretes Handeln ist ebenso wichtig, wie positive Gedanken um erfolgreich und zufrieden durchs Leben zu gehen. Und überhaupt, denke ich zum Beispiel an die Zeit von Corona zurück: Isolation, Einsamkeit, Existenzängste, der tiefe Wunsch wieder enger mit Menschen in Verbindung zu sein… Alles das konnte und wollte ich nicht positiv sehen und ich finde das spricht für mich als Mensch!

Über den Mut unglücklich zu sein

Wie so oft im Leben geht es bei dem Thema positiv-negativ oder optimistisch-pessimistisch nicht um ein Entweder-Oder, sondern um die Integration aller Gefühle. Es geht darum, den Mut zu haben, unglücklich zu sein. Menschen mit einem gesunden Optimismus blenden pessimistische oder negative Gefühle nicht aus, sondern lassen sie als Teil ihres Erlebens bewusst zu. Nach einer Absage im Job ist es OK wütend, traurig, enttäuscht, niedergeschlagen zu sein. Vielleicht sind es genau diese Gefühle, die mich dazu anspornen, mich zu überdenken und weiterzuentwickeln. Somit bedeutet ein gesunder Optimismus, sich mit negativen Gefühlen auf eine konstruktive und zukunftsorientierte Art und Weise auseinanderzusetzen. Das, was sowohl Burmeister, als auch Campbell-Sills als toxische Positivität beschreiben, verhindert diese für die menschliche Entwicklung notwendige Auseinandersetzung mit allen unseren Gefühlen.

Und wie löst man sich von toxischer Positivität?

Gute Frage! In erster Linie geht es um Selbsterkenntnis. Nur wenn ich mir eingestehe, dass ich negative Gefühle lieber unterdrücke, als sie zu integrieren, kann ich daran arbeiten. Ich gebe zu, selbst in meinem eigenen Mikrokosmos ist Selbsterkenntnis häufig nicht einfach. In Hinblick auf diesen toxischen Optimismus kommt hinzu, dass auch die Gesellschaft selbst nicht gerade hilfreich scheint. Ein stets positives Mindset wird immer und überall propagiert und auf die Frage “Wie geht’s?” gibt es, wenn wir mal ehrlich sind nur eine gesellschaftlich korrekte Antwort! Keiner will hören, dass es mir schlecht geht und warum und dementsprechend erzähle ich es auch nicht und spiele das Spiel breit grinsend mit.

So muss ich also für meine Selbsterkenntnis mutig und anders sein und zu allem Überfluss muss ich auch noch ein negatives Gefühl zulassen. -Ein ziemlich großer Schritt.

Im weiteren Verlauf können Coaches wie ich selbst ausgesprochen hilfreich sein. Gerade in meiner Arbeit mit hypnosystemischen Ansätzen geht es immer wieder darum, angeblich negative Gefühle zu re-framen, sie wertzuschätzen, ihre wichtige Bedeutung für das Konstrukt Mensch herauszustellen und uns bewusst zu machen, dass auch diese Gefühle wertvolle Signale unseres Organismus sind, der uns immer nur schützen oder stärken möchte. Auf diesem Weg lassen sich alle Gefühle integrieren und verarbeiten um daran schließlich zu wachsen.

Aber: Coaching ohne Auftrag ist Stalking!

Keine Sorge, ich laufe selbstverständlich nicht durch die Welt und coache all jene, die aus meiner Sicht toxisch optimistisch sind. Wer wäre ich, jemanden dazu aufzufordern, die Dinge doch auch mal negativ zu sehen?! Ich bleibe bei mir und freue mich über jeden positiven, fröhlichen Mitmenschen. Allerdings erlaube ich mir inzwischen bei Sätzen wie “Das ist doch kein Drama!” oder “Sieh’s doch einfach positiv!” zu reagieren. Und zwar nicht mit einem “Oh ja, danke, tolle Idee!”, sondern indem ich dazu stehe, dass ich mir meine negativen Gefühle und Gedanken hier und da gerne gönne, sie wertschätze und integriere als das was sie sind: Ein wertvoller Teil meiner Gesamtpersönlichkeit! Und glaubt mir, manchmal kostet es wirklich Mut, offen unglücklich zu sein!

Habt einen guten Sonntag und gönnt euch so viel Glück oder Unglück, wie ihr es heute für euch braucht.

Eure Constance

Bitte stets fröhlich

Muss ich wirklich immer lächeln?


Und Schuld sind ohnehin die Eltern... - Glaubenssätze zum Muttertag

Über Wurzeln, Flügel und Liebe

Heute ist Muttertag und ich denke, dass viele von euch ihre Mama mit liebevollen Geschenken bedenken, sie besuchen und sich ihrer Bedeutung in unserem Leben noch einmal besonders bewusst werden. Vielleicht werden einige von euch heute selbst mit liebevollen Geschenken und Aufmerksamkeiten bedacht. Bei mir wird heute nichts von beidem passieren. Ich habe mich seiner Zeit bewusst gegen eigene Kinder entschieden und werde somit nie erfahren, wie es ist Mama zu sein. Da das meine eigene und bewusste Entscheidung war, ist das OK für mich. Leider werde ich jedoch auch meiner Mama keine Geschenke machen können. Ich werde sie nicht besuchen können, da sie schon eine ganze Weile tot ist. Ehrlich gesagt kann ich mich noch nicht einmal richtig an den letzten Muttertag mit meiner Mutter erinnern. Er ist so lange her und ich wünschte ich hätte ihn bewusster mit ihr gefeiert. Wie wertvoll Zeit ist stellen wir Menschen leider oft erst dann fest, wenn sie abgelaufen ist.

Auch wenn ich diesen Tag heute nicht mit meiner Mama feiern kann, hat er dennoch eine Bedeutung für mich, denn obwohl ich keine Mama mehr habe, bin ich trotzdem Tochter. Ich werde de Facto nie aufhören Tochter zu sein. Aber was bedeutet es denn überhaupt, Tochter zu sein? So lange meine Mama noch am Leben war habe ich mir darüber nie Gedanken gemacht. Alles war so selbstverständlich. Meine Mama war für mich da, wenn ich sie brauchte und ich habe versucht für meine Mama da zu sein, wenn sie mich brauchte. Tochter zu sein war Zugehörigkeit und Abgrenzung zugleich und als meine Mama krank wurde bedeutete Tochter zu sein für mich, mich um sie zu kümmern, ihr zu ermöglichen, dass sie so lange wie möglich zuhause sein konnte. Tochter zu sein bedeutete für mich, dass meine Mama bei Ärzten oder im Krankenhaus nicht allein war und als sich meine Mutter auf ihre finale Reise begeben hat, bedeutete Tochter sein für mich, dass ich Tage und Nächte bei ihr war, an ihrem Bett wachte, damit sie in ihren letzten Momenten nicht allein war. Meine Mama hat mich bei meinen ersten Atemzügen gehalten und ich habe ihre Hand bei ihren letzten Atemzügen gehalten. Das bedeutete Tochter sein für mich.

Das Produkt von Mutterliebe

Einige Jahre nach Mamas tot ist mir bewusst geworden, dass Tochter sein noch viel weiter geht. Im Rahmen meiner NLP-Ausbildung ging es endlich an die Arbeit mit Glaubenssätzen, der Grund weshalb ich überhaupt damit angefangen habe, mich für NLP, Neurolinguistische Programmierung, zu interessieren.

Glaubenssätze sind tief verankerte Annahmen, die wir Menschen über uns selbst, über andere und über die Welt haben. Es sind sehr starke innere Überzeugungen, die uns häufig noch nicht einmal voll bewusst sind und dennoch einen großen Einfluss darauf haben, wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir agieren, oder eben nicht.

Betrachten wir uns wie unsere Glaubessätze entstehen, lässt sich feststellen, dass sie das Ergebnis unserer wahrgenommenen Erfahrungen sind und nicht selten bereits in der Kindheit entstehen.

Ich wollte damals, zu Beginn meiner NLP-Karriere, unbedingt an meine Glaubessätze ran, da ich feststellen musste, dass einige meiner Glaubessätze verdammt viel Macht über mich hatten. Sie waren allgegenwärtig und machten es mir im Prinzip unmöglich mein volles Potenzial auszuschöpfen. Mein erster Versuch war eine klassische Gesprächstherapie, die wirklich hilfreich war um mir noch klarer darüber zu werden, wo und wie meine Glaubenssätze mich einschränkten. Außerdem wurde mir bereits damals bewusst, dass meine Eltern “schuld” an meinen Glaubenssätzen waren, zu mindestens an den drei bis vier giftigsten. Weg waren meine Glaubenssätze trotz Therapie nicht. Gefühlt waren sie sogar noch präsenter. NLP sollte es lösen und in der dritten Ausbildung, dem NLP-Masterkurs, war es dann endlich soweit: Glaubenssatzarbeit.

“Du bist nicht gut genug!” “Kümmere dich erst um die anderen, eh du dich um dich selbst kümmerst!” “Du bist egoistisch!” “Du darfst dich nicht so wichtig nehmen!” “Du kannst das ohnehin nicht richtig!” - Ich weiß nicht wie lang eure Listen sind, oder ob ihr eure Listen überhaupt kennt oder kennenlernen wollt. Bei mir gab und gibt es so einiges und zu meiner Empörung durfte ich wie bereits erwähnt feststellen, dass meine Eltern an den meisten meiner destruktiven Glaubenssätze schuld waren. Es gab einen Satz, der mir besonders im Herzen gestochen hat. Ich war fest davon überzeugt, kein guter Mensch zu sein. Keiner meiner Glaubenssätze hatte eine vergleichbare Macht über mich. Es stellte sich heraus, dass ich diesen Satz ganz direkt meiner Mutter zu verdanken hatte. Während einer sehr intensiven Session konnte ich die Situation herausarbeiten. Ich war acht oder neun Jahre alt und ich weiß sogar noch, was ich anhatte, als meine Mutter eigentlich einen Witz machte, den die Acht- oder Neunjährige leider sehr ernst genommen hat. Es war Sommer, abends gegen acht Uhr und ich saß in meinem gelb-grauen Schlafanzug mit dieser kurzer Hose auf unserer braunen Ledercouch, auf die mein Bruder kürzlich Butterflecken gekleckst hat. Meine Mutter machte einen liebevoll, lustig gemeinten Vergleich, den mein erwachsenes Ich sicher verstanden hätte. Meinem kindliches Ich ging dieser Vergleich sehr zu Herzen, so sehr, dass die kleine Constance fortan immer wieder alle möglichen Situationen auf gleiche Weise interpretiert oder wahrgenommen hat. Sie war also ein schlechter Mensch, die kleine Constance. So jedenfalls hat es das Kinde verstanden und als real wahrgenommen und so hat sich dieser Glaubenssatz in meinem Unterbewusstsein festgefressen und mich in allen möglichen Situationen behindert und eingeschränkt.

Die neue Einordnung dieser Situation, dieses Glaubenssatzes war so tränenreich, dass ich Angst hatte, der Holzfußboden im Übungsraum könnte aufquellen!

Aus Liebe eingeschränkt!

Warum ich euch das erzähle? Weil mir in diesem Moment bewusstwurde, dass Tochter sein auch bedeutet, dass ich zeitlebens das Produkt der Liebe und Fürsorge, aber auch der Fehlbarkeit meiner Eltern bin.

Dank meiner Ausbildung hatte ich die Möglichkeit mir noch weitere meiner Glaubenssätze anzuschauen und ich durfte feststellen, dass Glaubenssatzarbeit eine sehr deutliche Einladung dazu sein kann, mit den Eltern recht hart ins Gericht zu gehen. Da meine Eltern, die ich sehr liebe, zu diesem Zeitpunkt jedoch beide schon lange tot waren, wollte und konnte ich keinen Groll gegen sie hegen. Fakt ist, sie waren sicher nie der Meinung, dass ich ein schlechter Mensch bin, dass ich weniger wichtig oder weniger wert bin als andere. Wahrscheinlich war ich für sie sogar deutlich wichtiger und wertvoller als so ziemlich alle anderen Menschen auf dieser Welt. Trotzdem haben sie das ein oder andere nicht ganz richtig, vielleicht sogar falsch gemacht. Ihre Motive waren jedoch stets von Liebe und Fürsorge getragen. Sie haben ihr Bestes gegeben, Tag für Tag.

Inzwischen konnte ich viele meiner Glaubenssätze neu einordnen, auflösen, integrieren. Einen Glaubenssatz, den man durchaus eher als negativ einordnen könnte, habe ich jedoch bewusst behalten. Ich habe mich sogar dazu entschieden, ihn ein wenig zu pflegen, was zu einem ganz kurzen Eklat in meiner NLP-Ausbildungsgruppe geführt hat. Dieser Glaubenssatz mit seinen Einschränkungen hält mich in Verbindung mit meiner Mutter. Jedes Mal, wenn diese fiese Stimme aus meinem Unterbewussten schreit, dass ich mich gefälligst erst um die anderen kümmern solle, eh ich nach mir schaue, weil sich das so gehöre, weiß ich, dass mich das einschränkt, aber ich weiß auch, dass es meine Mama war, die dieses Muster in mir gestärkt hat. Während ich also manchmal erschöpft und müde noch eine Runde für andere drehe, weil ich einfach nicht nein sagen kann, lächle ich in mich hinein, weil ich weiß, dass Tochter sein eben auch bedeutet ein Produkt der Liebe, der Fürsorge und der Fehlbarkeit meiner Mama zu sein. Sie hat mich stark und selbstbewusst gemacht, sie war ein tolles Vorbild, sie hat mir ein sicheres Nest und Flügel geschenkt, sie hat ihren wertvollen Beitrag dazu geleistet, dass ich heute ein komplexes Gesamtpaket bin, mit Stärken und Schwächen, mit Mut, Ängsten und Zweifeln.

Heute, am Muttertag, wünsche ich mir vielleicht noch ein bisschen mehr als sonst, noch ein einziges Mal mit meiner Mama bei einer Tasse Kaffee zusammensitzen zu können. Wie gerne würde ich ihr von meinem Leben erzählen. Wie gerne würde ich noch einmal diesen Stolz spüren, den nur eine Mutter empfinden kann, wenn sie ihre Tochter sieht. Wie gerne würde ich dieses Gefühl der mütterlichen Geborgenheit noch ein einziges Mal spüren, nur für einen kurzen Moment. Aber alles das wird nicht mehr passieren. Deshalb bedeutet Tochter sein für mich meine Mutter in mir zu entdecken und manchmal lächelt sie zurück, wenn ich in den Spiegel schaue.

Genießt diesen Sonntag, egal ob als Mama, als Tochter oder als Sohn.

Eure Constance

Glaubenssätze und Muttertag

Schuld sind die Eltern, schuld aus Liebe und Fürsorge

Tag der Arbeit und der ewige Traum einer besseren Welt

Alle Jahre wieder - 1. Mai

Morgen ist 1. Mai, Tag der Arbeit und dem Himmel sei Dank, ich habe frei! Ausgerechnet am Tag der Arbeit wird in Deutschland nicht gearbeitet. Genau mein Humor! Seinen Ursprung hat dieser Feiertag übrigens in den USA. Dort haben am 1. Mai 1886 etwa 400.000 Arbeiter in mehreren Städten für die Einführung des Acht-Stunden-Tages gestreikt. So gesehen sollte ich für diesen freien Montag nicht dem Himmel, sondern den mutigen Arbeitern danken, die den 1. Mai in vielen Ländern zum Feiertag der Arbeiterbewegung gemacht haben. Interessant, wie weit sie zurück geht, die Beschäftigung mit Rahmenbedingungen für Arbeit. Aber was ist Arbeit überhaupt? In der Physik ist Arbeit die Energiemenge, die bei einem Vorgang umgesetzt wird. Für Volkswirte ist Arbeit einer der Produktionsfaktoren, während in der Betriebswirtschaftslehre plan- und zweckmäßige, innerbetriebliche Tätigkeiten von Arbeitspersonen als Arbeit bezeichnet werden. Die Sozialwissenschaften haben eine andere Herangehensweise. Hier ist Arbeit die zielbewusste, durch Institutionen begründete menschliche Tätigkeit und die Philosophie geht sogar noch einen Schritt weiter und beschreibt Arbeit als einen Prozess der bewussten schöpferischen Auseinandersetzung des Menschen.

Auch an dieser Stelle wird mir einmal mehr klar, dass ich weder Physikerin, noch Betriebs- oder Volkswirtin bin. Bei mir geht es um Ziel, Interaktion, Kreativität, Schöpfung, Purpose. Allerdings muss ich zugeben, dass mir die Definition der Physik durchaus gefällt. Arbeit ist etwas Energetisches, etwas Kraftvolles, etwas Aktives. Ich finde das passt gut als grober Rahmen. Denn seit diesem 1. Mai 1886 hat sich in der Wahrnehmung von Arbeit einiges verändert. Die klassischen Arbeiter, die aus körperlicher Arbeit heraus etwas kreieren, etwas produzieren, werden immer weniger. Und auch das gesellschaftliche Ansehen von klassischer Arbeit hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Geistige und kreative Arbeit ist allgegenwertig und es gibt Momente, in denen ich das Gefühl habe, dass es in unserer Welt nichts Produktiveres gibt, als das Kapital, das diejenigen, die darüber verfügen, für sich arbeiten lassen. Ja, es hat sich so einiges getan seit 1886. Was sich jedoch nicht verändert hat, ist die Frage nach den Arbeitsbedingungen und der Rolle des Manschens in der Wertschöpfungskette.

Resilienz und Vulnerabilität

Während sich 1886 Überarbeitung und Ausbeutung vor allem körperlich bemerkbar gemacht haben, ist das Bild von Überarbeitung und deren Auswirkungen anno 2023 deutlich abstrakter geworden. Seit Jahren nimmt der Anteil an Krankmeldungen aus psychischen Gründen stetig zu und doch sind Burnout, Depressionen und Co. gefühlt noch immer ein Tabuthema. Während ich Menschen beobachtet habe, die fast schon etwas stolz davon erzählten, wie sie sich im Skiurlaub den Oberschenkel zertrümmert habe, wie sie von der Bergrettung ausgeflogen wurden und wie viele Nägel und Platten und anderes Metall sie nun in ihrem Bein haben, habe ich auch Menschen getroffen, die ihre seelische Erkrankung versucht haben, bestmöglich zu verheimlichen, weil sie sich für ihr Burnout schämten. Sie schämten sich, weil sie sich im Job komplett überlastet haben! Alles für den Arbeitgeber und dann ab in die Klinik. Seelen brechen wie Oberschenkelhälse, wenn sie überlastet werden. Beide brauchen Zeit zum heilen und wahrscheinlich sind all jene , die sich bei dieser oder jener Tätigkeit einen Knochen gebrochen haben danach etwas vorsichtiger. Aber sind wir das auch im Job, wenn unsere Seele uns die gelbe oder rote Karte zeigt? Ich kenne Menschen die einen, zwei, drei stressbedingte Hörstürze hatten und einfach weiter gemacht haben, weil sie selbst oder andere es von ihnen erwartet haben. So wie die Arbeiter 1886 dafür gekämpft haben, die körperlichen Belastungen ihrer Arbeit auf ein akzeptables Maß zu reduzieren, so beginnt momentan zaghaft der schon längst überfällige Kampf der modernen Arbeiterschaft für emotional akzeptable Rahmenbedingungen. Denn auch ein “Bandscheibenvorfall der Seele” ist durch kein Gehalt der Welt gerechtfertigt.

Die dunkle Seite von Agilität und New Work

Wie kann es nun also sein, dass wir Unternehmen verändern, agil transformieren, Menschen mehr Gestaltungsraum schenken, mehr Eigenverantwortung und mehr Autonomie und Menschen werden offensichtlich vor genau diesem Hintergrund emotional immer stärker belastet? Wie um alles in der Welt kann mehr Freiraum und mehr Autonomie zu mehr Burnouts führen? Warum gelingt es diesen ach so freien Menschen nicht, besser auf sich zu achten? Ist der Mensch vielleicht doch nicht reif für New Work? Alles absolut berechtigte Fragen.

Zum Tag der Arbeit habe ich mir wieder einmal Frederic Lalouxs Buch “Reinventing Organizations” hervorgeholt. -Meine Bibel einer besseren Welt. Seitdem das Buch vor guten sieben Jahren auf den Markt kam, haben mehr und mehr Unternehmen die (agile) Transformation gewagt, haben ihre Arbeitsmodelle hinterfragt, verändert, Entscheidungsfindungsprozesse dezentralisiert und ihren Mitarbeitenden mehr Freiraum geschenkt. Was jedoch augenscheinlich nicht hinterher kommt ist der tatsächliche kulturelle Wandel. Die Idee der New Work auch so wie sie Laloux beschreibt, setzt ein bestimmtes Menschenbild als Basis für funktionierende „New Work-Strukturen” voraus.

New Work, Agilität und Co. gehen von leistungsbereiten, engagierten, eigenmotivierten Menschen aus. Sie gehen davon aus, dass Menschen den Raum ausfüllen, der ihnen gegeben wird, aus Überzeugung und Eigenmotivation. Die “alte Welt” ging eher davon aus, dass Menschen von außen motiviert werden müssen, wechselwirksam mit Druck und Anreizen. Der Chef sollte am besten hinterm Esel stehen, ihn mit der Peitsche antreiben und gleichzeitig mit einer Angel die Karotte vor die Nase halten, damit er möglichst schnell und weit läuft. Ohne Motivation von außen keine Bewegung. Dass der Esel laufen könnte, weil er Spaß am Laufen hat oder Sinn im Laufen sieht oder gar gerne mit dem Kutscher zusammenarbeitet weil er ihm vertraut, war undenkbar.

Agilität als Burnout-Falle

Ich weiß nicht wie es euch geht, aber ich finde mich eindeutig in Lalouxs Menschenbild wieder und auch die allermeisten Menschen die ich beruflich und privat erleben, erlebe ich als ausgesprochen eigenmotiviert. -Eigentlich genau die richtigen Menschen für diese modernen neuen Arbeitsmodelle! Aber was passiert mit diesen Menschen, wenn ihr neues Arbeitsmodell in der Kultur und dem Menschenbild der alten Welt festhängt? - Sie schnappen sich eigenverantwortlich Aufgaben, übernehmen Verantwortung und treiben Themen nach allen verfügbaren Kräften voran. Sie geben 100 Prozent und legen noch eine extra Schippe drauf, weil sie der neue Freiraum zusätzlich motiviert. Gleichzeitig steht der Chef mit der Peitsche hinter ihnen, weil er ja davon ausgehen muss, dass man Menschen stets zusätzlich antreiben muss, Druck ausüben muss und vor ihnen hängen bergeweise Karotten in Form von Incentives. So läuft sich das Eselchen irgendwann tot, weil es sich permanent selbst überholt.

Natürlich gibt es Menschen mit unterschiedlich stark ausgeprägter intrinsischer Motivation und ganz sicher gibt es auch einen gewissen Prozentsatz an Menschen, die keine besonders große Lust auf Leistung haben. Die alte Welt hat sich an dieser Minderheit orientiert und alle Strukturen sowie auch ihr Menschenbild nach ihnen ausgerichtet. In den eng gefassten Arbeitsstrukturen 1886 war das ganz sicher OK, weil diejenigen, die stark intrinsisch motiviert waren, auf Grund der Strukturen weitaus weniger gefährdet waren, in eine Überlastung zu gehen. Orientieren wir uns auch in den neuen Strukturen unserer Arbeitswelt weiterhin an dieser Minderheit brechen uns Stück für Stück die Hauptleistungsträger, die Kreativen, intrinsisch Motivierten weg, weil sie sich selbst überholen und darüber ins Straucheln geraten. So kann Agilität zu einer Art Katalysator für Burnout werden.

Und jetzt?

In Anbetracht der Kosten, die psychische Erkrankungen Jahr für Jahr mit steigender Tendenz verursachen ist guter Rat absolut nicht teuer. Liebe Unternehmen, macht euch Gedanken darüber, welches Menschenbild euren bunten Codes of Conduct zu Grunde liegt. Liebe Chefs, hinterfragt euch vielleicht einmal ganz kurz selbstkritisch welches Menschbild in euren Köpfen vorherrscht und ob dieses noch zeitgemäß ist. Vielleicht überlegt der ein oder andere sogar, an seinem Menschenbild zu arbeiten. Liebe HRler, braucht es wirklich noch diese Karotten, die wir Menschen vor die Nase halten? Liebe alle, traut euch die Ideen von Vier-Tage-Wochen einmal mitzudenken, ohne Neid und ohne Wenn und Aber.

Seit 1886 hat sich eine Menge getan und ich bin zuversichtlich, dass sich unsere Arbeitswelt auch weiterhin verändern wird. Ich gebe den Traum von der besseren Welt nicht auf, weil ich sicher bin, dass auch diese Welt erfolgreich und produktiv sein wird. Diese neue Welt ist zentrales Thema meiner bewussten schöpferischen Auseinandersetzung. Tagtäglich mache ich mir Gedanken, welchen Beitrag ich leisten kann, um das Drumherum zu gestalten und Kultur zu verändern. Im philosophischen Sinne ist dieser Traum meine Arbeit und tief in mir drin ist dieser Traum auch mein Purpose.

Habt einen schönen Sonntag und einen ebenso schönen Tag der Arbeit.

Eure Constance

Tag der Arbeit

… und der Traum von einer besseren Welt