Die Physiologie der Angst und das große Missverständnis der Mächtigen
Angst macht stark
Angst verleiht uns Bären-Kräfte, lässt uns schneller rennen und uns über uns selbst hinauswachsen, sie lässt uns blitzschnell entscheiden, weniger Schmerzen spüren und so weiter und so fort. So gesehen müsste Angst doch etwas gutes sein, so gut, dass es Manager und sogar Staatschefs gibt, die dem Glauben unterliegen, ihre Leute über Angst zu Höchstleistung anspornen zu können. -Eines der, wie ich finde, größten Missverständnisse der Evolution. Aber mal von vorne…
Angst ist uns vor allem als abstraktes Gefühl bekannt. Was vielen Menschen nicht bewusst ist, ist dass hinter diesem abstrakten Gefühl klar messbare physiologische Vorgänge stecken, deren evolutionshistorischer Ursprung darin begründet liegt, das Überleben unserer Art zu sichern. Also im Kern war Angst dann doch irgendwie etwas Positives.
Die Physiologie der Angst
Schauen wir uns mal an, wie Angst in unserem Körper entsteht: Zunächst nehmen unsere Sinnesorgane etwas wahr, das unsere Großhirnrinde, der modernste Teil unseres Gehirns, entsprechend unserer Erfahrungen interpretiert. Im Falle der Angst interpretiert unsere Großhirnrinde das Wahrgenommene als (lebens-)gefährlich. Diese Gefahrenmeldung geht sofort an unser Gefühlshirn, das Limbische System. Die dort ansässige Amygdala, unser Angshirn, sorgt in Zusammenarbeit mit dem Hippocampus dafür, dass der Hypothalamus Stresshormone ausschüttet (Adrenalin, Noradrenalin, Kortison und Kortisol). In Gefahrensituationen, in denen eine Blitzreaktion zum Überleben notwendig ist, macht das die fürsorgliche Amygdala auch gerne mal, ohne vorher mit der Großhirnrinde, dem rationalen Teil unseres Gehirns, Rücksprache zu halten. Das ist sehr oft sehr hilfreich, führt in unserem modernen Leben aber auch häufig zu ziemlich komischen Situationen.
Aber zurück zum Hypothalamus und seinen Hormonen: Diese Bewirken schließlich, dass unser Herz schneller schlägt, der Blutdruck steigt, die Muskulatur stärker durchblutet wird und das sogar mit einem nährstoffhaltigerem Blut, unsere Pupillen werden weiter, die Körpertemperatur steigt und unsere gesamte Aufmerksamkeit ist auf die Gefahr gerichtet. Sinn und Zweck der ganzen Übung ist, dass unser Körper für einen gewissen Moment besonders leistungsfähig ist, um wahlweise besser kämpfen, oder schneller flüchten zu können. Hierbei ist es sogar Teil der körpereigenen Überlebensstrategie, dass dieser Hormoncocktail bewirkt, dass unser Blut dickflüssiger wird. So verlieren wir im Falle einer Verletzung weniger Blut, ist ja dickflüssiger, was die Wahrscheinlichkeit zu überleben erhöht. Wahnsinn dieser Körper, oder?
Wann immer ich mich mit dem menschlichen Gehirn und damit verbundenen körperlichen Reaktionen beschäftige, passieren bei mit zwei Dinge: ersten werde ich ziemlich demütig vor der Evolution, Schöpfung oder wie auch immer man das nennen mag und zweitens wird mir wieder und wieder bewusst, wie großartig der Mensch ist, aber dass er mit seinen natürlichen oder instinktiven Reaktionen nicht für ein Leben in dieser modernen Welt gemacht ist. Mit dem Zeitalter der Industrialisierung hat das Leben uns irgendwie überholt. Deshalb braucht es Human Factors Training, um hier nachzujustieren.
Das große Missverständnis
Jetzt aber mal zu diesem Missverständnis der Mächtigen, die glauben, über Angst Menschen zum einen besser kontrollieren und zum anderen zu Höchstleistungen anspornen zu können. Ja, funktioniert! Funktioniert sogar sehr gut, wenn die Höchstleistung, die man benötigt, besonders schnelles kopfloses Rennen, Schmerzunempfindlichkeit oder eine besonders hohe Schlagkraft ist! Ich frage mich gerade in welchen Teilen der modernen Arbeitswelt das von herausragender Wichtigkeit ist… Und zum Thema bessere Kontrolle: schon mal eine Gruppe ängstlicher Schafe kontrolliert? Geht gut, bis das erste drauf losrennt!
Wir sollten uns an dieser Stelle lieber nochmal anschauen, was mit uns Menschen im Zusand der Angst noch so alles passiert. Wenn unser Angsthirn so richtig Gas gibt und so richtig viele Stresshormone ausgeschüttet werden, passiert nämlich noch viel mehr. Als allererstes verändert sich unsere Wahrnehmung. Wir sind fast ausschließlich auf das fokussiert, was uns Angst macht und da unser Gehirn sehr fürsorglich ist, schaltet es das seiner Meinung nach für uns unwichtigste Sinnesorgan erstmal ab. Wir hören nicht mehr richtig und merken das noch nicht einmal! Ferner wird auch unser moderner rationaler Gehirnteil, die Großhirnrinde, ein Stück weit aus dem Spiel genommen. Zum einen führt das dazu, dass Situationen weniger rational und mehr emotional bewertet werden und als kleinen Nebeneffekt leiden wir außerdem noch an Wortfindungsstörungen. Unser Sprachzentrum wird nämlich ebenfalls beeinträchtigt. Jeder kennt die Situation, dass einem erst einige Zeit nach einem Streit die wirklich guten Argumente einfallen und man sich ärgert, dass man nicht das und das so und so gesagt hat. Herzlichen Glückwunsch, ihr habt ein völlig normal funktionierendes Gehirn. Das Angsthirn wertet Streit als bedrohlich, es aktiviert diesen Kampf- oder Fluchtmechanismus und weil höheres Denken weder beim Weglaufen noch beim Zuschlagen gebraucht wird, ist die Großhirnrinde erstmal ein Stück weit raus aus dem Spiel!
Wenn ich also Menschen in Angst versetze, dann steht ihnen zwar viel körperliche Energie zur Verfügung, allerdings hören sie nicht mehr zu, können sich selbst schlechter ausdrücken, ihre Wahrnehmung ist stark eingeschränkt und weil sich die Großhirnrinde in einem “psychologischen Nebel” (so nannte es die großartige Vera Birkenbihl) befindet, ist auch grade nichts mit abstrakter Problemlösung und kreativen Ideen. Wenn ich als Manager das nächste Mal an den Punkt komme, zu glauben, dass es hilfreich wäre, ein wenig Angst zu verbreiten um Ziele durchzusetzen, Verträge neu zu verhandeln, oder um die Leute einfach nur zu Höchstleistungen anzuspornen, sollte ich auch darüber nachdenken, ob meinem Unternehmen oder meiner Abteilung mit unkreativen, kopflosen und stammelnden Leuten wirklich geholfen ist. Ich lehne mich hier mal weit aus dem Fenster und sage ganz klar: NEIN!
Und weil das hier mein Blog ist und ich quasi schreiben kann, was ich will, lehne ich mich noch ein bisschen weiter aus dem Fenster und stelle die gewagte These in den Raum, dass Menschen, die aus einer Machtposition heraus bewusst mit Angst arbeiten, sogar eine Körperverletzung begehen. Wie ich darauf komme? Diese von der Evolution vorgesehenen physiologischen Vorgänge sind darauf ausgelegt, immer nur für einen kurzen Zeitraum anzuhalten. Wenn ich erfolgreich geflohen bin oder den Säbelzahntiger erlegt habe, ist erstmal Erholung angesagt. Angst- und Drohmechanismen, die durch Existenzängste durch drohenden Jobverlust oder Gehaltseinbußen, durch permanenten Leistungsdruck und Versagensängste gefüttert werden, sorgen dafür, dass mein Körper in einem dauerhaften Alarmzustand bleibt. Im Klartext bedeutet dies, dass unser Blutdruck permanent leicht erhöht ist, unser Herz dauerhaft schneller schlägt und unser Blut rund um die Uhr dickflüssiger ist. Krankheiten, die damit einhergehen, sollten bekannt sein. Ferner wird in diesem Alarmzustand die Verdauung unterdrückt und wenn ich trotzdem Essen nachschiebe, weil ich eben Hunger habe, kann das zu Erkrankungen im Magen-Darmtrakt führen (Magengeschwüre, Reizdarm, etc.). Auch unsere Seele wird krank, wenn der Körper sich permanent im Alarmzustand befindet. Depressionen und Burnout sind ja inzwischen schon fast Volkskrankheiten.
Von Macht und Verantwortung
Dieses Thema lässt mich auch in Diskussionen gerne sehr leidenschaftlich werden, weil die Folgen doch enorm sind und Führungskräfte meiner Meinung nach nicht nur Macht, sondern auch ganz, ganz viel Verantwortung haben, sowohl für das Unternehmen, aber auch für die Menschen, die ihnen anvertraut sind. Besonders betroffen macht mich momentan, dass nicht nur in der Wirtschaft hier und da - meiner Meinung nach - bewusst mit Ängsten gearbeitet wird. Wenn die Berichte über die “geleakten” Dokumente in Österreich stimmen, dann arbeitet hier wohl auch eine Staatsführung bewusst mit Angst. Ich gehe davon aus, dass das, wenn es denn so geschehen ist, sicher mit den besten Zielen und Motiven gemacht wurde. Klar, wenn die Menschen so richtig viel Angst vor dem Virus haben, weil man die Folgen etwas überzogener darstellt, bleiben sie vielleicht bereitwilliger zuhause, sind kooperativer und besser zu kontrollieren. “Corriger la fortune” sagt der Franzose. Aber zu welchem Preis? Da braucht man sich auch nicht zu wundern, dass die Menschen hirnlos und von Angst getrieben, rational nicht nachvollziehbare Dinge tun und Klopapier kaufen, als würde es kein Morgen mehr geben!
In diesem Sinne liebe Leser: Ängste bitte nicht füttern!
Eure Constance