Persönlichkeit

Toxisch positiv! - Wie es wirklich zu viel des Guten werden kann

Good vibes only! -Denn Glück ist eine Sache der Einstellung.

Kennt ihr das: Euer Kanal ist voll. Am liebsten würdet ihr laut schreien und eines dieser Sonnenkinder kontert mit einem fröhlichen “Das ist doch alles gar nicht so schlimm! Denk einfach positiv und alles wird gut!”. - Danke fürs Gespräch. Ich bin weiß Gott niemand dessen Glas chronisch halb leer ist. Es gibt sogar Menschen, die der Meinung sind, dass das Gegenteil der Fall sei. Jedoch merke ich auch deutlich, dass Menschen, die immer nur fröhlich und aus meiner Sicht fast schon aufdringlich positiv durchs Leben gehen in mir Widerstand hervorrufen. Und nein, Neid ist es nicht. Ich bin tippi-toppi zufrieden mit meinem Leben. ich bin glücklich und lass mich regelmäßig zu der Aussage hinreißen, dass, wenn ich einen Wunsch frei hätte, es der wäre, dass es einfach so weitergehen sollte. Mein innerer Widerstand ist mehr der einer unwillkürlichen Reaktanz-Reaktion, die immer dann auftritt, wenn das menschlich Unterbewusstsein nach Ausgleich und Ausgewogenheit schreit. Es kann doch nicht sein, dass die Dinge derart eindimensional sind!

Aus meiner Sicht sind alle Emotionen wichtig für das Menschsein. Sie alle, auch die sogenannten negativen, haben wichtige Aufgaben. Ich erinnere an meinen Blog zum Thema Angst. Angst ist eine der wichtigsten menschlichen Errungenschaften, da sie radikal Überleben sichert, uns schützt und uns in die Zukunft blicken lässt. Die Trauer möchte uns vor ungewünschten Veränderungen bewahren. Unsere Wut schenkt uns Kraft und Durchsetzungsvermögen. Menschsein hat einfach eine riesengroße Bandbreite, die von der Evolution nicht nur gewollt ist, sondern darauf angelegt wurde, unser Überleben zu sichern. Klar fühlen Angst, Unsicherheit, Trauer und Co. sich nicht gut an. Haben möchte ich diese Emotionen nicht, würde ich gefragt werden. Deshalb ist es nur verständlich, wenn wir Menschen dazu neigen, diese Gefühle wegzudrücken. Das bedeutet aber nicht, dass diese Gefühle auch weg sind. Im schlimmsten Fall kommen sie zu einem späteren, manchmal sogar zu einem viel späteren Zeitpunkt, wieder an die Oberfläche und hinterlassen dann nicht selten eine ziemliche Zerstörung. Inzwischen gibt es diverse Studien, die belegen, dass sich negative Gefühle verstärken, wenn sie unterdrückt werden. Diese nicht enden wollende Leier der Glücksratgeber, die gebetsmühlenartig konstatieren, dass nur der zufrieden sein kann, der stets positiv denkt, ist schlicht und ergreifend falsch. Die US-amerikanische Psychologin Laura Campbell-Sills fand im Rahmen einer großen Studie heraus, dass negative Gefühle sich nicht nur im Unterbewussten verstärken, wenn sie unterdrückt werden. Zusätzlich stresst diese Unterdrückung sogar unsere körperliche Abwehr und wirkt sich dementsprechend nicht nur auf die psychische, sondern auch ganz konkret auf die physische Gesundheit aus. Permanent positives Denken in Kombination mit der Unterdrückung vermeintlich negativer Gefühle schwächt unsere Immunabwehr.

Ab wann wird positives Denken zum Problem?

Die Psychologin Muriel Burmeister beschrieb unlängst in einem Interview auf NTV, dass eine konstant positive Einstellung zusätzlich zu den körperlichen Auswirkungen dann zu einem konkreten Problem wird, wenn wir uns dadurch über einen längeren Zeitraum etwas vormachen. Sie beschreibt zum Beispiel, dass, wenn es im Job zu Absagen käme und wir uns diese Tatsache immer wieder positiv “re-framen”, die Gefahr bestünde, dass wir unser Entwicklungspotenzial nicht voll nutzten. Einsicht und konkretes Handeln ist ebenso wichtig, wie positive Gedanken um erfolgreich und zufrieden durchs Leben zu gehen. Und überhaupt, denke ich zum Beispiel an die Zeit von Corona zurück: Isolation, Einsamkeit, Existenzängste, der tiefe Wunsch wieder enger mit Menschen in Verbindung zu sein… Alles das konnte und wollte ich nicht positiv sehen und ich finde das spricht für mich als Mensch!

Über den Mut unglücklich zu sein

Wie so oft im Leben geht es bei dem Thema positiv-negativ oder optimistisch-pessimistisch nicht um ein Entweder-Oder, sondern um die Integration aller Gefühle. Es geht darum, den Mut zu haben, unglücklich zu sein. Menschen mit einem gesunden Optimismus blenden pessimistische oder negative Gefühle nicht aus, sondern lassen sie als Teil ihres Erlebens bewusst zu. Nach einer Absage im Job ist es OK wütend, traurig, enttäuscht, niedergeschlagen zu sein. Vielleicht sind es genau diese Gefühle, die mich dazu anspornen, mich zu überdenken und weiterzuentwickeln. Somit bedeutet ein gesunder Optimismus, sich mit negativen Gefühlen auf eine konstruktive und zukunftsorientierte Art und Weise auseinanderzusetzen. Das, was sowohl Burmeister, als auch Campbell-Sills als toxische Positivität beschreiben, verhindert diese für die menschliche Entwicklung notwendige Auseinandersetzung mit allen unseren Gefühlen.

Und wie löst man sich von toxischer Positivität?

Gute Frage! In erster Linie geht es um Selbsterkenntnis. Nur wenn ich mir eingestehe, dass ich negative Gefühle lieber unterdrücke, als sie zu integrieren, kann ich daran arbeiten. Ich gebe zu, selbst in meinem eigenen Mikrokosmos ist Selbsterkenntnis häufig nicht einfach. In Hinblick auf diesen toxischen Optimismus kommt hinzu, dass auch die Gesellschaft selbst nicht gerade hilfreich scheint. Ein stets positives Mindset wird immer und überall propagiert und auf die Frage “Wie geht’s?” gibt es, wenn wir mal ehrlich sind nur eine gesellschaftlich korrekte Antwort! Keiner will hören, dass es mir schlecht geht und warum und dementsprechend erzähle ich es auch nicht und spiele das Spiel breit grinsend mit.

So muss ich also für meine Selbsterkenntnis mutig und anders sein und zu allem Überfluss muss ich auch noch ein negatives Gefühl zulassen. -Ein ziemlich großer Schritt.

Im weiteren Verlauf können Coaches wie ich selbst ausgesprochen hilfreich sein. Gerade in meiner Arbeit mit hypnosystemischen Ansätzen geht es immer wieder darum, angeblich negative Gefühle zu re-framen, sie wertzuschätzen, ihre wichtige Bedeutung für das Konstrukt Mensch herauszustellen und uns bewusst zu machen, dass auch diese Gefühle wertvolle Signale unseres Organismus sind, der uns immer nur schützen oder stärken möchte. Auf diesem Weg lassen sich alle Gefühle integrieren und verarbeiten um daran schließlich zu wachsen.

Aber: Coaching ohne Auftrag ist Stalking!

Keine Sorge, ich laufe selbstverständlich nicht durch die Welt und coache all jene, die aus meiner Sicht toxisch optimistisch sind. Wer wäre ich, jemanden dazu aufzufordern, die Dinge doch auch mal negativ zu sehen?! Ich bleibe bei mir und freue mich über jeden positiven, fröhlichen Mitmenschen. Allerdings erlaube ich mir inzwischen bei Sätzen wie “Das ist doch kein Drama!” oder “Sieh’s doch einfach positiv!” zu reagieren. Und zwar nicht mit einem “Oh ja, danke, tolle Idee!”, sondern indem ich dazu stehe, dass ich mir meine negativen Gefühle und Gedanken hier und da gerne gönne, sie wertschätze und integriere als das was sie sind: Ein wertvoller Teil meiner Gesamtpersönlichkeit! Und glaubt mir, manchmal kostet es wirklich Mut, offen unglücklich zu sein!

Habt einen guten Sonntag und gönnt euch so viel Glück oder Unglück, wie ihr es heute für euch braucht.

Eure Constance

Bitte stets fröhlich

Muss ich wirklich immer lächeln?


Und Schuld sind ohnehin die Eltern... - Glaubenssätze zum Muttertag

Über Wurzeln, Flügel und Liebe

Heute ist Muttertag und ich denke, dass viele von euch ihre Mama mit liebevollen Geschenken bedenken, sie besuchen und sich ihrer Bedeutung in unserem Leben noch einmal besonders bewusst werden. Vielleicht werden einige von euch heute selbst mit liebevollen Geschenken und Aufmerksamkeiten bedacht. Bei mir wird heute nichts von beidem passieren. Ich habe mich seiner Zeit bewusst gegen eigene Kinder entschieden und werde somit nie erfahren, wie es ist Mama zu sein. Da das meine eigene und bewusste Entscheidung war, ist das OK für mich. Leider werde ich jedoch auch meiner Mama keine Geschenke machen können. Ich werde sie nicht besuchen können, da sie schon eine ganze Weile tot ist. Ehrlich gesagt kann ich mich noch nicht einmal richtig an den letzten Muttertag mit meiner Mutter erinnern. Er ist so lange her und ich wünschte ich hätte ihn bewusster mit ihr gefeiert. Wie wertvoll Zeit ist stellen wir Menschen leider oft erst dann fest, wenn sie abgelaufen ist.

Auch wenn ich diesen Tag heute nicht mit meiner Mama feiern kann, hat er dennoch eine Bedeutung für mich, denn obwohl ich keine Mama mehr habe, bin ich trotzdem Tochter. Ich werde de Facto nie aufhören Tochter zu sein. Aber was bedeutet es denn überhaupt, Tochter zu sein? So lange meine Mama noch am Leben war habe ich mir darüber nie Gedanken gemacht. Alles war so selbstverständlich. Meine Mama war für mich da, wenn ich sie brauchte und ich habe versucht für meine Mama da zu sein, wenn sie mich brauchte. Tochter zu sein war Zugehörigkeit und Abgrenzung zugleich und als meine Mama krank wurde bedeutete Tochter zu sein für mich, mich um sie zu kümmern, ihr zu ermöglichen, dass sie so lange wie möglich zuhause sein konnte. Tochter zu sein bedeutete für mich, dass meine Mama bei Ärzten oder im Krankenhaus nicht allein war und als sich meine Mutter auf ihre finale Reise begeben hat, bedeutete Tochter sein für mich, dass ich Tage und Nächte bei ihr war, an ihrem Bett wachte, damit sie in ihren letzten Momenten nicht allein war. Meine Mama hat mich bei meinen ersten Atemzügen gehalten und ich habe ihre Hand bei ihren letzten Atemzügen gehalten. Das bedeutete Tochter sein für mich.

Das Produkt von Mutterliebe

Einige Jahre nach Mamas tot ist mir bewusst geworden, dass Tochter sein noch viel weiter geht. Im Rahmen meiner NLP-Ausbildung ging es endlich an die Arbeit mit Glaubenssätzen, der Grund weshalb ich überhaupt damit angefangen habe, mich für NLP, Neurolinguistische Programmierung, zu interessieren.

Glaubenssätze sind tief verankerte Annahmen, die wir Menschen über uns selbst, über andere und über die Welt haben. Es sind sehr starke innere Überzeugungen, die uns häufig noch nicht einmal voll bewusst sind und dennoch einen großen Einfluss darauf haben, wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir agieren, oder eben nicht.

Betrachten wir uns wie unsere Glaubessätze entstehen, lässt sich feststellen, dass sie das Ergebnis unserer wahrgenommenen Erfahrungen sind und nicht selten bereits in der Kindheit entstehen.

Ich wollte damals, zu Beginn meiner NLP-Karriere, unbedingt an meine Glaubessätze ran, da ich feststellen musste, dass einige meiner Glaubessätze verdammt viel Macht über mich hatten. Sie waren allgegenwärtig und machten es mir im Prinzip unmöglich mein volles Potenzial auszuschöpfen. Mein erster Versuch war eine klassische Gesprächstherapie, die wirklich hilfreich war um mir noch klarer darüber zu werden, wo und wie meine Glaubenssätze mich einschränkten. Außerdem wurde mir bereits damals bewusst, dass meine Eltern “schuld” an meinen Glaubenssätzen waren, zu mindestens an den drei bis vier giftigsten. Weg waren meine Glaubenssätze trotz Therapie nicht. Gefühlt waren sie sogar noch präsenter. NLP sollte es lösen und in der dritten Ausbildung, dem NLP-Masterkurs, war es dann endlich soweit: Glaubenssatzarbeit.

“Du bist nicht gut genug!” “Kümmere dich erst um die anderen, eh du dich um dich selbst kümmerst!” “Du bist egoistisch!” “Du darfst dich nicht so wichtig nehmen!” “Du kannst das ohnehin nicht richtig!” - Ich weiß nicht wie lang eure Listen sind, oder ob ihr eure Listen überhaupt kennt oder kennenlernen wollt. Bei mir gab und gibt es so einiges und zu meiner Empörung durfte ich wie bereits erwähnt feststellen, dass meine Eltern an den meisten meiner destruktiven Glaubenssätze schuld waren. Es gab einen Satz, der mir besonders im Herzen gestochen hat. Ich war fest davon überzeugt, kein guter Mensch zu sein. Keiner meiner Glaubenssätze hatte eine vergleichbare Macht über mich. Es stellte sich heraus, dass ich diesen Satz ganz direkt meiner Mutter zu verdanken hatte. Während einer sehr intensiven Session konnte ich die Situation herausarbeiten. Ich war acht oder neun Jahre alt und ich weiß sogar noch, was ich anhatte, als meine Mutter eigentlich einen Witz machte, den die Acht- oder Neunjährige leider sehr ernst genommen hat. Es war Sommer, abends gegen acht Uhr und ich saß in meinem gelb-grauen Schlafanzug mit dieser kurzer Hose auf unserer braunen Ledercouch, auf die mein Bruder kürzlich Butterflecken gekleckst hat. Meine Mutter machte einen liebevoll, lustig gemeinten Vergleich, den mein erwachsenes Ich sicher verstanden hätte. Meinem kindliches Ich ging dieser Vergleich sehr zu Herzen, so sehr, dass die kleine Constance fortan immer wieder alle möglichen Situationen auf gleiche Weise interpretiert oder wahrgenommen hat. Sie war also ein schlechter Mensch, die kleine Constance. So jedenfalls hat es das Kinde verstanden und als real wahrgenommen und so hat sich dieser Glaubenssatz in meinem Unterbewusstsein festgefressen und mich in allen möglichen Situationen behindert und eingeschränkt.

Die neue Einordnung dieser Situation, dieses Glaubenssatzes war so tränenreich, dass ich Angst hatte, der Holzfußboden im Übungsraum könnte aufquellen!

Aus Liebe eingeschränkt!

Warum ich euch das erzähle? Weil mir in diesem Moment bewusstwurde, dass Tochter sein auch bedeutet, dass ich zeitlebens das Produkt der Liebe und Fürsorge, aber auch der Fehlbarkeit meiner Eltern bin.

Dank meiner Ausbildung hatte ich die Möglichkeit mir noch weitere meiner Glaubenssätze anzuschauen und ich durfte feststellen, dass Glaubenssatzarbeit eine sehr deutliche Einladung dazu sein kann, mit den Eltern recht hart ins Gericht zu gehen. Da meine Eltern, die ich sehr liebe, zu diesem Zeitpunkt jedoch beide schon lange tot waren, wollte und konnte ich keinen Groll gegen sie hegen. Fakt ist, sie waren sicher nie der Meinung, dass ich ein schlechter Mensch bin, dass ich weniger wichtig oder weniger wert bin als andere. Wahrscheinlich war ich für sie sogar deutlich wichtiger und wertvoller als so ziemlich alle anderen Menschen auf dieser Welt. Trotzdem haben sie das ein oder andere nicht ganz richtig, vielleicht sogar falsch gemacht. Ihre Motive waren jedoch stets von Liebe und Fürsorge getragen. Sie haben ihr Bestes gegeben, Tag für Tag.

Inzwischen konnte ich viele meiner Glaubenssätze neu einordnen, auflösen, integrieren. Einen Glaubenssatz, den man durchaus eher als negativ einordnen könnte, habe ich jedoch bewusst behalten. Ich habe mich sogar dazu entschieden, ihn ein wenig zu pflegen, was zu einem ganz kurzen Eklat in meiner NLP-Ausbildungsgruppe geführt hat. Dieser Glaubenssatz mit seinen Einschränkungen hält mich in Verbindung mit meiner Mutter. Jedes Mal, wenn diese fiese Stimme aus meinem Unterbewussten schreit, dass ich mich gefälligst erst um die anderen kümmern solle, eh ich nach mir schaue, weil sich das so gehöre, weiß ich, dass mich das einschränkt, aber ich weiß auch, dass es meine Mama war, die dieses Muster in mir gestärkt hat. Während ich also manchmal erschöpft und müde noch eine Runde für andere drehe, weil ich einfach nicht nein sagen kann, lächle ich in mich hinein, weil ich weiß, dass Tochter sein eben auch bedeutet ein Produkt der Liebe, der Fürsorge und der Fehlbarkeit meiner Mama zu sein. Sie hat mich stark und selbstbewusst gemacht, sie war ein tolles Vorbild, sie hat mir ein sicheres Nest und Flügel geschenkt, sie hat ihren wertvollen Beitrag dazu geleistet, dass ich heute ein komplexes Gesamtpaket bin, mit Stärken und Schwächen, mit Mut, Ängsten und Zweifeln.

Heute, am Muttertag, wünsche ich mir vielleicht noch ein bisschen mehr als sonst, noch ein einziges Mal mit meiner Mama bei einer Tasse Kaffee zusammensitzen zu können. Wie gerne würde ich ihr von meinem Leben erzählen. Wie gerne würde ich noch einmal diesen Stolz spüren, den nur eine Mutter empfinden kann, wenn sie ihre Tochter sieht. Wie gerne würde ich dieses Gefühl der mütterlichen Geborgenheit noch ein einziges Mal spüren, nur für einen kurzen Moment. Aber alles das wird nicht mehr passieren. Deshalb bedeutet Tochter sein für mich meine Mutter in mir zu entdecken und manchmal lächelt sie zurück, wenn ich in den Spiegel schaue.

Genießt diesen Sonntag, egal ob als Mama, als Tochter oder als Sohn.

Eure Constance

Glaubenssätze und Muttertag

Schuld sind die Eltern, schuld aus Liebe und Fürsorge

Der Humble Consultant - beraten in Demut und Bescheidenheit

Und weiter geht die wilde Fahrt

In den letzten Jahren teile ich in meinem Blog nicht nur fachliche Themen, sondern immer mal wieder auch persönliche Meilensteine. Mein letzter Meilenstein war meine Reise nach Maastricht im letzten Dezember und heute ist es erneut an der Zeit über einen nächsten wichtigen Schritt zu schreiben. Seit erstem April (und nein, es ist kein Scherz) arbeite ich hauptberuflich nicht mehr als Agile Coach, sondern als Organizational Effectiveness Consultant. Aus dem Coach wurde also über Nacht ein Consultant! Abgesehen davon, dass der Titel sich bestimmt recht spannend anhört, ist das vielleicht attraktivste an diesem Job, dass er sich noch entwickelt und die abschließende Tätigkeitsbeschreibung in Teilen noch im Werden ist. Ich darf also selbst gestalten. Für Manche recht chaotische Voraussetzungen, für mich ein Traum. Ich bleibe in meiner Abteilung, gemeinsam mit meinen bisherigen Kolleg:innen. Eigentlich ändert sich erst einmal nicht so viel und trotzdem war das Thema Rollenfindung oder genauer gesagt Rollendefinition bereits im Vorfeld ein recht Großes für mich. “Coach oder Consultant?”, war die große Frage.

Der Berater, der weiß wie es geht, sagt wie es geht und dann wieder verschwindet…

Irgendwo in meinem Kopf versteckt sich noch immer ein recht stereotypes Bild eines Beraters oder Consultants: natürlich männlich, teurer Anzug und noch viel teurere Uhr, stets busy, busy, busy. So rauscht er rein ins Unternehmen, analysiert Zahlen und Prozesse nach festen Schemata und erstellt basierend auf diesen Analysen Empfehlungen. Er spricht laut und lacht noch viel lauter mit seinen Berater-Freunden! Zahlen, Daten, Fakten! Gedacht wird in FTEs und nicht in Menschen. Kognitive oder emotionale Diversität lassen sich nicht berechnen oder analysieren und kommen deshalb nicht vor. Ängste übrigens auch nicht! In meiner kunterbunten Welt mit absolutem People-Fokus ist das kein besonders schmeichelhaftes Bild und sollte keinesfalls zum Selbstbild werden! Somit habe ich mich sehr intensiv damit beschäftig, welche Art Beraterin oder Consultant ich sein möchte oder sein kann.

Für mich ist jede Organisation, jede Organisationseinheit, jedes Team eine Art lebender Organismus, individuell und einzigartig, mit ganz individuellen Bedürfnissen und Gesetzmäßigkeiten. Schema-F gab es bei mir noch nie. Die Basis für den Erfolg dieser Organisationen sind aus meiner Sicht ihre Menschen, in ihrer Individualität, Diversität und Emotionalität. Dem gilt es auch in der Beratung Rechnung zu zollen. Erfolg bedeutet für mich heute mehr denn je, die Dynamik, Komplexität und Unklarheit unserer Zeit erfolgreich zu managen. Das geschieht nur bedingt durch Prozesse. Diese stellen lediglich eine gute Basis dar, weil sie das Potenzial haben, Menschen zu entlasten. Auch Algorithmen und zunehmende Digitalisierung haben nicht das Potenzial Dynamik und Komplexität zu managen. Sie können in Hinblick auf Komplexität vielleicht entlasten. In Hinblick auf die Dynamik unserer Zeit bin ich davon überzeugt, dass zunehmende Digitalisierung und Automatisierung die Dynamik noch zusätzlich befeuern. -Fast ein kleiner Teufelskreis! Welche Instanz bleibt nun also um durch erfolgreiches Managen von Dynamik und Komplexität für Erfolg zu sorgen? -Natürlich: der Mensch, bzw. Gruppen aus Menschen die ihr Wissen, ihre Perspektiven und ihre Erfahrungen erfolgreich im Team nutzen.

Der Mensch als Schlüssel zu Erfolg unserer Systeme

Wie kann ich nun also ausgerechnet den Schlüsselfaktor Mensch in meinen Effizienzanalysen außer Acht lassen? Wie kann ich für unterschiedliche Systeme immer wieder die gleichen Lösungen anbieten? Dies soll mein Weg nicht sein! Ich möchte bei den Menschen beginnen. Ich möchte beraten, indem ich mich auf die Menschen in den jeweils betrachteten Systemen einlasse, mich mit ihnen auseinandersetze und ihnen einen Raum schaffe, ihre Lösungen zu finden. Als Beraterin möchte ich bescheiden, fast demütig sein, da ich mir sicher bin, dass niemand ein System so gut kennt, wie die Menschen, die Teil des Systems sind. Dementsprechend werden diese Menschen auch stets in der Lage sein, eine deutlich passendere Lösung für ihre jeweiligen Systeme zu finden, als ich. Ich habe Ideen, Erfahrung und Vorschläge, aber es wäre doch töricht zu glauben, ich hätte allgemeingültige Lösungen…

Und dann kam Edgar H. Schein

So haderte ich nun also mit mir selbst und meiner Rollendefinition, als mir ein Buch in die Hände fiel: “Humble Consulting - die Kunst des vorurteilslosen Beratens” von Edgar H. Schein. Der Titel hat mich direkt gefangen und auch der Umstand, dass der im Januar verstorbene Professor Emeritus des MIT Ed Schein als einer der Begründer dessen gilt, was wir heute Organisationsentwicklung oder Change Management nennen, sprach für sich. Ich habe es quasi über Nacht gelesen und kann nun voller Stolz verkünden: ich bin ein Humble Consultant, eine bescheidene und vorurteilslose Beraterin!

Hier für euch, die Kerngedanken aus Scheins Ansatz, die mich sofort vereinnahmt haben:

Die Voraussetzung für Humble Consulting ist eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Berater:in und Kund:in. Schein nennt sie Level 2 Beziehung, die aus seiner Sicht tiefer geht als eine klassische respektvolle Business-Beziehung (Level 1), jedoch mehr Abstand und Abgrenzung erlauben als intime Beziehungen, die Schein als Level 3 bezeichnet. Diese vertrauensvolle Beziehung ist die Basis dafür, dass Berater:in und Kund:in gemeinsam die wahren Sorgen und Probleme im betrachteten System ergründen können, offen und vorurteilsfrei. Im Rahmen dieses Prozesses ist es unabdingbar, dass der/die Berater:in offen und neugierig zuhört. Das Gehörte wiederum wird genutzt, um authentische Fragen zu stellen, die auch dazu dienen, ganz neue Denkprozesse in Gang zu bringen. Spätestens hier ist der Übergang zwischen Humble Consulting und (systemischen) Coaching fließend, empfiehl Schein doch an dieser Stelle die komplette Palette systemischer Fragen. So erarbeiten sich Kund:in und Berater:in gemeinsam und mit Hilfe eines Insider-Blickes und der Perspektive von außen ein tieferes Verständnis der Themen, die das System oder die Organisation einschränken.

Aus diesem gemeinsamen Verständnis entstehen im Sinne von Humble Consulting eine Intervention, die schrittweise oder iterativ erfolgt. Diese bedachtsamen Anpassungen entwickeln sich im stetigen Austausch mit den Menschen im betrachteten System.

Natürlich spielen auch im Rahmen dieses Beratungsprozesses Performance-Indikatoren oder Kennzahlen eine wichtige Rolle und auch prozedurale Abläufe, Schnittstellen und der Bereich Performance Management wird durchaus betrachtet. Deren Analyse stellt jedoch nicht den ersten Schritt meiner Arbeit dar, sondern ergeben sich ggf. aus der gemeinsamen Analyse mit meinen Kunden und Kundinnen. Die komplexen, oder eigentlich schon fast chaotischen Herausforderungen unserer Zeit benötigen eben ein menschenzentriertes Modell des Beratens, Coachens, Unterstützens.

Ja, ich denke so passt das für mich. So kann ich arbeiten. Schein schreibt, dass sein Modell des bescheidenen oder vorurteilslosen Beratens davon ausgeht, dass Berater:innen sich dafür engagieren, unterstützen zu dürfen, eine Menge echter Neugier mitbringen und eine fürsorgliche Grundeinstellung haben, was bedeutet, dass Humble Consultants die Bereitschaft haben, herauszufinden, was ihre Kunden und Kundinnen tatsächlich bewegt oder beunruhigt. Ich finde das passt doch ganz gut zu mir. Und was den teuren Anzug und die noch teurere Uhr anbelangt kann ich ja einfach mal schauen, was die Zukunft so bringt!

Habt einen wunderschönen Sonntag und bis in zwei Wochen.

Eure Constance

Coach oder consultant?

Oder vielleicht Consultant mit dem Mindset eines systemischen Coaches?