Über die Verantwortung...

Über die Vorzüge der Entschleunigung

Ich weiß nicht wie es bei Euch aussieht, aber ich habe mich inzwischen in meinem neuen Corona-Alltag eingerichtet. Alles ist etwas achtsamer und entschleunigter. Ich gönne mir jeden Morgen einen Kaffee im Bett und überfliege dabei die Nachrichten des Tages. Eigentlich ist es ja momentan immer sehr ähnlich: Zahlen, Statistiken, immer die gleichen Fragen ohne wirkliche Antworten. Ich habe auch hier das Gefühl, dass die Welt sich deutlich langsamer dreht und es eigentlich nicht viel Neues gibt. Allerdings bin ich vor einigen Tagen an einer Überschrift hängen geblieben, die anders war und der Bericht lässt mich bis heute nicht mehr los.

Über die Eskalation im Lockdown

Am Abend des 31. März wird die 27 Jahre alte Medizinstudentin Lorena Quaranta in einem Vorort der sizilianischen Stadt Messina ermordet, ermordet von ihrem Lebensgefährten, im eigenen Zuhause, dort, wo man sich am sichersten fühlen sollte. Lorena wollte Gynäkologin werden. Ihre Abschlussprüfung sollte im Juli sein. Jetzt ist sie tot. Ihre Eltern und ihre Geschwister werden nie mehr ihre strahlenden braunen Augen sehen, sie nie mehr singen hören. Für sie ist Lorena sicher mehr als eine weitere Zahl, die in die Statistik zur häuslichen Gewalt eingeht. Für sie ist Lorena sicher mehr als ein Opfer.

Über die kalte Statistik

Gewalt gegen Frauen und Kinder beschäftigt mich schon immer. Berichte darüber machen mich sprachlos, hilflos und tief traurig. Die Zahlen darüber machen mich fassungslos. Seit 2015 liefert das Bundeskriminalamt statistische Auswertungen zur sogenannten Partnerschaftsgewalt. Diesen Zahlen folgend wird in Deutschland stündlich eine Frau von ihrem Partner verletzt, täglich kommt es zu einem Tötungsversuch und statistisch sterben fast drei Frauen pro Woche bei einem dieser Tötungsversuche. Im Jahr 2018 waren es 141. Nicht viel geringer ist die Zahl von Kindern, die durch häusliche Gewalt ihr Leben verlieren, die meisten von ihnen im Vorschulalter. Ähnlich wie bei Lorena verbergen sich hinter diesen Zahlen Menschen mit Gefühlen, Träumen, Wünschen, Talenten, denen nicht nur die körperliche Unversehrtheit genommen wird, sonder auch Würde, Selbstachtung und in den unbeschreiblichsten Fällen sogar ihr Leben.

Entsprechende Studien aus der chinesischen Provinz Wuhan legen nahe, dass die ohnehin schon gewaltbereiten Täter durch den zusätzlichen psychischen Druck der Krisen und den daraus resultierenden Maßnahmen noch gewaltbereiter sind. Fehlende soziale Kontakte und soziale Kontrolle führen außerdem offensichtlich dazu, dass Täter sich sicherer fühlen. Opfer, Frauen wie Kinder, sind den Tätern schutzlos ausgeliefert. Rund um die Uhr sind sie mit dem Peiniger in eine Wohnung gesperrt, permanente Kontrolle. Notrufnummern für Opfer häuslicher Gewalt beklagen einen eklatanten Rückgang an Anrufen. Klar, wie sollen die Opfer um Rat und Hilfe rufen, wenn der Täter permanent um sie herum ist. Ich habe Grund zur Annahme, dass die gegenwärtige Situation nicht nur zu mehr häuslicher Gewalt führt, sonder diese Form der Gewalt zusätzlich auch noch viel unsichtbarer ist, als sie es vor Corona ohnehin schon war.

Fragen über Fragen

Alles das hier niederschreibend frage ich mich natürlich auch, wo denn nun unsere Rolle liegt. -Wir, die wir weder Opfer noch Täter sind! Einmischen, oder doch besser raushalten?

Meine Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt begann vor einigen Jahren damit, dass ich mit meinem Co-Trainer ein Selbstschutzkonzept für Flugzeugbesatzungen entwickelt habe. Also eigentlich hat er es entwickelt. Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich absolut keine Ahnung wie man was in der Praxis tun kann, um sich effektiv zu schützen, wenn eine Deeskalation der Situation nicht mehr möglich ist. Das so entstandene Konzept schulen wir inzwischen nicht nur in der Luftfahrt, sondern auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens, wie Notaufnahmen, Rettungsdiensten, sozialen Einrichtungen und so weiter. Eigentlich ist es denkbar einfach! Da man niemanden in zwei Tagen zum versierten Kämpfer ausbilden kann, geht es im ersten Schritt darum, potenziell gefährliche Situationen im Vorfeld zu erkennen und ihnen nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen, bzw. vor einer körperlichen Eskalation zu deeskalieren. Sollte das nicht möglich sein, ist es im zweiten Schritt wichtig, Öffentlichkeit herzustellen, um Hilfe und Aufmerksamkeit zu rufen. Erst wenn das fehlschlägt, ist es an der Zeit, dem Angreifer gezielt einen Schmerzreiz zu setzen um sich dadurch ein Fluchtfenster zu erarbeiten.

Mit dem Aufkeimen der Diskussion um häusliche Gewalt und Corona wurde mir von vielen Seiten vorgeschlagen, hier einen Nutzen für Impuls heraus zu ziehen und Schulungen und Workshops für diese Opfer anzubieten. Ehrenwerte Idee. Allerdings ist davon auszugehen, dass die entsprechende Zielgruppe sich niemals zu einem solchen Workshop anmelden würde. Vielmehr würde eine Anmeldung das Ende ihres Daseins als Opfer markieren. Leider sind die emotionalen Zusammenhänge und Abhängigkeiten so komplex, dass wir mit einem Schulungsangebot an dieser Stelle machtlos sind.

Was können wir (und damit meine ich nicht nur meinen Co-Trainer und mich, sondern jeden Einzelnen) also tun, um am Ende des Tages nicht diejenigen zu sein, die in diesen unerträglichen Interviews in der Boulevardpresse schließlich erzählen, dass ja jeder in der Nachbarschaft mitbekommen habe, dass da was nicht stimme, dass jeder mitbekommen habe, dass sich sehr laut gestritten wurde und ja, das Kind wirkte verängstigt, die Frau hatte mit niemanden Kontakt…

Über die Verantwortung…

… die wir alle tragen: Es ist eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe, dass zu übernehmen, was mein Co-Trainer und ich den Opfern häuslicher Gewalt nicht beibringen können: Lasst uns potenziell gefährliche Situationen wahrnehmen, lasst uns hinschauen, anstatt wegzusehen, lasst uns bewusst hinhören, anstatt die Musik lauter zu drehen. Und lasst uns Öffentlichkeit schaffen! Lasst uns zeigen, dass wir wahrnehmen was passiert, lasst uns die Hilfe herbeirufen, die das Opfer selbst nicht herbeirufen kann. Das ist eine Verantwortung für unsere Mitmenschen, die so selbstverständlich sein sollte, wie es dieser Tage das Zuhause-Bleiben oder das Abstand-Halten sein sollte.

Ich weiß, man scheut den Anruf bei der Polizei. Man will ja niemanden ungerechtfertigt und ohne handfeste Beweise verdächtigen. Diesen Einwand habe ich auch immer wieder im Rahmen einer kleinen Workshop-Reihe zum Thema Menschenhandel in der Luftfahrt gehört. Und ich antworte hier, wie ich es damals immer wieder getan haben: Was passiert denn, wenn die Polizei feststellt, dass alles gut ist? Genau, es passiert NICHTS! Und wer den Anruf bei der Polizei scheut und eine zweite Meinung, oder Rückversicherung braucht, warum nicht bei einer dieser Beratungsnummern anrufen? Und mal ganz ehrlich, wie oft kommen wir realistisch gesehen in die Situation, Zeuge häuslicher Gewalt zu werden? Wie oft sind wir an dem Punkt, an dem der Bauch sagt, hier geht etwas weit über das Normale hinaus? Ich bin vierzig (Mist, jetzt habe ich es gesagt!) und ich kann mich an eine einzige Situation erinnern, in der ich eigentlich hätte zum Telefon greifen sollen. Warum ich es damals nicht getan habe? Es war mitten in der Nacht, ich wurde durch die Stimmen und Schreie nebenan geweckt, ich war überrumpelt und hatte keinen Plan. Tatsächlich habe ich mich bis zu diesem Zeitpunkt nie damit auseinandergesetzt, wie ich in einer solchen Situation agieren würde. Ich war wie in einer Art Schockzustand und am nächsten Morgen war ich froh, dass es “ihr” gut ging! Heute weiß ich was ich beim nächsten Mal tue und vielleicht nehmt ihr diese Zeilen zum Anlass, euch auch einen Plan zurecht zu legen und im richtigen Moment Verantwortung zu übernehmen.

Bleibt gesund!

Eure Constance

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Sei mutig

Übernehme Verantwortung