Winterkorn und der Eisberg der Ignoranz
“Dass ich erkenne was die Welt im Innersten zusammen hält…”
Diese weisen Worte der allumfassenden Neugier legte dereinst Johann Wolfgang von Goethe seinem tragischen Helden Faust in den Mund. Denke ich darüber nach, warum ich Coach oder Berater oder wie auch immer man das nennen mag, geworden bin, ist es genau das! Zunächst wollte ich wissen, warum der Mensch so ist, wie er ist, warum es an allen Ecken und Enden menschelt, egal wie sehr wir uns bemühen, professionell zu sein. -Was auch immer das ist! Erste Antworten fand ich im Human Factors Training. -Erst als Teilnehmer, schließlich als Trainer. Meine Erkenntnisse waren jedoch nur in Teilen befriedigend. Eines ist ganz klar, der Mensch wurde für ein eindeutiges, wenig komplexes Umfeld gemacht und unsere schöne neue Welt stellt den Urmenschen in uns zuweilen vor fast unlösbare Herausforderungen. Tja, ein paar läppische Jahrtausende vermeidliche Zivilisation ist nichts im Vergleich zur Evolution als Ganzes. Aber gut, da unser Gehirn alles in allem am Ende ja doch halbwegs kooperativ ist, habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die Menschheit sich hier noch etwas besser anpassen wird.
Darüber hinaus bin ich mit meiner Suche nach Erklärungen relativ schnell an meine Grenzen gestoßen. “No man is an island”, schrieb dereinst John Donne und genau das scheint das Problem und auch gleichzeitig die Lösung zu sein. Es liegt in der Natur des Menschen, sich in Gruppen zu organisieren, von je her. Es scheint das natürlichste überhaupt. Es gibt Stämme, Familien, Dörfer, Städte, Länder, Allianzen aus Ländern und natürlich auch Wirtschaftsorganisationen, also Gruppen von Menschen, die sich zusammengefunden haben, um gemeinsam besser oder erfolgreicher durchs Leben zu kommen. Diese Erkenntnis hat mich dazu bewogen, systemisch zu denken. Alles hängt zusammen und ich mag die Vorstellung, dass Organisationen eine Art lebendiger Organismus sind, der nur als Ganzes zu verstehen ist. Um zu verstehen, wie der Mensch funktioniert, muss ich verstehen in welchem System er sich bewegt. Um das System, oder die Organisation zu verstehen, muss ich wiederum den Menschen verstehen. Nicht dass ich meinen ganz persönlichen Stein der Weisen diesbezüglich schon gefunden hätte. Mit Nichten! Aber immerhin habe ich einen brauchbaren Ansatz für meine Suche.
Der Coach und die Organisation
So “studiere” ich nun seit Jahren alle möglichen Organisationsformen, angefangen von kleinen Teams, über ganze Abteilungen, bis hin zu kompletten Wirtschaftsorganisationen. Natürlich gibt es hier gewisse Gesetzmäßigkeiten. Eine Sache, die überall auftaucht, sind Hierarchien. Auch das scheint mir ein menschliches Grundbedürfnis zu sein. Diese Hierarchien sind sehr präsent und haben einen großen Einfluss auf den Erfolg oder den Misserfolg eines Teams. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal geschrieben haben, dass der Fisch für gewöhnlich immer vom Kopf her stinkt! Omas Sprüche sind und bleiben einfach wahr!
Eine Organisation, die über Jahre hinweg unfassbar erfolgreich gewesen zu sein scheint, war Volkswagen unter der Führung des großen Martin Winterkorn. Als Manager von altem Schlag hatte Winterkorn das Steuerrad fest in der Hand und navigierte den Konzern durch die unruhigsten Fahrwasser. Was es hierzu braucht, ist Entscheidungsfreudigkeit und natürlich auch die Fähigkeit, gute Entscheidungen zu treffen. Ich leite Gott lob keinen Weltkonzern, aber auch ich muss immer wieder Entscheidungen treffen und stelle an mir selbst fest, dass meine Entscheidungen besser werden, je mehr Fakten mir zur Verfügung stehen. Nun habe ich einen halbwegs passablen Überblick über meine kleine Organisation, die ich mein Leben nenne. Ich weiß nicht, wie gut Winterkorns Übersicht über seine Organisation, die wir alle unter dem Namen Volkswagen kennen, war. Irgendwo scheint der große Steuermann falsch abgebogen zu sein, ohne es zu merken. Der Erfolg seines Unternehmens stürzte plötzlich in sich zusammen, wie ein Kartenhaus. Ob Winterkorn überrascht war? Ich denke schon!
Über Macht und Verantwortung
Dieser Tage beginnt die gerichtliche Aufarbeitung der Causa Diesel-Gate. Die Topmanager müssen sich vor Gericht verantworten. Dem großen Steuermann Winterkorn ist es jedoch gelungen, einen OP-Termin günstig zu legen und sich dem Tamtam zunächst einmal zu entziehen. Wie ich das finde, dazu später mehr! Zum Glück ist das ja mein Blog und kein seriöser Journalismus. Dementsprechend fühle ich mich frei, meine Meinung zu teilen!
Was derartige Gerichtsverfahren klären sollen, ist die Schuld, oder die Verantwortung. Was mich ein wenig ärgert ist, dass Winterkorn offensichtlich keinerlei Verantwortung zu übernehmen gedenkt. Schuld seien seine Ingenieure, diese Kriminellen! Er habe ja noch nicht einmal etwas gewusst, oder geahnt. Welche Informationen genau in diesem legendären Aktenköfferchen gesteckt haben, das Winterkorn jeden Freitag mit Nachhause nahm, wissen wir nicht. Nehmen wir jedoch zu seinen Gunsten an, er habe tatsächlich nichts gewusst, ist er trotzdem verantwortlich?
Hier beginnt das systemische Denken. Ich spekuliere mal und unterstelle den verantwortlichen Ingenieuren einfach mal, dass sie nicht eines morgens aufgewacht sind, und auf dem Weg zur Arbeit plötzlich die Idee hatten, einmal etwas Illegales zu tun, weil das ja vielleicht cool sein könnte. Irgendetwas muss sie angetrieben haben. Böse Zungen behaupten, es sei die Unternehmenskultur gewesen, die keinen Widerspruch duldete. Geht nicht gab es nicht, sonst drohte Jobverlust! Als Winterkorn nun das aus einem technologischen Blick Unmögliche forderte, fühlten sich die Ingenieure derart unter Druck, dass sie aus Angst zu schummeln begannen. Erste Erfolge traten ein, keiner traute sich, die Umstände aufzuklären, die Eigendynamik wurde zu einer Lawine, die schließlich den großen Martin Winterkorn mit sich gerissen hat. Und ja, er war sicher überrascht. Er hatte es nicht kommen sehen. Er wusste von nichts! Und schuld an seiner Unwissenheit waren nicht die bösen Ingenieure, sondern die Unternehmenskultur, die der alte Herr als absoluter Alpha maßgeblich gestaltete.
Der Eisberg der Ignoranz
Bereits 1989 stellte Sydney Yoshida auf einem Symposium in Mexiko den sogenannten Eisberg der Ignoranz vor. Das spannende an Eisbergen ist sicher der Umstand, dass sie größtenteils im Verborgenen, unter der Wasseroberfläche, liegen. Yoshida hat beschrieben, dass dem Topmanagement für gewöhnlich nur etwa vier Prozent der zur Verfügung stehenden Fakten, bzw. der auf Arbeitsebene vorhandenen Problemen, bekannt sind. Der Rest liegt unter Wasser! Basierend auf diesen vier Prozent werden schließlich die großen strategischen Entscheidungen getroffen. Ganz ehrlich, das kann nicht gut gehen! Warum es die allermeisten Informationen nicht an die Spitze schaffen? Beantwortet es euch gerne selbst! Warum machen wir Dinge “chef-tauglich”? Das hat immer etwas mit der Unternehmenskultur zu tun, die maßgeblich von oben geprägt wird. In einem Klima der Unsicherheit, oder gar Angst, ziehe auch ich es vor zu schweigen, oder Probleme zu beschönigen! Man könnte meinen, dass dieser Umstand auch einem Herrn Winterkorn hätte bekannt sein können, zumal einige Jahre zuvor Nokia hieran fast zugrunde gegangen ist. Aber es schien ihm egal! Führung ohne Widerspruch ist einfach viel cooler und einfacher! So behaupte ich jetzt einfach ganz frech, dass Herr Winterkorn sich bewusst für den einfachen Weg entschieden hat. Kann man machen! Jeder Mensch ist frei in seiner Entscheidung. Ich finde jedoch auch, dass jeder die jeweiligen Konsequenzen tragen sollte. Das hat etwas mit eigenverantwortlichem Handeln zu tun! Und dass bei dem Schmerzensgeld, das ein VW Topmanager über die Jahre eingestrichen hat, die Fallhöhe eine andere ist, als bei einem einfachen Ingenieur, versteht sich vielleicht von allein. Natürlich möchte ich den Betrug dieser ausführenden Ingenieure keineswegs gutheißen, allerdings muss man in Betracht ziehen, dass sie vielleicht aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes keine andere Möglichkeit gesehen haben. “No man is an island!” Wir bewegen uns in einem komplexen System, das es uns manchmal leichter und manchmal eben schwerer macht. Für mich als Coach ist die primäre Aufgabe von Führung, es leichter zu machen! Ja, Führen ist unglaublich schwer. Ich finde es sogar beängstigend schwer! Strategische Entscheidungen zu treffen, die direkten Einfluss auf das Leben so vieler Menschen haben, ist der Wahnsinn. Müsste ich eine solchen Entscheidung treffen, würde ich sehr gerne alle Einflussfaktoren kennen, um bestmöglich agieren zu können. Ich würde mir wünschen, nicht alleine auf einem Eisberg zu sitzen. Ich würde an einer Kultur der Sicherheit, die die Harvard Professorin Amy C. Edmondson Psychological Safety nennt, arbeiten, hoffend, dass meine Mitarbeiter mir erzählen würde, was nicht läuft. Alles das, damit ich nicht irgendwann eine Überraschung erleben müsste, wie Martin Winterkorn, oder vor ihm Olli-Pakka Kallasvou, der unglückliche und ausgesprochen dominante Nokia-Boss, der nicht gemerkt hat, wie sein Unternehmen langsam zu Grunde ging, weil ihm alle aus Unsicherheit und Angst erzählten, dass alles selbstverständlich gut laufe!
Liebe Führungskräfte, fordert eure Leute heraus, seid kritisch und klar, aber gebt ihnen Gleichzeit das Gefühl, vertrauen zu können, offen sprechen zu dürfen, macht sie mutig und setzt euch mit ihnen auseinander, auch wenn diese “andere Art” der Führung leichter zu sein scheint. Ihr braucht die Augen und Ohren eurer Kollegen auf Arbeitsebene, um wirklich gute (strategische) Entscheidungen treffen zu können!
Was bleibt ist die Frage nach der Schuld…
Noch vor einigen Wochen sagte ich, wann immer man mal wieder auf der Suche danach war, wer denn Schuld habe, dass Schuld ein Ort in der Eifel sei… Alter Mediatoren-Witz! Das ist überholt und unangemessen geworden. Aber es bleibt dabei, dass es nicht um Schuld geht, sondern um Verantwortung! Ich bin kein Jurist, aber ich glaube, dass der Hauptgrund, warum Menschen, die die Karriereleiter immer weiter nach oben klettern, ihr zusätzliche Gehalt dafür bekommen, dass sie ein immer größeres Maß an Verantwortung tragen. Und das finde ich völlig gerechtfertigt. Es ärgert mich jedoch, wenn diese Damen und Herren an den Punkt kommen, an dem sie Verantwortung mit Macht verwechseln. In meiner Welt, in meiner inneren Ordnung von Moral und Ethik, wäre es eine Katastrophe, wenn ein Herr Winterkorn unbehelligt davonkommt, auch weil das ein fatales Zeichen für all diese ambitionierten Jung-Manager senden würde. Ich würde mich in tiefstem Respekt verneigen, würde Martin Winterkorn erklären, vollumfänglich verantwortlich zu sein und schließlich die Konsequenzen für sein Handeln tragen. Man kann nicht nur vom System profitieren und sich, wenn es eng wird, hinter Unwissenheit verstecken! -Also wenigstens nicht in meiner Welt! Aber wer bin ich schon und was weiß ich schon! Selbst Faust stellte fest, dass er nun hier stehe, er, armer Thor und sei dabei so klug als wie zu vor… Und wahrscheinlich muss auch ich noch sehr viel lernen, über Menschen, Systeme und Organisationen, eh ich wirklich anfange zu verstehen. Zum Glück kann ich heute damit beginnen!
Ich wünsche euch einen schönen Sonntag! Vergesst nicht, wählen zu gehen, auch wenn das für den ein oder anderen sicher keine einfache Entscheidung sein wird.
Eure Constance