Führung, Führung, überall Führung
Mir fällt immer wieder auf, dass sich alle Welt (ich selbst eingeschlossen) permanent Gedanken um “gute” Führung macht. Unmengen von Büchern wurden darüber geschrieben, Modelle entwickelt und mit Leadership-Seminaren und Führungs-Coachings verdient eine ganze Industrie ihr Geld. Jeder hat eine Meinung dazu, wie eine gute Führungskraft sein muss.
Gefolgschaft? Was?
Hat sich von euch schon mal jemand Gedanken darüber gemacht, was denn guter Followership ist? Allein die deutsche Übersetzung fühlt sich irgendwie sperrig an: Gefolgschaft! Total unmodern! Und überhaupt, was soll an Gefolgschaft denn so schwer sein? Hinterherlaufen, nicht auffallen und schön machen, was der Chef sagt! Dann läufts, dann ist das gute Gefolgschaft. Da der Mensch evolutionshistorisch ein hierarchisch geprägtes Wesen ist, kann er das schon seit Millionen Jahren ziemlich gut. Das Problem, werte Leserschaft, ist jedoch, dass wir inzwischen nicht mehr in Höhlen wohnen, sondern uns in einem sehr komplexen Umfeld zurecht finden müssen. Das, was in den Höhlen unser Überleben gesichert hat, ist inzwischen weitestgehend kontraproduktiv geworden. Das Problem hierbei ist, dass die läppischen paar tausend Jahre mehr oder weniger moderner Zivilisation die Jahrmillionen Evolution nicht auslöschen können. Wenn wir Menschen nicht beibringen, wie gute Gefolgschaft oder guter Followership geht, dann machen Menschen das, was sich über Jahrmillionen bewährt hat, zum Teil mit fatalen Folgen. Wer meinen letzten Blog mitverfolgt hat, hat dort über einen Flugingenieur gelesen, der evolutionshistorisch betrachtet gerade zu perfekt gefolgt ist: Er ist dem Chef im übertragenem Sinne brav hinterher gelaufen. Um nicht weiter aufzufallen, hat er brav den Mund gehalten und vor allem hat er den Chef zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. All das hat irgendwann mal das Überleben der Menschheit gesichert. Aber am 27. März 1977 hat dieses ganz normal menschliche Verhalten auf einen Schlag 583 Menschen das Leben gekostet.
Warum Followership heutzutage ebenso komplex ist wie Leadership
Es ist also an der Zeit, umzudenken und den Menschen im Rahmen von Schulungen auf die Herausforderungen dieses modernen, schnellen Lebens vorzubereiten. Denn Fakt ist, die Evolution hat das nicht getan. Wir sind für ganz eindeutige Schwarz-Weiß-Situationen gemacht, für Gut und Böse, Freund und Feind. In einer Welt, in der die Übergänge inzwischen fließend sind, müssen wir tatsächlich ein wenig Energie darauf verwenden, uns neu zu orientieren. Dabei hilft uns diese unfassbare Black-Box, die wir als Gehirn bezeichnen. Mit schier unendlichen Kapazitäten ist unser Gehirn in der Lage immer weiter dazu zu lernen, durch Verständnis, Einsicht und gesammelten Erfahrungen. So wurden viele moderne Führungskräfte inzwischen zu recht kooperativen und umgänglichen Zeitgenossen. Der Mehrwert für sie selbst, die Unternehmen und ihre Mitarbeiter ist enorm. Man stelle sich den Mehrwert vor, wenn Unternehmen ihre Follower genauso auf ihre Rolle vorbereiten würden, wie sie es mit ihren Leadern tun?
Die von mir immer und immer und immer wieder zitierte Harvardprofessorin Amy C. Edmondson kam mal mit der These daher, dass kein Mensch morgens aufwache, aus dem Bett springe und zur Arbeit gehe, weil er es nicht abwarten könne, unwissend, inkompetent, aufdringlich und negativ zu wirken. Ich denke, damit hat sie recht. Keiner von uns will aus der Masse hervorstechen, schon gar nicht negativ. Immerhin waren es die, die aus der Masse hervor gestochen sind, die getötet oder gefressen wurden. In der Tierwelt sichern viele Beutetiere so noch immer noch das Überleben ihrer Art. Aber zurück zu Amy und uns, die wir alle nicht unwissend, inkompetent, aufdringlich und negativ wirken wollen. Lasst mich mal aufdröseln, was dieser nachvollziehbare menschliche Wunsch denn eigentlich bedeutet:
Was darf ich also auf keinen Fall tun, um dadurch nicht unwissend zu wirken? Erst selbst nachdenken, dann weiterlesen… Genau, bloß keine Fragen stellen. Schon in der Sesamstraße lernen Kinder weltweit “wer nicht fragt bleibt dumm”, was dann aber auch heißt: wer noch Fragen hat ist dumm!
Inkompetent: böses Wort! Was tun Menschen, die auf uns inkompetent wirken? - Auch bitte erst wieder selbst nachdenken - Schwächen zugeben! Auf keinen Fall! Macht das nicht. Das macht euch angreifbar und lässt euch inkompetent wirken.
Und was sollten wir tunlichst unterlassen, damit andere uns im Job nicht für aufdringlich halten? … Und? Ja, genau, die Schlaubi-Schlümpfe, die ständig das Rad neu erfinden wollen, weil sie permanent neue Ideen haben, die sind anstrengend, so wollen wir nicht sein! Also auf keinen Fall neue Ideen proaktiv anbieten.
Abschießend haben wir dann noch die Negativen! Was tun die, damit sie als negativ wahrgenommen werden und was sollte ich dann also auf keinen Fall tun? Ganz einfach: Kritisiere nie den Status Quo! Voll negativ!
Zack, und schon hat sich dieser Satz von Amy, den wir alle zunächst abnicken konnten, total relativiert, weil wir eben nicht mehr in Höhlen sitzen, sondern in höchst komplexen Umfeldern unterwegs sind, die einer allein gar nicht mehr überblicken kann. Um das Schiff trotzdem sicher durchs Packeis zu lenken, brauchen unsere Führungskräfte Menschen, die Fragen, wenn sie sich nicht sicher sind, die Schwächen zugeben, um so entweder ihren Stärken entsprechend eingesetzt werden zu können, oder weiterentwickelt werden. Alles zum Wohle und zum Erfolg des Teams und der Organisation. Außerdem brauchen Chefs Leute mit neuen Ideen, die auch den Mut haben, diese zu kommunizieren und Menschen, die den Status Quo nicht einfach so hinnehmen und dadurch zur permanenten Weiterentwicklung beitragen. So unglaublich wertvolle Qualitäten, die wir aber nicht von alleine abrufen können, weil die Evolution uns ursprünglich anders gepolt hat!
Die Verantwortung der Führungskräfte
“So so,” denkt sich also die gewiefte Führungskraft, “dann kaufe ich halt mal flott ein paar Workshops für meine Leute ein und alles wird gut!”. Hier muss ich leider enttäuschen! Denn Unternehmenskultur verspeist Workshops gerne mal zum Frühstück (Unternehmenskodexe und Strategien übrigens auch). Was das heißt? Klar ist es nicht schwer, allen Mitarbeitern das bislang Erzählte beizubringen. Aber nach der Schulung erwarten wir dann, dass diese Menschen das Gegenteil von dem tun, was irgendwann mal das Überleben der Menschheit gesichert hat. Unser Angsthirn begibt sich in solchen Situationen in Lebensgefahr, weil es nicht zwischen konkreter und abstrakter Gefahr unterscheiden kann. Das macht das Hirn nur mit, wenn sich der Mensch ansonsten absolut sicher fühlt. Diese Sicherheit können Führungskräfte und eine entsprechende Unternehmenskultur ihren Mitarbeitern geben. So lernt das Hirn mit der Zeit dann auch, dass Stop sagen, Fragen stellen, Schwächen zugeben und aus der grauen Masse hervorstechen doch nicht lebensgefährlich ist und es wird von mal zu mal einfacher.
Die Lehren der Geschichte
Ich sehe die “Gefolgschaft” applaudieren und sich entspannt zurücklehnen. “Dann sollen die Führungskräfte halt erstmal vorlegen und wenn ich mich dann sicher genug fühle, lege ich nach!” Aber so läuft es auch nicht liebe Nicht-Führungskräfte, denn Verantwortung tragen wir alle. Klar ist es einfacher, Veränderungen von oben her zu implementieren, aber wer sich mal die Geschichte anschaut und sich in Erinnerung ruft, wer die wirklich großen gesellschaftlichen Veränderungen bewirkt hat, war das dann doch immer das Fußvolk. Die Französische Revolution ist da nur ein Beispiel von vielen. Es braucht nur alles ganz viel Mut. Bezogen auf unseren holländischen Flugingenieur in Teneriffa hätte das bedeutet, dass, wenn er Verantwortung übernommen hätte, er nicht nur viele andere Menschenleben hätte retten können, sondern auch sein eigenes. Wenn das mal kein Grund ist!
Wer mich kennt, kennt meine Verbundenheit zu Südafrika und wer mich etwas besser kennt, weiß, dass ein Südafrikaner mich trotz all seiner Fehler und Unzulänglichkeiten besonders beeindruckt hat: Nelson Mandela, von Terroristen zum demokratisch gewählten Führer eines Landes im Umbruch. Diese großartigste Führungskraft seines Landes war ursprünglich auch nur Gefolgschaft. Die eigentliche große Führungspersönlichkeit des Widerstandes war der hier eher unbekannte Walter Sisulu. In seinem Schatten wurde Nelson Mandela zur besten Gefolgschaft, die Sisulu sich wahrscheinlich hätte wünschen können. Und als der Tag kam, an dem sich die Ära der Apartheid in Südafrika ihrem Ende zuneigte (übrigens auch eher weil es ein unbedingter Wille des Fußvolkes war, nicht der Mächtigen), entschied Sisulu, dass er zu alt war, um als erster schwarzer Präsident die Regenbogennation zu einen. Er überließ das Feld Mandela. Ob Mandela das überhaupt so wollte, das wurde er nie gefragt. Manchmal entwickeln sich die Dinge auf einzigartige Weise. In jedem Fall zeigt es, dass eine natürliche Wechselwirkung zwischen Leadership und Followership am Ende zu echter Teamwork wird.
Poesie am Sonntag Nachmittag
Am Tag seines Amtsantritts rezitierte Mandela im Rahmen seiner Rede ein Gedicht der Schriftstellerin Marianne Williamson, das in tausend mal schöneren Worten unser Angst aus der Masse hervor zu treten zusammenfasst, als ich es je könnte. Und weil man an Sonntagen meiner Ansicht nach auch immer ein bisschen Poesie gebrauchen kann, möchte ich diese Blog auch mit einem Auszug aus eben diesem Gedicht beschließen:
“Unsere Größte Angst ist nicht, dass wir ungenügend sind. Unsere größte Angst ist, über das Messbare hinaus kraftvoll zu sein. Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, die uns am meisten Angst macht. Wir fragen uns, wer bin ich, mich brillant, großartig, talentiert, phantastisch zu nennen?”
Ich wünsche Euch einen phantastischen Sonntag! Und seid brillant!
Eure Constance