Servant Leader: Neuer Stern am Business-Himmel, oder olle Kammelle in neuem Kleidchen?
Für Katja
Mit das Spannendste am schreiben dieser allwöchentlichen Blog-Beiträge rund um das Thema Human Factor ist für mich interessanterweise die Themenfindung. Meine Themen finden mich auf allen möglichen Kanälen. Dieses, der Servant Leader, hat mich während einer Weinwanderung gefunden. Mit meiner lieben Freundin Katja habe ich bei bestem Wetter erörtert, wie man Menschen beibringt, Servant Leader zu sein. Die bedeutendste Frage aus der Perspektive eines Human Factors Trainer hierbei ist, ob man das Menschen überhaupt explizit beibringen muss. Ist der Chef, dem es gelingt, sein gesamtes Team zu Höchstleistungen anzuspornen, nicht immer “dienend”, weil ein Team nur Höchstleistung erbringt, wenn es auch die entsprechende Unterstützung erfährt?
Von Friedrich dem Großen zu agilen Mindsets
Was mich gelegentlich zum Lachen bringt, manchmal aber auch irgendwie wütend macht, ist der Umstand, dass es sehr eifrige Zeitgenossen gibt, die banalen Dingen, die es schon immer gab, extrem coole, neue Namen geben, sie mystifiziert, ein hoch komplexes Buch darüber schreiben und ihr “neues” System, das natürlich unabdingbar für eine erfolgreiche Organisation ist, mit einer tollen Marketing-Strategie für viel Geld verkaufen. Wie auch immer, dieser Servant Leader, oder die dienende Führung, ist keine neue Erfindung, auch wenn kluge Marketing-Strategen uns das unbedingt glauben lassen wollen. Einer der Ersten, der die Idee der dienenden Führung beschrieben hat, war kein geringerer, als Friedrich der Große. Es sollte hinlänglich bekannt sein, dass dieser kluge Mann lange vor der Erfindung agiler Unternehmensstrukturen gelebt hat. Ich zitiere ihn mal: “Der Herrscher ist der erste Diener des Staates. Er wird gut besoldet, damit er die Würde seines Standes aufrechterhalte. Man fordert aber von ihm, dass er werktätig für das Wohl des Staates arbeite und (…) die Hauptgeschäfte mit Sorgfalt leite.” Eingangsfrage beantwortet: Servant Leadership ist ne olle Kamelle! Aber sei’s drum, Jahre später hat Robert Greenleaf das Ganze aufgegriffen und als Ansatz in der Führungsforschung etabliert. Das geschah übrigens schon 1970, also knapp nach Friedrich dem Großen und kurz vor agilen Mindsets! Die dienende Führung beschreibt das Wirken von Führungskräften als Dienst am gesamten Team, der Abteilung, dem Unternehmen und stellt den Gegensatz zur beherrschenden Führung dar.
Und dann kam auch noch Hermann Hesse
Interessanterweise hat Robert Greenleaf seine Theorien auch nicht aus der hohlen Hand heraus entwickelt. Seine Geistesblitze hatte Greenleaf während der Lektüre von Herrmann Hesses Morgenlandfahrt, eine Erzählung mit deutlich autobiografischen Charakter. Die Geschichte handelt von einer Reise des jungen Violinenspielers H.H. Diese Reise H.H.s ist metaphorisch als die Suche nach dem Ideal, dem Streben nach sittlicher Reife und Spiritualität zu verstehen. Natürlich muss er das ein oder andere Abenteuer bestehen und am Ende steht die Erkenntnis, dass, wer diene lebendiger ist. Wer herrschen wolle, sei statisch, unbeweglich und lebe nicht lange. Ich halte es für übertrieben, dass herrschende Führungskräfte, die vor allem Macht ausüben, früher sterben. Aber sie töten ihre Organisation. Denn Lebendigkeit bedeutet Beweglichkeit und beweglich (oder sollte ich besser sagen flexibel) müssen Organisationen heutzutage sein, um Erfolg zu haben.
Aber jetzt mal Butter bei die Fische…
Jetzt aber genug Geschichte und Literatur. Um zu verstehen, was dienende Führung ist, schauen wir uns erstmal kurz das Gegenteil davon an: die beherrschende Führung. Nach diesem Führungsverständnis besteht der Zweck von Führung in der Verhaltensbeeinflussung von Menschen zur Zielerreichung. Das setzt eine Asymmetrie zwischen Führendem und Geführtem voraus, die als Hierarchie wahrgenommen wird. Außerdem setzt diese Form der Führung voraus, dass der Führende am besten weiß, wo es wie entlang geht. Herrschende Führung sollte also höchst kompetent, am besten allwissend sein! Das Problem hierbei ist, dass es verdammt viele Menschen gibt, die sich zwar für allwissend halten, ich habe aber noch keinen getroffen, der es tatsächlich ist. ”Ich weiß, dass ich nichts weiß” ist in diesem Zusammenhang noch immer die Erkenntnis der Stunde. Tja, Sokrates wäre wahrscheinlich auch ein Servant Leader gewesen! Auf jeden Fall ist ausgerechnet er, bekennend unwissend, als einer der ganz großen Denker in die Geschichte eingegangen. Das zeigt mir sehr deutlich, dass man gar nicht allwissend sein muss, um großartig zu sein.
Von Sokrates zur Luftfahrt
Während Sokrates nun also wusste, dass er nichts wusste, stellte die Luftfahrt nach dem fatalen Flugzeugunglück in Teneriffa 1977 zunehmend fest, dass man gar nicht alles wissen kann, unmöglich (mehr zum Unglück von Teneriffa hier)! Man erkannte immer deutlicher, dass es nicht die großartige Leistung einzelner, unfehlbarer Flugzeugkapitäne ist, die Menschen gesund und munter von A nach B bringen, sondern die Leistung der gesamten Besatzung. Diese Erkenntnis war die Geburtsstunde des Human Factors- oder Crew Ressource Managementtrainings, dass Kapitäne schließlich zu Teammanagern machte, die sich bewusst darüber wurden, wie wertvoll ihre Crew für sie und ihren Erfolg ist. Man könnte auch sagen, sie haben verstanden, dass sie ohne ihre Crew, ihr Team, nichts sind, wirkungslos. Wer zu dieser Erkenntnis gelangt, wird schon aus ur-eigenstem Interesse zu einem dienenden Leader, ohne jemals zu einem Servant Leader ausgebildet worden zu sein.
Servant Leadership, endlich!
Die Philosophie des Servant Leaderships stellt als aller erstes die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Führenden und Geführten dar, wobei es vor allem die Führungskräfte sind, die ihre Teamkollegen oder Mitarbeiter als wertvolle Ressource wahrnehmen und verstehen. Aus Perspektive der Führenden stellt sich die Frage, wie man andere führen kann, damit sie sich weiterentwickeln und ihr volles Potenzial entfalten können, um so einen größt- oder bestmöglichen Beitrag zur Realisierung der gemeinschaftlichen Ziele zu leisten. Ob das Ziel nun, wie in der Luftfahrt, lebend anzukommen ist, oder ob es um die Entwicklung eines Produkts oder um eine Dienstleistung geht, ist egal. Die Erfolgsfaktoren auf menschlicher Ebene sind immer die gleichen.
Wenn ich Menschen nun also beibringen möchte, Servant Leader zu sein, muss ich sie zunächst den Wert ihrer Mitarbeiter erkennen lassen und parallel dazu ihre eigenen Grenzen. Im zweiten Schritt muss ich Servant Leader beibringen, wie sie dafür sorgen, dass ihre Mitarbeiter sich sicher genug fühlen, um sich frei zu entfalten. Die von der hochgeschätzten und regelmäßig von mir zitierten Harvard-Professorin Amy Edmondson beschriebene Psychological Safety ist die Basis für Kreativität und Höchstleistung. Die Gretchenfrage ist natürlich immer, wie man dafür sorgt, dass seine Leute sich sicher fühlen (und mit diesen Gedanken ist man im Prinzip schon ein Servant Leader!). Die Erfahrung zeigt, dass Menschen zwei Dinge brauchen, um sich sicher zu fühlen: sie dürfen keine Angst vor Fehlern haben und sie müssen wissen, woran sie sind. Ergo muss ich Feedback geben und eine Fehlerkultur implementieren, die Fehler als systemimmanent betrachtet und sie nicht negativ bewertet, sondern als Möglichkeit sieht, sich, die Organisation, das Produkt weiterzuentwickeln. Durch ein entsprechendes Fehlermanagement und eine funktionierende Feedbackkultur entsteht ein Regelkreis der Systemerneuerung, der wiederum zu einer Systemstabilisierung führt. Amy Edmondson nennt das übrigens Lernende Organisation, die sich wie ein lebendiger Organismus aus sich selbst heraus stetig weiterentwickelt und flexibel an neue Bedingungen anpasst. Wir drehen uns im Kreis und sind wieder bei Hesse und der Lebendigkeit!
Die Voraussetzung für das Gelingen einer dienenden Führung ist folglich natürlich eine hochgradig offene Organisations- oder Unternehmenskultur, sonst klappt das nicht mit Feedback- und Fehlerkultur. Ich gebe zu, dass es Führungskräften immer schwerer fällt, sich zu orientieren und sich ihrer eigenen Daseinsberechtigung bewusst zu sein, je offener eine Organisationskultur ist. Und ja, eine agile Transformation ist besonders für Führungskräfte ein einschneidendes Ereignis, werden sie doch subjektiv empfunden ein Stück weit ihres Status beraubt und fragen sich vielleicht, was denn nun ihre Aufgabe sei. Diesen Führungskräften bringe ich aber nicht bei, was Servant Leadership ist (zumal sie sicher intelligent genug sind, das in Büchern nachzulesen). Viel mehr muss ich ihnen darstellen, dass ihr Team sie weiterhin braucht. Ein Individualisierung von Führung ergibt sich auch in agilen Strukturen aus einer ungebrochenen Wertedynamik, aus der Unterschiedlichkeit der Teammitglieder, aus den unterschiedlichen Motiven der Menschen, die geführt werden sollen, oder oft sogar geführt werden wollen. Die Notwendigkeit von Führung ergibt sich aus dem unterschiedlichen Wollen, Können, Sollen und Dürfen der Teammitglieder. Besonders heterogene Teams sind interessanterweise auch die besonders leistungsfähigen Teams. Und die Unterschiedlichkeit, dieser Komplexität des menschlichen Miteinanders gilt es wahrzunehmen und zu mangen. Das ist eine große Aufgabe, die eine der Grundvoraussetzungen für Hochleistungsteams darstellt. Das haben schon die Herren Pawlowsky und Steigenberger im Rahmen ihrere mit der TU-Chemnitz erarbeiteten H!PE-Formel, einer Formel für High-Performance, herausgestellt. Ohne Führung keine Höchstleistung liebe Führungskräfte! Man braucht euch, aber man braucht euch als Menschen, die den Wert ihres Teams kennen und fördern, weil sie sich ihrere eigenen Grenzen bewusst sind!
Haben die Führungskräfte schließlich das Warum verstanden, ist es sinnvoll, ihnen darzustellen, welchen Nutzen sie von dieser Form der Führung haben, einer Führung, die ihr Team konsequent in den Mittelpunkt rückt. Eigentlich liegt der Benefit ganz klar auf der Hand: Erfolg! Da Erfolg an sich jedoch recht abstrakt ist, arbeite ich gerne mit Fallbeispielen von ausgesprochen guten Führungskräften, die durch ihre Art zu Führen erfolgreich waren. Da ich meine Wurzeln in der Luftfahrt habe und die Luftfahrt seit vielen Jahren durch entsprechende Schulungen bewusst diese Form der Führung, die das Team als Ressource betrachtet, fördert, nutze ich auch gerne Beispiele aus der Luftfahrt. In der Luftfahrt nennen wir das übrigens total platt und unspektakulär flache Hierarchie! All jene von euch, die meinem Blog regelmäßig folgen, können sich vielleicht noch an zwei ganz besondere Kapitäne erinnern: den kürzlich verstorbenen US-Amerikaner Al Haynes und den Australier Richard De Crespigny, die beide in fast aussichtslosen Situationen Menschenleben gerettet haben. Dies gelang ihnen nicht, weil sie überdurchschnittliche Super-Piloten waren, sondern weil sie sich darüber bewusst waren, dass ihr größter Trumpf ihre Crew-Mitglieder waren. Außerdem waren beide auf wunderbare Art und Weise bescheiden und sich wie Sokrates bewusst darüber, dass ihr eigenes Wissen und Können begrenzt ist. Wer sich nicht mehr an die beiden erinnern kann, findet hier den Link zum Artikel.
Und jetzt?
Tja Katja, und jetzt? Wahrscheinlich bist du im Hinblick auf diesen Workshop auch nicht klüger als vorher… Servant Leader werden eben nicht ausgebildet, sondern sie entwickeln sich aus sich selbst heraus. Natürlich kann ich diesen Prozess mit einem guten Konzept zur Führungskräfteentwicklung unterstützen, indem ich zur Selbstreflexion anrege oder anleite. Machen wir ja auch in der Luftfahrt sehr konsequent. Aber Menschen, die die Wertigkeit und die Bedeutung ihres Teams nicht erkennen wollen, werden selbst mit den besten Schulungen nicht zu Servant Leader, währenddessen Menschen, die die Wertigkeit anderer Menschen erkennen und wahrnehmen auch ohne jeden Workshop zu Servant Leadern werden. Hier muss man ansetzen! Friedrich der Große hat einfach so eine kleine Kulturrevolution angezettelt, weil er den Wert seines Volkes erkannt hat. Er hat einfach so verstanden, dass es dem Staat (also quasi seiner Organisation) nützlich ist, wenn auch Bauern lesen und schreiben können. Deshalb hat er Geld in die Hand genommen und das Bildungssystem ausgebaut. Er hätte sich ja auch ein neues größeres Schloss kaufen können um seine Macht noch deutlicher zu manifestieren…
Und ihr so? Schloss und Macht oder Schulen und Verantwortung?
Eure Constance