Manchmal reicht ein Wunder
Für Tristan
Ich weiß ja nicht, wie es dir in dieser Woche ergangen ist. Bei mir hat es durchwachsen angefangen. Dieser Corona-Wahnsinn fängt langsam aber sicher an, an meinen Nerven zu zerren. Ich habe keine Lust mehr! All meine Hoffnungen habe ich in die Impfungen gesteckt. Zwar ging mir das in Deutschland ohnehin alles viel zu langsam und übertrieben bürokratisch, aber ich habe entschieden, dass ich eben geduldig sein muss! So weit so gut und dann der Paukenschlag: Impfstop mit AstraZeneca! Wot? Ich geben zu, danach war ich echt frustriert, weil ich mich noch ein paar Monate länger im Homeoffice sitzen sah, weit weg von all den Menschen, die ich unbedingt brauche. Keine Cafés, Bars, Restaurants, Freunde, Urlaub…
Auch im Job geht es nur langsam vorwärts, in ganz, ganz kleinen Schritten. Das nervt, weil ich die diversen Visionen mit meinen Teams, meinem Jahresprojekt und meinen Workshops in den hellsten Farben vor meinem inneren Auge sehe, aber es ist so mühsam; winzig kleine Schritte. Dabei kann es mir ja meistens gar nicht schnell genug gehen. Kurzum: ich habe mich auf ganzer Linie ausgebremst gefühlt und hatte echt etwas Frust. Böse Welt!
Zum Glück reicht aber manchmal ein Wunder, um sofort wieder geerdet und positiv zu sein. Mein Wunder in dieser Woche heißt Tristan. Tristan ist der zweite Sohn von sehr engen Freunden, die bei uns im Prinzip Familienstatus genießen. Der kleine Mann erblickte vor eineinhalb Wochen das Licht der Welt. Aber nein, ich will jetzt nicht auf das Wunder der Geburt eingehen. Das überlasse ich anderen. Auch wenn ich als nicht-Mama es wahrscheinlich nie begreifen werde, wie es sein kann, dass aus diesem enormen Bauch einer Schwangeren ein fertiger, lebender , individueller Mensch kommt! Verrückt.
Wie das Wunder seinen Lauf nahm
Tristans Geburt hat mich an einen sonnigen Maitag vor einigen Jahren erinnert. Damals war sein großer Bruder etwa ein halbes Jahr alt und lag auf unserem Wohnzimmerboden, als plötzlich ein kleines Wunder geschah: das Baby begann zum ersten Mal in seinem Leben eigenständig vorwärts zu robben! Vier Erwachsene flippten total aus! Ein Wunder! Große Freude! Umarmungen! Lachen! Und natürlich haben wir feierlich darauf angestoßen! Dieses Kind musste ein Genie sein!
Objektiv betrachtet ist robben quasi nichts, wenn das Ziel Laufen, Springen, Rennen, Tanzen ist! Eigentlich ist robben ein Witz! Aber für ein Baby, das gerade erst gelernt hat, eigenständig den Kopf oben zu halten und in die Welt zu schauen, ist es das Beste, was es danach erreichen kann. Der nächste Schritt eben. Erwachsene spüren das glaube ich intuitiv. Diese Intuition führt schließlich zu einer Freude, die durchaus irritierend wirken kann, zumal diese Freude ja nicht mit dem Robben aufhört: Das erste volle Töpfchen: Party! Das erste Mal alleine gegessen: Party (auch wenn danach renoviert werden muss)! Das erste Mal Mama gesagt: Party! Es folgen Küchenschränke vollgehängt mit ausgesprochen fragwürdigen Kunstwerken… Und so weiter und so fort!
Was ich mich deshalb letzte Woche ernsthaft gefragt habe, ist, warum ich (und du vielleicht auch) bei Kindern die erste bin, die diese Minimalfortschritte voller Stolz feiert, für sich selbst jedoch in Anspruch nimmt, dass nur die ganz großen Sprünge das absolute Minimum sind. Anstatt mich zu freuen, dass es überhaupt Impfungen gegen Corona gibt und ich Test-sei-Dank an Ostern meine Schwiegereltern mal wiedersehen werde, ärger ich mich, dass nicht schon die Hälfte der Bevölkerung geimpft ist! Im Job ist es nicht viel anders: während meiner Einarbeitung musste und muss ich mich wirklich zusammenreißen, um mich über die kleinen Schritte, die ich Tag für Tag gehe zu freuen. Und trotzdem ertappe ich mich immer wieder dabei, mich darüber zu ärgere, dass ich nicht so routiniert und sicher unterwegs bin, wie meine Kollegen, die schon seit Jahren in der Bank arbeiten, die agile Transformation von Anfang an begleitet haben und alle Kollegen und Schnittstellen kennen. Ich weiß, das kann ich nach knapp drei Monaten nicht leisten, genauso wie Tristans großer Bruder mit einem halben Jahr unmöglich durch die Wohnung tanzen konnte! Aber wir Menschen setzen nun mal allzu oft ganz unterschiedliche Maßstäbe. Was bleibt ist jedoch die ebenso schöne wie frustrierende Erkenntnis, dass man eben am Anfang anfangen muss und den zweiten Schritt nicht vor dem ersten tun kann, egal wie lang deine Beine sind!
Kanban und die Disziplin, einen Schritt NACH dem anderen zu gehen
Während ich so vor mich hindenke, finde es immer wieder beeindruckend, dass viele agile Frameworks oder Methoden uns Menschen offensichtlich sehr gut verstehen und versuchen uns eine Hand zu reichen, um uns nach Möglichkeit davor zu bewahren, gleich mehrmals in die gleiche Falle zu tappen. Mal ganz ehrlich und nur unter uns: wie oft sind du und ich schon in diese Falle getappt, das Pferd von hinten aufzäumen zu wollen, den zweiten Schritt vor dem ersten zu gehen, aus Ungeduld oder inneren Anspruch zu viel gleichzeitig zu wollen? Das, was am Ende rauskam, war meistens nicht besonders optimal! Ausgerechnet in dieser Woche, in der ich aus Ungeduld am liebsten den dritten vor dem ersten Schritt gemacht hätte, in der es mir schwer gefallen ist, auch kleine Erfolge als das wertzuschätzen, was sie sind, nämlich Erfolge, kreuzte neben dem kleinen Wunder Tristan auch Kanban meinen Weg. Neben dem, was man bei Kanban sieht, nämlich beeindruckende bunte Boards, habe ich mich auch damit beschäftigt, was eigentlich hinter der Kanban-Idee steht. Was ist das Erfolgsgeheimnis dieser Methode? -Ein Schritt nach dem anderen gehen! Und nicht zu viel gleichzeitig! Sonst läuft man Gefahr zu stolpern oder sich zu verzetteln (bei Kanban ja sogar im wahrsten Sinne des Wortes!).
Was mich in Hinblick auf Kanban außerdem noch begeistert, ist, dass Kanban genau da anfängt, wo man geradesteht. Klar mag man sich nun fragen, wo denn auch sonst. Nun ja, wenn ich mir Scrum im Vergleich dazu anschaue, muss ich als aller erstes dies und das und jenes umbauen und umstrukturieren, um dann meinen ersten Scrum-Zyklus zu beginnen. Kanban entwickelt sich aus sich selbst heraus, in winzig kleinen Schritten. Es optimiert sich aus sich selbst heraus und wächst… Ganz so wie es auch der kleine Tristan sicher tun wird.
Aus dem Nähkästchen eines Agile Coachs
In der letzten Woche habe ich mit einem kleinen Workshop-Zyklus begonnen, der zum Ziel hat, dass eine ganze Einheit in der Lage ist, ihre Work in Progress Limits zu definieren, das heißt festzulegen, wie viele Aufgaben sie gemeinsam bewältigen können, um optimal ausgelastet zu sein und sich nicht wegen zu vieler Aufgaben zu überlasten oder zu verzetteln. Balance ist gefragt um einen optimalen Arbeitsfluss zu gewährleisten. Ich gebe zu, das ist eine ausgesprochen anspruchsvolle Aufgabe, vor der ich zunächst wirklich großen Respekt hatte. -Zumal ich kein ausgewiesener Kanban-Experte bin. Diese Work in Progress Limits sind für mich ein großes, leuchtendes Ideal perfekt umgesetzter Agilität. Das kann ganz schön einschüchternd sein und ich habe mich lang gefragt, wie ich dort hinkommen soll, bzw. meine Kunden dorthin führen soll. Genau das war aber die falsche Frage. Die richtige Frage muss sein, was ist mein erster Schritt hin zu diesen WiP Limits. Damit habe ich mir viel leichter getan, denn die Antwort war klar: um zu wissen was das Maximum sein könnte, muss ich erst einmal herausfinden, was die Kollegen momentan den lieben langen Tag tun. Das Spannende hierbei ist, dass wir Menschen (und da schließe ich mich explizit mit ein) viel zu oft abends fix und fertig von einem langen Arbeitstag auf der Couch sitzen und gar nicht wirklich sagen können, was wir gemacht haben, dass es aber irgendwie zu viel war, das spüren wir sehr deutlich. Also habe ich meine Reise hin zu den WiP Limits damit begonnen, meine Kollegen dazu aufzufordern, zwei Wochen lang kurz und knapp zu dokumentieren, was sie während des Arbeitstages tun, wieviel Zeit sie mit planbaren Aufgaben verbringen, wie viele Kapazitäten durch plötzlich auftauchende Störfeuer gebunden werden und alles das was sie sonst noch für relevant halten. Nach dem Workshop war ich recht zufrieden. Ein guter erster Schritt. Was bei der “Hausaufgabe”, die erstaunlich positiv aufgenommen wurde, herauskommen wird? Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, höchstens eine Idee oder Hoffnung! Was es aber definitiv sein wird, das sind Fakten und keine Vermutungen. Auf diese Fakten können wir Schritt zwei setzen. Und plötzlich bin ich irgendwie viel weniger ehrfürchtig vor diesen großen idealen WiP Limits! Einfach eins nach dem anderen.
Es zählt nicht wo die anderen laufen, sondern wo ich stehe
Ich weiß nicht, was Tristans großer Bruder sich damals gedacht hat, als er auf dem Boden lag und wir alle um ihn herumgelaufen sind. Was denken Babys? -”Verdammt, so werde ich mich sicher nie bewegen können?” -”Ich muss sofort aufstehen?” -”Ich kann nicht aufstehen, also lass ich das mit der Fortbewegung doch gleich ganz sein!” Keine Ahnung! Aber als er es zu ersten Mal geschafft hat, sich aus eigener Kraft auf sein rotes Holz-Auto zuzubewegen, wirkte der kleine Mann sehr glücklich! Im Prinzip wirkte er ähnlich glücklich wie ich, nachdem ich einen ersten winzig kleinen Schritt in Richtung WiP Limits gemacht habe. Tristans großer Bruder hat nicht nach uns Erwachsenen geschaut, sondern ist bei sich geblieben, bei deiner Ausgangssituation um den daraus resultierenden nächsten Schritt zu gehen.
Deshalb möchte ich diesen Artikel mit den weisen Worten des großen Konfuzius beenden:
In diesem Sinne wünsche ich dir und mir viele erste Schritte, aber auch Geduld und Nachsicht, vor allem mit uns selbst! Denn es ist nicht nur OK, sich in kleinen Schritten vorwärts zu bewegen. De Facto ist es die einzige Möglichkeit um auch wirklich vorwärts zu kommen! Und in den nächsten Jahren werde ich, wann immer ich Gefahr laufe, wieder zu viel zu wollen, einfach schauen, wie der kleine Tristan sich Schritt für Schritt seine Welt erobert. Die Evolution hat das alles schon ganz gut eingerichtet… Mal ganz ehrlich, alle die, die ständig auf dem riesigen Sprung sind, permanent damit beschäftigt, den ganz großen Wurf vorzubereiten, kommen die wirklich weiter, oder ist das nicht manchmal auch ganz viel Lärm um nichts?
Deine Constance