Über Komplexität und menschliche Grundbedürfnisse
Ich hoffe, Ihr hattet eine gute Woche. Meine war komplex und ereignisreich und ich habe das Bedürfnis, meine persönliche Quintessenz daraus mit euch zu teilen. Für all jene, die sich auf meinen Exkurs in die Welt der systemischen Fragen gefreut haben: keine Sorge, nur aufgeschoben, nicht aufgehoben.
Ja, was war los? Ich hatte die große Freude, endlich mal wieder im Lehrsaal stehen zu dürfen. Die Erkenntnis daraus ist und bleibt, dass das natürliche Habitat eines Trainers nicht der Schreibtisch sein kann. Aber abgesehen davon, hatte ich diese Woche auch wirklich großartige Teilnehmer, die mich nicht nur daran erinnert haben, warum ich Trainer geworden bin, sondern mir auch sehr deutlich vor Augen geführt haben, worauf es wirklich ankommt, wenn es darum geht, die Komplexität zu managen, die die Arbeitswelt so mit sich bringt. Liebe Grüße nach Leipzig! Ich freu mich schon darauf, euch am Donnerstag wiederzusehen.
Weil die Welt sich dreht und dreht und dreht
Nichts ist so gewiss wie der Wandel und in der Unternehmenswelt ist dieser Wandel sehr greifbar und allgegenwärtig. Was gestern noch der neuste heißeste Scheiß war, ist heute schon wieder Schnee von gestern und was morgen kommt, weiß man noch nicht, aber sicher wird es auch wieder einen ziemlich coolen Namen haben. Während eben noch alles “Lean” sein sollte, schreien heute alle nach Agilität, oder vielleicht dann doch schon “Hybrid”! Hört sich halbwegs klug an, oder?! Manchmal habe ich das Gefühl, dass zielgenaues “Slang Dropping” heutzutage eine der wichtigsten Kernkompetenzen für eine möglichst steile Karriere sein muss. Und natürlich hat jeder, der spontan zwischen Toilette und Kaffee-Küche eine Entscheidung trifft, ein agiles Mindset. Logisch, was auch sonst.
Die Frage, die mich umtreibt, ist, warum man das Rad gefühlt jedes Jahr neu erfinden muss. Das ist super anstrengend und mega verwirrend! Ich denke, viele Unternehmen nehmen wahr, dass das Umfeld, in dem sie agieren immer komplexer wird. Die Anforderungen steigen, die Konkurrenz wird härter. Dankenswerterweise entdecken immer mehr Unternehmen die Bedeutung des Faktors Mensch, ihr sogenanntes Humanvermögen und suchen nach Möglichkeiten und Strategien, dieses Humanvermögen bestmöglich für sich zu nutzen. Als Human Factors Trainer gebe ich dafür natürlich zwei Daumen hoch. Allerdings stellt sich mir die Frage, was der Mensch denn nun wirklich braucht. Und ich bin da leider sehr wenig hip, um nicht zu sagen ich bin altmodisch. Ich hänge noch immer in der altbekannten Maslowschen Bedürfnispyramide fest. -Weil es so einfach und einleuchtend ist.
Von der Maslowschen Bedürfnispyramide zu agilen Strukturen
Im Jahr 1943 veröffentlichte der US-amerikanische Sozialpsychologe Abraham Maslow seine Pyramide der Grundbedürfnisse. Auf der ersten Stufe stehen die physiologischen Grundbedürfnisse: Hunger, Durst, Schlafen, Sexualität. Wenn ich mir Essen und Trinken leisten kann, weil ich ein angemessenes Gehalt habe und Arbeitszeiten, die es mir ermöglichen ausreichend Schlaf zu bekommen, steht schon mal die Basis (mit freundlichen Grüßen vom Mindestlohn!). Aus dem Thema Sexualität und Büroromanzen halte ich mich in diesem Zusammenhang raus, obwohl ich einen Kollegen geheiratet habe!
Kommen wir also zu Stufe zwei, mein Sicherheitsbedürfnis. Unternehmen können eine Menge dazu beitragen, dass ihre Angestellten sich sicher, oder eben total verunsichert fühlen. Eine besonderen Verantwortung entfällt hier auf die Führungskräfte, die wiederum maßgeblich Einfluss auf die Unternehmenskultur haben. Ich erlebe es leider immer wieder, dass es Führungskräfte (sogar Topmanager) gibt, die glauben, Angst würde zu Höchstleistungen führen. Ich glaube ich wiederhole mich hier, aber ich kann es nicht oft genug sagen: wenn die Höchstleistung, die ich brauche, um als Unternehmen erfolgreich zu sein, sehr schnelles Laufen oder sehr kraftvolles Zuschlagen ist, dann ist das richtig. Benötigt mein Unternehmen jedoch kreative, bzw. kognitive Höchstleistung um erfolgreich zu sein, kann ich den Laden an dieser Stelle auch dicht machen. Unter Stress (und Angst macht sehr viel Stress) kann meine Großhirnrinde nicht arbeiten. Naturwissenschaftlicher Fakt und nicht wegzudiskutieren!
Auf zu Stufe drei, den sozialen Bedürfnissen. Weil ich mich zugehörig fühlen möchte, sind Unternehmen gut beraten, großen Wert auf funktionierende Teamstrukturen und teambildende Maßnahmen zu legen. Ich persönlich denke, dass das eine der großen Herausforderungen im Homeoffice ist. Der Coffee-Kitchen-Talk ist super wichtig für das Wir-Gefühl. Schwierig über Teamspeak oder Zoom, oder?
Wenn das Wir-Gefühl passt, dürfen wir schließlich auf der vierten Stufe weitermachen. Sind unsere sozialen Bedürfnisse befriedigt, dürstet es uns Menschen nach Wertschätzung, Respekt und Anerkennung. Liebe Chefs, das altbekannte Motto “nicht getadelt ist doch schon gelobt” greift hier nicht! Im Gegenteil Wirklich schwer ist das doch auch nicht. Ein kleiner Anfang ist, dass die Chefs damit anfangen, ihre Mitarbeiter bewusst wahrzunehmen und das Wahrgenommene dann auch anzusprechen: “Ich habe heute mitbekommen, wie geduldig und strukturiert Sie vorhin mit dem Kunden am Telefon gesprochen haben. Das hat mir sehr gut gefallen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich selbst so ruhig geblieben wäre. Respekt!”. Kleines Konkretes Tool zum Üben: Steckt euch je nach Teamgröße ein bis vier Steinchen in die rechte Hosentasche. Bei jedem konkreten positiven Feedback dürft ihr ein Steinchen in die linke Hosentasche wandern lassen. Ziel ist es, dass am Ende des Tages alle Steinchen links sind. Es wird dazu führen, dass ihr eure Kollegen wohlwollend bewusst wahrnehmen. Eure Kollegen werden das als sehr positiv empfinden.
Stufe zwei, drei und vier fasst die von mir sehr geschätzte Harvard-Professorin Amy Edmondson als Psychological Safety zusammen, die Basis für das, was sie als Lernende Organisation bezeichnet. Ihr seht, es ist immer der gleiche alte Kram in neuen Kleidern. Den Menschen wird keiner neu erfinden. Der ist einfach so wie er ist und das ist auch gut so.
Gut, zurück zu Maslow: wenn ihr es geschafft habt, diese ersten vier Stufen als feste Basis zu implementieren, dann dürft ihr vorsichtig anfangen, an Ideen wie Agilität zu denken. Stufe fünf der Maslowschen Bedürfnispyramide ist schließlich die kreative Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentfaltung. Genau hierbei sollen agile Methoden oder Strukturen den Menschen unterstützen.
Ich persönlich finde Agilität äußerst spannend und faszinierend. Ich denke sogar darüber nach, auch noch mal eine Ausbildung zum agilen Coach zu machen. Aber ich glaube nicht, dass Agilität ein Allheilmittel ist. Es gibt einige wirklich großartige agile Methoden, die Menschen toll bei ihrer Arbeit unterstützen können, ihnen Struktur und Freiraum für Kreativität schaffen. Aber eine agile Transformation löst per se keine Probleme. Im Gegenteil: Wenn die Basis nicht passt, hat eine solche Transformation das Potenzial, sogar mehr Probleme zu schaffen, als zu lösen.
Über agile Mindsets, agile Strukturen und warum Menschen keine Computer sind
Allein wenn wir uns vor Augen führen, dass Agilität ursprünglich mal eine kluge Strategie zur Softwareentwicklung war, die plötzlich zur Managementmethode wurde, muss doch klar sein, dass man hier mit sehr offenem Geist und einiger Vorsicht zu Werke schreiten sollte, denn Menschen sind keine Softwareprogramme. Menschen sind deutlich komplexer. Die Grundidee von Agilität als Managementmethode ist, den Menschen Raum zu schaffen, sich eigenverantwortlich und selbstständig zu organisieren, um schließlich Höchstleistung zu erbringen. Bis hierher klatscht der Human Factors Trainer laut Beifall. Allerdings hat Agilität an dieser Stelle einen nicht unbedeutenden blinden Fleck: zwar sind Verantwortung und Mitgestaltung wichtige Komponenten für Zufriedenheit und Selbstverwirklichung (wir sind bei Stufe fünf!). Allerdings setzt Maslow hier voraus, dass der Mensch sein Maß an Verantwortung selbst wählen darf. Agilität zwingt zur Eigenverantwortung. Dieser Zwang kann leicht zu Verunsicherung führen, besonders bei all jenen, die eigentlich gar nicht so viel Verantwortung übernehmen möchten, die lieber einen Chef haben, der zwar sagt, wo es lang geht, der aber auch die Verantwortung dafür übernimmt. Zack bricht uns die Basis unserer Pyramide weg. Das war es dann auch erstmal mit kreativen Höchstleistungen.
Nun ist guter Rat teuer, denn wenn ich im Training letzte Woche mal wieder an eines sehr deutlich erinnert wurde, dann daran, dass Menschen unterschiedlich sind, unterschiedliche Bedürfnisse haben, was ja auch gut und richtig so ist. Nein, wir sind keine Computer oder berechenbare Softwaresysteme. Menschen sind komplex wie die Welt, die sie umgibt. Aus diesem Grund sind gerade in Strukturen, in denen man Führung auflöst, meiner Meinung nach ganz besonders die Führungskräfte gefragt. Gefragt ist eine neue Form der Führung, in der ich nicht mehr die abschließende Entscheidung treffe, oder sage in welche Richtung es geht. Viel mehr sind es meine Aufgaben, darauf zu achten, dass die Basisbedürfnisse meiner Mitarbeiter gestillt sind und dass ich diejenigen Mitarbeiter erkenne und unterstütze, die gar nicht so viel Verantwortung übernehmen möchten oder noch eine Extraportion Sicherheit benötigen, denn auch diese Mitarbeiter stellen sich häufig als besonders wertvolle Ressource für das Team heraus. Vielleicht ist man dann auf einem hybriden Weg unterwegs, was meiner Meinung nach jedoch viel agiler ist, als auf Teufel komm raus Strukturen um deren selbst Zweck einzuführen, um auf dem Papier agil, oder was auch immer zu sein. Man darf eben denn Sinn und Zweck seines Handelns nicht vergessen: es geht darum, den Menschen als Schlüssel zum Erfolg die bestmöglichen Voraussetzungen zu schaffen. Das geht eben nur über Maslows Pyramide und ganz unter uns, es gibt auch traditionell hierarchische Strukturen, die es schaffen, ihren Mitarbeitern genügend Raum für Eigenverantwortung und Selbstverwirklichung zu schaffen. Vielleicht hat man in diesen Strukturen ja auch ein agiles Mindset, ohne auf dem Papier agil zu sein.
Ich betrachte Wirtschaftsorganisationen gerne als lebendige Konstrukte, die komplex und einzigartig sind und die besonders flexiblen und besonders lebendigen unter ihnen schaffen es, innerhalb kürzester Zeit auf die sie umgebende Komplexität zu reagieren. Erfolg hat hierbei weniger mit den Organigrammen, sondern viel mehr mit der Unternehmenskultur zu tun. Wenn ein agiles Mindset das ist, was es braucht, um den Mut aufzubringen, seinen Mitarbeitern Raum zu geben und zu vertrauen und wenn es agile Methoden sind, die diesen Mitarbeitern den Rahmen für ihr Tun geben, ist das doch ganz wunderbar. Wenn Unternehmen zu diesem Zweck etwas anderes für sich gefunden haben, ist das genau so gut. Es ist der Mensch, der im Zentrum all unserer Mühen stehen sollte.
Das Kernthema meiner Schulung in der letzten Woche war übrigens “Komplexität managen”! Darum geht es, nicht mehr und nicht weniger. Und ich persönlich glaube, dass die Welt nach Corona vielleicht noch etwas komplexer und der Druck auf Unternehmen, um zu überleben, noch etwas größer werden wird. Aber Manager, die gebetsmühlenartig Horrorszenarien zeichnen, werden sich schwer tun, erfolgreich aus der Krise hervorzugehen. Vielmehr werden es diejenigen Unternehmen und Organisationen sein, die es, obwohl die Welt um sie grade im Chaos liegt, schaffen, ihren Mitarbeitern das Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit zu vermitteln.
Eure Constance