Du bist… -Und Ende der Geschichte!
Bereits vor vier Wochen, am Muttertag, habe ich mich an dieser Stelle mit Glaubenssätzen auseinandergesetzt. -Glaubenssätze: diese tief verankerten Annahmen, die wir Menschen über die Welt, die anderen, vor allem aber auch über uns selbst haben. Oft sind uns diese starken inneren Überzeugungen noch nicht einmal voll umfänglich bewusst und trotzdem, oder gerade deshalb, haben sie die Macht unsere Selbstsicht maßgeblich zu steuern. Das kann ein Geschenk sein, wenn ich Pippi Langstrumpf bin und unerschütterlich und aus tiefster Überzeugung fest daran glaube, alles erreichen zu können. “Das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe!”, erklärte Pippi damals inbrünstig. Leider bin ich nicht Pippi sondern Constance und habe mich viele Jahre mit eher weniger hilfreichen Glaubenssätzen durchs Leben geschlagen.
“Du bist nicht gut genug.” “Eigentlich wirst du auch nie gut genug sein!” “IT verstehst du eh nicht, weil du technisch eine echte Niete bist!” “Du bist eher ein Distanz-Typ.” “Distanz-Typen wird häufig nicht so richtig vertraut.” “Deine Größe macht dich unnahbar.” “Du bist eine komplizierte Frau, jedenfalls bist du nicht einfach im Umgang.” “Ab 40 geht es langsam bergab!”
Ich könnte die Liste meiner inneren Gemeinheiten gegen mich selbst beliebig fortsetzen. Und natürlich muss die Frage erlaubt sein, warum ich diese Glaubenssätze hatte oder habe und Pippi Langstrumpf ganz andere. Ja, Pippis Papa Efraim, der Piratenkönig, hat sicher einen wertvollen Beitrag dazu geleistet, ein starkes junges Mädchen aus ihr zu machen, bevor er mit der Hoppetosse in die Südsee aufgebrochen ist. Allerdings hat mein Papa auch einen guten Job gemacht. Vielleicht hatte Pippi einfach Glück nicht in die Schule zu müssen, wo sie nicht gnadenlos nach einer einheitlichen Skala kategorisiert wurde und ihr nicht erklärt wurde, dass sie Mathe eben einfach nicht könne, was ja für ein Mädchen auch nicht ungewöhnlich sei. Sie hatte in der Oberstufe auch keinen Physiklehrer, der ihr und ihren Freundinnen erklärte, dass sie ja immerhin noch Frisösen werden könnten, wenn sie das nicht verstünden. Ihr wurde auch nie erklärt, dass aus ihr nichts werden würde, weil sie sich nicht anpassen könne und sie ohnehin viel zu (vor-) laut sei. Sie wurde auch nie dafür getadelt, dass einige ihrer Aussagen eher emotional als rational begründbar sein. Und Emotion ist natürlich schlecht.
Nein, nicht an allen unseren toxischen Glaubenssätzen sind unsere Eltern schuld. Und wer glaubt, nach der Schule würden sich die Dinge signifikant ändern, der hat recht. Es wird noch viel, viel engstirniger. Die Kategorien, in die wir gesteckt werden, werden immer enger gefasst und haben am Ende vielleicht sogar die Macht uns das zu nehmen, was in einer komplexen und dynamischen Welt wohl das wertvollste Gut ist: Unsere Fähigkeit uns stetig und grenzenlos weiterzuentwickeln. Man spricht von sogenannter Neuroplastizität und meint damit, dass unser Hirn und damit auch unsere Persönlichkeit nie aufhört zu wachsen, sich zu verändern, sich weiterzuentwickeln, wenn wir es einfach nur erlauben, oder wenn wir daran glauben, dass wir grenzenlos sind.
Komisch, rückblickend war mein Papa der Einzige, der mir immer und immer wieder erklärt hat, dass ich alles erreichen kann, was ich will, dass ich grenzenlos bin. Leider habe ich irgendwann aufgehört ihm zu glauben. Diese anderen Stimmen waren zu viele und zu laut. Liebe Grüße ins Taka-Tuka-Land und sorry Papa, dass ich dir nicht bedingungsloser geglaubt habe. Du hattest so recht.
Und dann kommt HR und gibt uns den Rest!
So trudelte ich also durch mein Leben direkt ins Zeitalter der Persönlichkeitstests: DISC, Myers-Briggs, LIFO, 16 Personalities und wie sie alle heißen. Das Schöne war, ich musste mir keine Gedanken mehr darüber machen, wer ich bin. Das wurde mir in einer kurzen Zusammenfassung feierlich schriftlich überreicht. Wie schön, dass man in Organisationen an Hand dieser Typisierungen fortan Teams zusammenstellen kann, Führungskräfte darauf vorbereiten kann, wie sie bestmöglich mit Typ A oder B umgehen, man weiß vorher mit wem man sich gut verstehen würde und bei wem Konflikte vorprogrammiert sind… Alles so einfach! -Und ich habe ihnen allen geglaubt, mehr als meinem Papa. Es handelt sich ja immerhin um angewandte Wissenschaft! So saß ich also fest in meiner Kategorie, in meiner inneren Überzeugungen über mich selbst und die Welt. Das Schöne war, ich hatte massiv viel Klarheit über mich, der Nachteil war, ich habe mich mit dem zufriedengegeben was war. So war ich eben. Ende der Geschichte!
Fun-Fact am Rande: Im Privatleben geht es direkt weiter. Selbst bei Tinder wird typisiert was das Zeug hält, damit man ganz einfach sein perfektes Match finden kann.
Ich weiß nicht wie er wieder an die Oberfläche gespült wurde, aber irgendwann war dieser verloren gegangene Glaube daran, dass ich grenzenlos bin, alles erreichen kann, alles lernen kann, was ich nur möchte, wieder da. -Ganz, ganz leise und zaghaft flüsternd irgendwo ganz hinten in meinem Kopf und in meinem Herzen versteckt wurde er irgendwann immer lauter und eines Tages hat er mich angeschrien, bis ich angefangen habe es zu glauben. Und plötzlich, mit Anfang 40 hat sich mir die Welt noch einmal ganz neu geöffnet. Vor mir lagen Träume, Möglichkeiten, Chance in Hülle und Fülle. Ich bin einfach aus meiner vorgesehenen Kategorie gesprungen! Unerhört eigentlich.
Zuschreibungen auf Identitätseben
“Zuschreibungen auf Identitätsebene” hat eine meiner Mentorinnen es immer genannt, wenn Menschen glaubten sagen zu können wie ein anderer Mensch ist, oder wie eben nicht. Zurecht hat sie darauf ziemlich allergisch reagiert. Niemand von uns, auch nicht der bester Persönlichkeitstest dieser Welt, ist in der Lage die menschliche Persönlichkeit allumfassend zu greifen, wahrzunehmen, zu verstehen. Alles das, was das Leben uns serviert sind kontextgebundene Momentaufnahmen unserer Mitmenschen. Und plötzlich kommt eine Instanz daher, nimmt diese kontextgebundene Momentaufnahme und macht sie zu unserer Persönlichkeit, zu unserer Identität, an die wir beginnen zu glauben. So bin ich also! Damit wird nicht nur ein großer Teil meines Ichs unterschlagen. Zusätzlich wird mir gefühlt die Möglichkeit und die Notwendigkeit genommen, mich weiterzuentwickeln. So bin ich eben: gut oder schlecht, erfolgreich oder eine Verliererin, kalt oder emotional, sensibel oder ausgeglichen, ernst oder fröhlich… Ich habe Jahre gebraucht um wirklich davon überzeugt zu sein, dass ich alles sein kann, wenn ich möchte sogar gleichzeitig!
Coaching und Persönlichkeitstests
Grundsätzlich finde ich all diese Persönlichkeitstest gar nicht schlecht. Bitte nicht falsch verstehen. Ihre Nutzung im organisationalen Kontext finde ich häufig nicht hilfreich, ehrlich gesagt sogar falsch! Ich selbst arbeite zum Beispiel immer wieder und sehr erfolgreich mit der Riemann-Thomann-Matrix. Allerdings nutze ich diese Matrix nicht um Menschen aufzuzeigen wie sie sind, sondern um sie dabei zu unterstützen, sich ihren möglichen Entwicklungsraum zu erschließen. Ich zeige ihnen, wie sie außerdem noch sein können.
Riemanns “Grundformen der Angst” sind für mich so etwas wie das “Urkonstrukt” vieler Typisierungen. Fritz Riemann ging es darum psychische Erkrankungen zu verstehen. Er kam zu dem Schluss, dass Menschen, die eine der vier Grundängste (Angst vor Nähe, vor Distanz, vor Dauer und vor Veränderung) ausschließlich und im Extrem empfinden, psychische Erkrankungen entwickeln, die er diesen Ängsten zuordnen konnte. Als Coach arbeite ich nicht diagnostisch. Schaut man sich diese Theorie jedoch ressourcenorientiert an, lässt sich daraus Schlussfolgern, dass der gesunde emotional Zustand das Gefühl der Zerrissenheit zwischen der Angst vor zu viel Nähe und zu viel Distanz und der Angst vor zu viel Dauer und zu viel Veränderung ist. Das heißt, alles ist bereits in uns angelegt, alles ist da und es liegt an uns alles das zu nutzen, bewusst, um vielseitige Wahlmöglichkeiten hinsichtlich des eigenen Reaktionsrepertoires zu haben.
In meinen Workshops und Coachings nutze ich die Riemann-Thomann-Matrix sehr gerne in Kombination mit den Führungskulturstilen aus dem Harvard Business Review um meinen Coachees oder Teilnehmenden dabei zu helfen, sich im Moment zu orientieren. Zu verstehen, wo ich mich gerade befinde ist wichtig um bewusst und zielgerichtet dorthin zu gehen, wo ich hinmöchte. Ich nutze diese Typisierungen nicht um zu kategorisieren und damit Grenzen zu ziehen, sondern um Räume zu öffnen. Wir sind grenzenlos und alles ist möglich! Ich selbst musste 40 werden, um dieses Satz nicht nur zu verstehen, sondern auch wirklich tief in mir zu glauben und ich stelle mir manchmal vor wie es gewesen wäre, wenn dieser Glaube schon zehn, zwanzig Jahre früher eingetreten wäre, bzw. wenn ich ihn nie verloren hätte. So ist es mir zu einer Art inneren Mission geworden, Menschen dabei zu unterstützen, frei zu sein, frei zu denken, die Kategorien die ihnen zugeschrieben werden, oder die sie sich selbst zuschreiben, abzuschütteln. Und natürlich glaube ich ganz fest daran, dass es irgendwann auch möglich sein wird, dass große Organisationen, von Kindergärten über Schulen und Unis hin zu Konzernen und Unternehmen eines Tages verstehen werden, dass es nicht darum geht, Menschen zu kategorisieren, sondern ihnen zu zeigen, dass sie grenzenlos sind. Ich bin in der Vergangenheit so unendlich viel gereist. Man darf sagen ich habe die Welt gesehen. Die einzigen Grenzen, die ich dabei ausmachen konnte, waren alle ausnahmslos von Menschhand geschaffen. Das gilt, so denke ich, auch für die inneren Grenzen. Somit möchte ich meinen Blog in dieser Woche mit einem Zitat beenden, das schon über 700 Jahre alt ist und aktueller nicht sein könnte. Irgendwann um 1270 notierte ein gewisser Meister Eckhart, seines Zeichens Philosoph und Theologe, folgenden Satz:
“Wir selbst sind die Ursache aller unserer Hindernisse.”
Glaubt nicht alles was man euch sagt oder zuschreibt. Glaubt vielleicht noch nicht einmal alles was ihr selbst denkt oder glaubt!
Eure Constance