Angst ist eine Leistung - wirklich!
“Wer Angst hat, hat Zukunft.” G. Schmidt
“Was?”, dachte ich mir, als ich mich im Rahmen der Jahreskonferenz der Milton Erickson Gesellschaft für meinen ersten Workshop bei Gunther Schmidt angemeldet habe. Nun gut, er wird schon wissen, wie er seine Workshops tituliert. Aber Angst und Zukunft…?
Ich war also in Kassel und sollte mich unter der Überschrift “Out of Fear” drei Tage lang mit Ängsten beschäftigen. Ängste sind keineswegs Therapeuten vorbehalten. Auch im Business Coaching lauern sie überall. - Versagensängste, Existenzängste, Angst vor Digitalisierung, Angst nicht gut genug zu sein, Angst nicht mithalten zu können, zum alten Eisen zu gehören, Angst vor der Blamage, Angst vor der Veränderung, Angst vor Gesichtsverlust … Ich kenne sie alle, auch aus dem eigenen Erleben. Warum also nicht drei Tage lang dazulernen, um mich als Coach noch kompetenter mit diesem Thema auseinandersetzen zu können?!
Ich nehme vorweg, das Angebot war riesig. Ich habe mich für zwei Workshops bei Gunther Schmidt entschieden um mehr über hypnosystemische Ansätze in der Arbeit mit Ängsten zu lernen, ich war bei Ortwin Meiss, der sich mit Versagensängsten in Hochleistungssituationen auseinandergesetzt hat. Prof. Bernhard Pörksen hat die durch die moderne Medienlandschaft initiierte Angstspirale beschrieben. Von Tilman Rentel habe ich wertvolle Impulse zur idiolektischen Gesprächsführung für das Coaching bei Angstthematiken bekommen und von Charlotte Cordes und Florian Schwartz durfte ich einiges zur provokativen Szenenarbeit im Coaching lernen. Im Prinzip sollte ich zu jedem einzelnen Workshop einen Blog schreiben. Vielleicht werde ich das auch Schritt für Schritt tun. Allerdings möchte ich heute damit anfangen, davon zu berichten, wie ich am letzten Wochenende meine eigenen Perspektive auf Angst grundlegend verändert habe.
“Die Arme, sie leidet so unter ihren Ängsten!”
Ich gebe zu, so oder so ähnlich schallte es in meinem Kopf, wann immer ich mit den Ängsten anderer konfrontiert wurde. Und dann kam Gunther Schmidt, der erklärte, dass die große Stärke von Menschen mit Ängsten ihre Zukunftsorientierung sei. Angst habe ich für gewöhnlich nicht “nach” etwas, sondern “vor” etwas, also vor etwas, das im zeitlichen Kontext vor mir liegt. Angst blickt konsequent in die Zukunft. Klar spielen hier auch Erfahrungen aus der Vergangenheit eine Rolle, aber der Fokus liegt auf der Zukunft. Überhaupt ist Angst etwas ausgesprochen Kraftvolles und Aktives. So jedenfalls stellte es Gunther Schmidt dar. Wie alle Emotionen hält auch sie uns “in motion”, also in Bewegung, lässt uns aktiv werden.
Das alles klingt nicht besonders bemitleidenswert. Gunther Schmidt fuhr fort und berichtete, dass Angst im Prinzip eine Leistung des Organismus sei, um bestimmte Ziele zu erreichen. Angst darf als Wegweiser in die Sicherheit betrachtet werden, oder wie Gunther Schmidt es beschrieben hat: als Undercover-Verkleidung unserer Sehnsucht nach Sicherheit. Evolutionshistorisch betrachtet waren es Ängste, die wie Bodyguards auf uns aufgepasst haben, dafür gesorgt haben, dass wir in Bewegung geblieben sind, das Ziel der Sicherheit stets im Kopf und im Herzen. Angst als unwillkürliches Phänomen hat also das Überleben der Menschheit gesichert, wird aber in unserer modernen Gesellschaft zunehmend zum Thema.
Mein Haus, mein Auto, meine Ängste und ich
Was ist passiert, auf dem Weg von der Höhle in unsere coolen, neuen Smart-Homes? Die Menschheit hat begonnen das unwillkürliche Phänomen der Angst zu objektivieren und sich damit in ein Opferempfinden manövriert: “Meine Angst, sie ist schuld! ICH will so ja gar nicht reagieren, aber ES passiert einfach!” Mit mir geschieht etwas und ich fühle mich ausgeliefert und hilflos. Die objektivierte Angst übernimmt meinen Körper, meinen Geist, meine Seele. Besessen von den kleinen Dämonen meiner Angst erlebe ich vor allem Ohnmacht oder Handlungsunfähigkeit. Nun ist guter Rat teuer. Was tun, um meine Ängste loszuwerden? Vielleicht wäre es ja hilfreich, im ersten Schritt zu überlegen, ob es überhaupt klug ist, meine Ängste loszuwerden. Immerhin helfen sie mir dabei, zukunftsorientiert zu sein, sie passen auf mich auf und sorgen dafür, dass ich in Bewegung bleibe, in Bewegung Richtung Sicherheit. Will ich in diesen verrückten Zeiten wirklich auf meinen Bodyguard verzichten? Unter Umständen könnte es viel besser sein, meinen Bodyguard einfach wie alle anderen guten Angestellten sicher zu führen, anstatt in rauszuschmeißen.
Mein Bodyguard namens Angst
Wie in der tatsächlichen Mitarbeiterführung ist es auch im Rahmen der Führung meines inneren Teams immanent wichtig jeden einzelnen Mitarbeitenden bestmöglich zu kennen, um ihn als Ressource zielorientiert zum Einsatz zu bringen. Also lasst uns diesen Bodyguard namens Angst etwas besser kennenlernen.
Dieser Bodyguard wird genährt durch meine Aufmerksamkeitsfokussierung auf ein einziges mögliches Szenario in der Zukunft. Wir alle kennen unsere Zukunft nicht. Wir alle haben tausende oder gar millionen mögliche Zukünfte. Unser Bodyguard, die Angst, pickt sich aus all diesen möglichen Szenarien eines heraus, auf das er all unsere Aufmerksamkeit richtet. Wichtig ist es nun zu verstehen, dass unser Bodyguard nicht so vorgeht, um uns zu ärgern. Nein, unser Bodyguard macht das, um bestmöglich auf uns aufzupassen. Wer stets vom Schlimmsten ausgeht, ist jederzeit bestmöglich auf alle Gefahren vorbereitet. Im Verlauf der Evolution hat sich bei uns Menschen eine selektive Priorität für Gefahren entwickelt. Wir alle haben uns aus der Genetik der “Angstbereiten” entwickelt. Die Mutigen waren zu langsam und am Ende nicht in der Lage ihre mutigen Gene weiterzugeben.
So sind wir gut ausgestattet mit den Bodyguards unserer Ängste. Ich bin mir sehr sicher, dass nicht nur ich davon berichten kann, wie ich mich fühle, wenn mein Bodyguard zur Höchstform aufläuft. Vielleicht gibt es noch andere Menschen, die schon einmal versucht haben, diesen Bodyguard zu bekämpfen und vielleicht bin ich nicht die Einzige, die die Erfahrung gemacht hat, dass der sicherste Weg ein Problem zu verstärken ist, es zu bekämpfen. Druck erzeugt eben immer Gegendruck, auch in der Mitarbeiterführung im innen wie im außen.
Ich werde es zukünftig auf einem anderen Weg versuchen: Ich werde nicht mehr gegen meine Ängste ankämpfen, sondern versuchen meinen Fokus zu verändern. Eine bedrohliche Zukunft macht doch nur dann Angst wenn ich mich ohnmächtig fühle und davon überzeugt bin, dass diese bedrohliche Zukunft meine einzige mögliche Zukunft ist. Ja, das schlimmstmögliche Szenario kann durchaus eintreten, das bestmögliche aber auch. - Und viele andere, die irgendwo dazwischen anzusiedeln sind. Ich gönne mir den Gedanken, dass es gefährlich ist, mit 180 über die Autobahn zu düsen. Lässt mich dieser Gedanke von Todesangst gelähmt zurück? -Oder in Schrittgeschwindigkeit auf dem Standstreifen? Nein, denn es gibt auch viele Szenarien, in denen ich lebend an mein Ziel komme. Mein Bodyguard ist bei mir und passt auf, dass ich nicht zu leichtsinnig oder unachtsam werde, aber er übernimmt nicht mein gesamtes Denken und Handeln. Ich fühle mich nicht fremdbestimmt, sondern selbstbestimmt.
Ängste im Business Coaching und der Beratung
Was nehme ich für meine Rolle als Coach und Berater mit nachhause? Zum einen natürlich die Idee, dass Ängste nicht etwas Schwaches oder gar Bemitleidenswertes sind, sondern eine großartige Leistung unseres Organismus. Außerdem zeugen sie davon, dass ich ausgesprochen zukunftsorientierte Menschen vor mir habe, wenn mir diese von ihren Ängsten oder Sorgen berichten. Ich werde (noch) wertschätzender mit der großen Kompetenz der Angst umgehen.
Zum anderen denke ich natürlich auch über meine Arbeit mit ganzen Organisationen oder Organisationseinheiten nach. Mein Kernthema heißt Psychological Safety und tagein tagaus mache ich mir Gedanken darüber, wie Organisationen Rahmenbedingungen schaffen können, die die Voraussetzungen für eine Kultur der subjektiv empfundenen psychologischen Sicherheit bestmöglich unterstützen. Hierzu habe ich über die Jahre hinweg ein recht gutes Repertoire entwickelt, das ich nach dem Workshop mit Gunther Schmidt besonders in Organisationen, die sich in einem Veränderungsprozess befinden, oder einen solchen planen, um einen Punkt erweitern möchte: Ich werde besonders die Führungskräfte dazu ermuntern, nicht nur eine Zukunftsvision zu entwickeln, sondern mehrere, damit den vielen Bodyguards der Mitarbeitenden möglichst von Anfang an klar ist, dass es nicht nur ein oder zwei Szenarien gibt. Für gewöhnlich sind das ja immer die schöne neue Welt in den Köpfen der Chefs und die überfordernde Horrorvision der Zukunft in den Köpfen der besorgten, skeptischen, ängstlichen Mitarbeitenden. Ich kann mir vorstellen, dass es hilfreich ist, unterschiedliche Szenarien zu zeichnen um den Fokus von Anfang an breiter zu halten.
In diesem Sinne entlasse ich euch in einen wunderschönen Sonntag. Vielen Dank für das Interesse an meinem Blog. Ich melde mich nach Ostern mit ein paar News zu meiner ganz persönlichen Rollenfindung. Seid gespannt, denn bei mir hat sich ein bisschen was getan! -Aber keine Angst, alles recht positiv!
Eure Constance