impuls ratazzi nelles

View Original

Tag der Arbeit und der ewige Traum einer besseren Welt

Alle Jahre wieder - 1. Mai

Morgen ist 1. Mai, Tag der Arbeit und dem Himmel sei Dank, ich habe frei! Ausgerechnet am Tag der Arbeit wird in Deutschland nicht gearbeitet. Genau mein Humor! Seinen Ursprung hat dieser Feiertag übrigens in den USA. Dort haben am 1. Mai 1886 etwa 400.000 Arbeiter in mehreren Städten für die Einführung des Acht-Stunden-Tages gestreikt. So gesehen sollte ich für diesen freien Montag nicht dem Himmel, sondern den mutigen Arbeitern danken, die den 1. Mai in vielen Ländern zum Feiertag der Arbeiterbewegung gemacht haben. Interessant, wie weit sie zurück geht, die Beschäftigung mit Rahmenbedingungen für Arbeit. Aber was ist Arbeit überhaupt? In der Physik ist Arbeit die Energiemenge, die bei einem Vorgang umgesetzt wird. Für Volkswirte ist Arbeit einer der Produktionsfaktoren, während in der Betriebswirtschaftslehre plan- und zweckmäßige, innerbetriebliche Tätigkeiten von Arbeitspersonen als Arbeit bezeichnet werden. Die Sozialwissenschaften haben eine andere Herangehensweise. Hier ist Arbeit die zielbewusste, durch Institutionen begründete menschliche Tätigkeit und die Philosophie geht sogar noch einen Schritt weiter und beschreibt Arbeit als einen Prozess der bewussten schöpferischen Auseinandersetzung des Menschen.

Auch an dieser Stelle wird mir einmal mehr klar, dass ich weder Physikerin, noch Betriebs- oder Volkswirtin bin. Bei mir geht es um Ziel, Interaktion, Kreativität, Schöpfung, Purpose. Allerdings muss ich zugeben, dass mir die Definition der Physik durchaus gefällt. Arbeit ist etwas Energetisches, etwas Kraftvolles, etwas Aktives. Ich finde das passt gut als grober Rahmen. Denn seit diesem 1. Mai 1886 hat sich in der Wahrnehmung von Arbeit einiges verändert. Die klassischen Arbeiter, die aus körperlicher Arbeit heraus etwas kreieren, etwas produzieren, werden immer weniger. Und auch das gesellschaftliche Ansehen von klassischer Arbeit hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Geistige und kreative Arbeit ist allgegenwertig und es gibt Momente, in denen ich das Gefühl habe, dass es in unserer Welt nichts Produktiveres gibt, als das Kapital, das diejenigen, die darüber verfügen, für sich arbeiten lassen. Ja, es hat sich so einiges getan seit 1886. Was sich jedoch nicht verändert hat, ist die Frage nach den Arbeitsbedingungen und der Rolle des Manschens in der Wertschöpfungskette.

Resilienz und Vulnerabilität

Während sich 1886 Überarbeitung und Ausbeutung vor allem körperlich bemerkbar gemacht haben, ist das Bild von Überarbeitung und deren Auswirkungen anno 2023 deutlich abstrakter geworden. Seit Jahren nimmt der Anteil an Krankmeldungen aus psychischen Gründen stetig zu und doch sind Burnout, Depressionen und Co. gefühlt noch immer ein Tabuthema. Während ich Menschen beobachtet habe, die fast schon etwas stolz davon erzählten, wie sie sich im Skiurlaub den Oberschenkel zertrümmert habe, wie sie von der Bergrettung ausgeflogen wurden und wie viele Nägel und Platten und anderes Metall sie nun in ihrem Bein haben, habe ich auch Menschen getroffen, die ihre seelische Erkrankung versucht haben, bestmöglich zu verheimlichen, weil sie sich für ihr Burnout schämten. Sie schämten sich, weil sie sich im Job komplett überlastet haben! Alles für den Arbeitgeber und dann ab in die Klinik. Seelen brechen wie Oberschenkelhälse, wenn sie überlastet werden. Beide brauchen Zeit zum heilen und wahrscheinlich sind all jene , die sich bei dieser oder jener Tätigkeit einen Knochen gebrochen haben danach etwas vorsichtiger. Aber sind wir das auch im Job, wenn unsere Seele uns die gelbe oder rote Karte zeigt? Ich kenne Menschen die einen, zwei, drei stressbedingte Hörstürze hatten und einfach weiter gemacht haben, weil sie selbst oder andere es von ihnen erwartet haben. So wie die Arbeiter 1886 dafür gekämpft haben, die körperlichen Belastungen ihrer Arbeit auf ein akzeptables Maß zu reduzieren, so beginnt momentan zaghaft der schon längst überfällige Kampf der modernen Arbeiterschaft für emotional akzeptable Rahmenbedingungen. Denn auch ein “Bandscheibenvorfall der Seele” ist durch kein Gehalt der Welt gerechtfertigt.

Die dunkle Seite von Agilität und New Work

Wie kann es nun also sein, dass wir Unternehmen verändern, agil transformieren, Menschen mehr Gestaltungsraum schenken, mehr Eigenverantwortung und mehr Autonomie und Menschen werden offensichtlich vor genau diesem Hintergrund emotional immer stärker belastet? Wie um alles in der Welt kann mehr Freiraum und mehr Autonomie zu mehr Burnouts führen? Warum gelingt es diesen ach so freien Menschen nicht, besser auf sich zu achten? Ist der Mensch vielleicht doch nicht reif für New Work? Alles absolut berechtigte Fragen.

Zum Tag der Arbeit habe ich mir wieder einmal Frederic Lalouxs Buch “Reinventing Organizations” hervorgeholt. -Meine Bibel einer besseren Welt. Seitdem das Buch vor guten sieben Jahren auf den Markt kam, haben mehr und mehr Unternehmen die (agile) Transformation gewagt, haben ihre Arbeitsmodelle hinterfragt, verändert, Entscheidungsfindungsprozesse dezentralisiert und ihren Mitarbeitenden mehr Freiraum geschenkt. Was jedoch augenscheinlich nicht hinterher kommt ist der tatsächliche kulturelle Wandel. Die Idee der New Work auch so wie sie Laloux beschreibt, setzt ein bestimmtes Menschenbild als Basis für funktionierende „New Work-Strukturen” voraus.

New Work, Agilität und Co. gehen von leistungsbereiten, engagierten, eigenmotivierten Menschen aus. Sie gehen davon aus, dass Menschen den Raum ausfüllen, der ihnen gegeben wird, aus Überzeugung und Eigenmotivation. Die “alte Welt” ging eher davon aus, dass Menschen von außen motiviert werden müssen, wechselwirksam mit Druck und Anreizen. Der Chef sollte am besten hinterm Esel stehen, ihn mit der Peitsche antreiben und gleichzeitig mit einer Angel die Karotte vor die Nase halten, damit er möglichst schnell und weit läuft. Ohne Motivation von außen keine Bewegung. Dass der Esel laufen könnte, weil er Spaß am Laufen hat oder Sinn im Laufen sieht oder gar gerne mit dem Kutscher zusammenarbeitet weil er ihm vertraut, war undenkbar.

Agilität als Burnout-Falle

Ich weiß nicht wie es euch geht, aber ich finde mich eindeutig in Lalouxs Menschenbild wieder und auch die allermeisten Menschen die ich beruflich und privat erleben, erlebe ich als ausgesprochen eigenmotiviert. -Eigentlich genau die richtigen Menschen für diese modernen neuen Arbeitsmodelle! Aber was passiert mit diesen Menschen, wenn ihr neues Arbeitsmodell in der Kultur und dem Menschenbild der alten Welt festhängt? - Sie schnappen sich eigenverantwortlich Aufgaben, übernehmen Verantwortung und treiben Themen nach allen verfügbaren Kräften voran. Sie geben 100 Prozent und legen noch eine extra Schippe drauf, weil sie der neue Freiraum zusätzlich motiviert. Gleichzeitig steht der Chef mit der Peitsche hinter ihnen, weil er ja davon ausgehen muss, dass man Menschen stets zusätzlich antreiben muss, Druck ausüben muss und vor ihnen hängen bergeweise Karotten in Form von Incentives. So läuft sich das Eselchen irgendwann tot, weil es sich permanent selbst überholt.

Natürlich gibt es Menschen mit unterschiedlich stark ausgeprägter intrinsischer Motivation und ganz sicher gibt es auch einen gewissen Prozentsatz an Menschen, die keine besonders große Lust auf Leistung haben. Die alte Welt hat sich an dieser Minderheit orientiert und alle Strukturen sowie auch ihr Menschenbild nach ihnen ausgerichtet. In den eng gefassten Arbeitsstrukturen 1886 war das ganz sicher OK, weil diejenigen, die stark intrinsisch motiviert waren, auf Grund der Strukturen weitaus weniger gefährdet waren, in eine Überlastung zu gehen. Orientieren wir uns auch in den neuen Strukturen unserer Arbeitswelt weiterhin an dieser Minderheit brechen uns Stück für Stück die Hauptleistungsträger, die Kreativen, intrinsisch Motivierten weg, weil sie sich selbst überholen und darüber ins Straucheln geraten. So kann Agilität zu einer Art Katalysator für Burnout werden.

Und jetzt?

In Anbetracht der Kosten, die psychische Erkrankungen Jahr für Jahr mit steigender Tendenz verursachen ist guter Rat absolut nicht teuer. Liebe Unternehmen, macht euch Gedanken darüber, welches Menschenbild euren bunten Codes of Conduct zu Grunde liegt. Liebe Chefs, hinterfragt euch vielleicht einmal ganz kurz selbstkritisch welches Menschbild in euren Köpfen vorherrscht und ob dieses noch zeitgemäß ist. Vielleicht überlegt der ein oder andere sogar, an seinem Menschenbild zu arbeiten. Liebe HRler, braucht es wirklich noch diese Karotten, die wir Menschen vor die Nase halten? Liebe alle, traut euch die Ideen von Vier-Tage-Wochen einmal mitzudenken, ohne Neid und ohne Wenn und Aber.

Seit 1886 hat sich eine Menge getan und ich bin zuversichtlich, dass sich unsere Arbeitswelt auch weiterhin verändern wird. Ich gebe den Traum von der besseren Welt nicht auf, weil ich sicher bin, dass auch diese Welt erfolgreich und produktiv sein wird. Diese neue Welt ist zentrales Thema meiner bewussten schöpferischen Auseinandersetzung. Tagtäglich mache ich mir Gedanken, welchen Beitrag ich leisten kann, um das Drumherum zu gestalten und Kultur zu verändern. Im philosophischen Sinne ist dieser Traum meine Arbeit und tief in mir drin ist dieser Traum auch mein Purpose.

Habt einen schönen Sonntag und einen ebenso schönen Tag der Arbeit.

Eure Constance