Das Beurteilungsgespräch, die merkwürdigste Situation des Jahres
Große Freude! Es ist wieder Beurteilungsgespräch!
Wer von euch freut sich nicht auf sein jährliches Beurteilungsgespräch, weil er danach inspiriert und gestärkt den Raum verlässt und sich voller Energie auf zu neuen Ufern macht? Und wer unter den Führungskräften würde nicht sagen, dass die vier bis sechs Wochen im Jahr, in deren Verlauf die Mitarbeitergespräche geführt werden, eine Bereicherung für das Teamgefüge darstellen? Wer hat keinen Spaß daran, sich “SMARTe” Ziel auszudenken und die wunderbaren Beurteilungsbögen der Personalabteilungen auszufüllen? Ich spüre euer müdes Lächeln…
Warum ist das so? Warum macht uns diese jährliche Leistungsbeurteilung so nervös? Mitarbeiter wie Führungskraft? Sicher auch, weil indirekt so viel von eben dieser Beurteilung abhängt: Beförderung, Gehaltserhöhung, Boni, Projekte, etc. Selbst Manager, denen das Thema Personalentwicklung sehr am Herzen liegt und die in der Beurteilung ihrer Mitarbeiter geschult sind, sind sich dessen bewusst und so wird die Gesprächsatmosphäre immer auch von Unsicherheit und Angst begleitet, auf beiden Seiten. Um sich selbst Sicherheit zu geben, klammert der Chef sich gerne an diesen wundervollen Bogen, den die Personalabteilung ihm zu Verfügung gestellt hat und der Mitarbeiter versucht sich von seiner besten Seite zu zeigen. Keiner will etwas falsch machen. Dabei weiß der Mitarbeiter oft nicht wirklich was auf ihn zukommt, da die meisten Mitarbeiter im Laufe des Jahres seitens ihres Chefs kein regelmäßiges und ausführliches Feedback erhalten. Die Nervosität steigt ins Unermessliche, beide Seiten achten tunlichst genau auf das, was sie sagen und das Gespräch, welches so entsteht, ist alles, nur nicht spontan, offen und inspirierend. Am Ende sind beide Seiten froh, “es” hinter sich zu haben und ab jetzt wieder zwölf Monate Ruhe davor zu haben.
Das Potenzial von Beurteilungsgesprächen
Schade eigentlich, wenn man sich überlegt welches Potenzial diese Gespräche haben. Was würde denn passieren, wenn wir diese Gespräche nicht mehr aus Verpflichtung heraus führen würden, sondern als Ausdruck der Verbundenheit, aus aufrichtiger Wertschätzung und ehrlichem Interesse? Was würde passieren, wenn es in diesen Gesprächen nicht mehr darum ginge, festzulegen zu wie viel Prozent die Vorjahresziele erreicht wurden, sondern um Fragen wie: Was möchte ich wirklich gerne tun? Was macht mir Spaß? Was sind meine ganz besonderen Talente? Wo bringe ich diese schon ein? Was hält mich davon ab, meine Talente komplett in meine Arbeit einzubringen? Was brauche ich um eben das zu tun? Was macht mich einzigartig? In einer von Angst und Unsicherheit geprägten Gesprächsatmosphäre wird ein spontaner und ehrlicher Austausch über diese Themen unmöglich. Aber liebe Chefs und Manager, erst wenn ihr diese Punkte für jeden eurer Mitarbeiter abgeklärt habt, könnt ihr eure Mitarbeiter ihren Fähigkeiten und Talente entsprechend fördern und einsetzen. Erst dann kommt es zur High Performance eines jeden Einzelnen.
Die etwas andere Form von Beurteilung
Wie schaffen wir es also, das jährliche Gespräch zwischen Manager und Mitarbeiter für echten Austausch und wirkliche Weiterentwicklung zu nutzen? Wir müssen es irgendwie schaffen, diese Leistungsbeurteilungen anders aufzubauen, so, dass sie keinen Druck und keine Angst mehr erzeugt.
Der Wahnsinn der Bonuszahlungen
Im ersten Schritt sollte man die an persönliche Jahresziele gebundene Zahlung von Boni oder Provisionen überdenken. Diese machen aus vielerlei Gründen keinen Sinn. Dass durch sie einer der größten Angstfaktoren im jährlichen Mitarbeitergespräch weg fällt, ist nur ein positiver Nebeneffekt. In erste Linie sollte sich jedes Unternehmen mal darüber Gedanken machen, was passiert, wenn ich meinen Mitarbeitern die Karotte buchstäblich vor die Nase halte. Klar wird dann vielleicht etwas schneller gerannt, aber leider auch mit recht großen Scheuklappen. Beispiel: Der Head of Facility Management bekommt das Jahresziel, Mietkosten zu senken, gerne auch durch einen Umzug. Also macht sich der Manager auf die Suche nach einer neuen Liegenschaft und wird fündig. Vergleichbares Gebäude, soundsoviel Prozent weniger Miete. OK, es ist ein Staffelmietvertrag und in vier Jahren sind die Mietkosten dann deutlich höher als sie es heute sind. Ist aber egal, denn den diesjährigen fetten Bonus hat unser Manager sicher. Der entsprechende Vorstand unterschreibt alles, weil auch er in diesem Jahr Kosten senken muss. Also egal was irgendwann mal sein wird, für den Moment ist alles super. Verständlich irgendwie. Warum sollte einem das Hemd auch nicht näher sein als die Hose? Was passiert, wenn man einem Esel eine Karotte vor die Nase hängt, ist dass sein Horizont eben just bei dieser Karotte aufhört. Langfristig gesehen ein totaler Supergau!
Selbstreflexion statt Beurteilungsbögen
Stellen wir uns vor, wir haben diese Provisionierung der individuellen Jahresziele also abgeschafft und es gibt so etwas wie eine allgemeine Gewinnbeteiligung. Damit haben wir einen Teil des Drucks für beide Seiten raus genommen. Beurteilt werden sollte aber trotzdem. Deshalb könnte es im zweiten Schritt eine großartige Idee sein, den jährlichen Beurteilungsprozess zunächst als Möglichkeit zur Selbstreflexion zu nehmen. Jeder Mitarbeiter bekommt eine Liste von Fragen anhand derer er seine eigene Leistung und Zielerreichung reflektiert. Ich selbst bin immer mal wieder in der Position, die Leistung anderer zu beurteilen und ich bin tatsächlich weitestgehend dazu übergegangen, mir zunächst einmal anzuhören, wie die jeweiligen Kollegen sich selbst beurteilen würden. In etwa 99 Prozent aller Fälle sind diese Kollegen deutlich kritischer mit sich selbst, als ich es jemals wäre. Ähnlich erlebe ich es auch im Rahmen meiner Workshops, wenn ich die Gruppe bitte, sich selbst hinsichtlich einer Übung oder Aufgabe zu reflektieren.
Das Team als Spiegel
Um dem Selbstbild aber auf jedem Fall noch ein Fremdbild hinzuzufügen, damit die Sache rund wird, brauchen wir im nächsten Schritt ein Feedback. Hier stellt sich die generelle Frage, wer denn besser geeignet ist, meine Leistung zu beurteilen: Meine Kollegen, die mich täglich mehrere Stunden erleben und auch ganz genau mitbekommen, welchen Anteil der Teamleistung mir zuzuordnen ist, oder mein Chef, der mich vielleicht nur wenige Minuten pro Tag erlebt, wenn überhaupt? Eine Antwort erübrigt sich. In einem Teammeeting in wohlwollender und entspannter Atmosphäre stellt ein Kollege zunächst kurz seine Selbstreflexion vor. Danach haben alle Kollegen einen Moment Zeit, sich über das Gehörte in aller Stille Gedanken zu machen. Im Anschluss daran beantwortet jeder zwei Fragen: Was schätze ich besonders an der Zusammenarbeit mit dir? Und was ist der Bereich, in dem du dich noch weiterentwickeln könntest? Ein Protokollant schreibt alles an der Flipchart mit und überreicht abschließen dem Kollegen, der in diesem Meeting im Fokus steht, das Papier.
Die Führungskraft als Coach
Kommen wir zum letzten Schritt des Beurteilungs- oder Entwicklungsprozesses: Mit seinem Flipchart-Bogen geht unser Mitarbeiter nun zum Chef. In einem Vieraugengespräch besprechen die beiden jetzt die Ergebnisse des Teammeetings und gemeinsam mit dem Chef erörtert unser Mitarbeiter was er aus diesem Prozess mitnimmt, was er gelernt hat und wie und in welche Richtung er sich zukünftig weiterentwickeln möchte. Auf diese Art und Weise wird die jährliche Beurteilung zu einem ermutigendem Prozess der Selbstreflexion und Weiterentwicklung.
Wer jetzt sagt, das ist alles Hokus-Pokus und Traumtänzerei, jenseits von Wirtschaftlichkeit und Realität, dem sei gesagt, dass es einige sehr erfolgreiche Unternehmen gibt, die einen solchen oder ähnlichen Prozess bereits implementiert haben. Hierbei handelt es sich um Unternehmen, die nicht nur verstanden haben, dass der Mensch der Schlüsseln zu Erfolg ist, sondern darüber hinaus auch verstanden und verinnerlicht haben, was der Mensch braucht um sein volles Potenzial abzurufen: Respekt, Vertrauen, Sicherheit und Spaß!
Lasst uns aufhören mit diesem Karotten-Blödsinn in Kombination mit Druck und Angst. Lasst uns aufhören mit diesen Beurteilungsgesprächen um deren selbst Willen. Lasst uns doch mal wieder auf den ursprünglichen Sinn und Zweck dieser Gespräche rück besinnen. Es ging irgendwann mal um Weiterentwicklung und um mich weiter zu entwickeln brauche ich weder Druck, noch Angst, noch eine blöde Karotte. Ich brauche Unterstützung und jemanden, der mich als Person wahrnimmt, mit meinen Stärken und Schwächen. Wie sieht es bei euch aus? Was braucht ihr?
Eure Constance